Barbara Weinmann: Eine andere Bürgergesellschaft. Klassischer Republikanismus und Kommunalismus im Kanton Zürich im späten 18. und 19. Jahrhundert (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 153), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 392 S., ISBN 978-3-525-35169-7, EUR 44,00
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Die Schweiz ist anders: Aufbauend auf alten freiheitlichen Traditionen, gelang hier im 19. Jahrhundert die Etablierung einer liberal-demokratischen Ordnung, die von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wurde und sich durch außergewöhnliche Stabilität auszeichnete. Von diesem Bild des positiven Sonderfalls Schweiz geht auch die Berliner Dissertation von Barbara Weinmann aus. Am Beispiel des Kantons Zürich fragt sie, wie der Weg in diese 'andere Bürgergesellschaft' vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die 1860er Jahre beschritten wurde.
Weinmann knüpft konzeptionell einerseits an die vom angloamerikanischen Raum ausgehende Diskussion um die 'civil society' an, die neben dem liberal-individualistischen Traditionsstrang der modernen bürgerlichen Gesellschaft deren andere Wurzel wieder freigelegt hat, nämlich den nach dem tugendhaften Bürger verlangenden klassischen Republikanismus. Andererseits bezieht sie sich auf das von Peter Blickle geprägte Konzept des Kommunalismus, das die alteuropäischen Traditionen der gemeindlich-genossenschaftlichen Selbstorganisation und des Autonomiestrebens gegenüber obrigkeitlichen Herrschaftsansprüchen bezeichnet. Weinmann verfolgt, wie sich die kommunalistische Tradition der Zürcher Landschaft mit dem seit der Aufklärung revitalisierten und vernunftrechtlich aufgeladenen Republikanismus des Stadtbürgertums zu einer 'dynamisierungsfähigen' politischen Vorstellungswelt verband. Die erfolgreiche Synthese von althergebrachten Werthaltungen und modernen Anforderungen habe die konsensfähige Grundlage der 'anderen Bürgergesellschaft' gebildet.
Das Buch ist in vier Hauptkapitel gegliedert. In einem ersten Teil werden die institutionellen Grundlagen des bürgergesellschaftlichen Bewusstseins im ausgehenden Ancien Régime vorgestellt. Die Stadt Zürich wurde als souveräne Republik auf der Basis einer Zunftverfassung regiert, die zwar zunehmend oligarchische Tendenzen zeigte, aber dennoch allen Stadtbürgern gewisse Partizipationsrechte gewährte. Die Bewohner der Landgemeinden waren vom städtischen Regiment ausgeschlossen, hatten sich angesichts einer schwachen Obrigkeit aber weitgehende Rechte zur genossenschaftlichen Selbstverwaltung sichern können. Das Widerstandspotenzial von Stadt- und Gemeindebürgern gegen Eingriffe in diese angestammten Autonomie- und Teilhaberechte wurde wirksam verstärkt durch den Gründungsmythos der Eidgenossenschaft, der auch die städtische Führungsschicht auf das Leitbild der alten, gottgewollten Schweizer Freiheit verpflichtete.
Im zweiten Kapitel schildert die Autorin eine erste Dynamisierung dieser republikanisch-kommunalistischen Traditionen im Zeichen der Aufklärung. Nach einer knappen Skizzierung des Reformdiskurses der Zürcher Sozietäten und der Zunftproteste von 1777 wendet sie sich dem Übergreifen der Unruhe auf die Landschaft zu: In den Jahren 1794/95 entstand in den prosperierenden Zürichsee-Gemeinden eine breite Protestbewegung, die sich in erster Linie in herkömmlicher Weise gegen die Missachtung verbriefter Gemeinderechte richtete. Ihre Argumentation ließ darüber hinaus aber auch eine Rezeption des republikanischen Tugenddiskurses sowie naturrechtlich begründeter Freiheits- und Gleichheitsvorstellungen erkennen. Die ländlichen Untertanen begannen, ihre Gleichstellung mit den Stadtbürgern zu fordern, ein Ziel, das sie allerdings nicht als neu, sondern als die Wiederherstellung eines in die Vergangenheit zurückprojektierten Urzustandes darstellten.
Das dritte Kapitel führt direkt ins Jahr 1830. Die Zeit der Helvetischen Republik und der Mediationsakte (1798-1813) überspringt Weinmann, weil sie französische Einflüsse nicht als zentral für die weitere Dynamisierung der politischen Denktraditionen erachtet. Unter ausdrücklichem Bezug auf die Ereignisse von 1794/95 formierte sich im Herbst 1830 erneut eine - diesmal erfolgreiche - Volksbewegung auf der Zürcher Landschaft. Hauptforderung war die Beseitigung verbliebener Diskriminierungen der Landbewohner, vor allem ihre angemessene Vertretung im Großen Rat. Daneben wurden zahlreiche weitere Wünsche artikuliert, die Weinmann daraufhin analysiert, inwieweit liberal-individualistische Haltungen in die altrepublikanisch-genossenschaftliche Vorstellungswelt eingedrungen waren. Sie zeigt, dass liberale Postulate wie das private Eigentumsrecht oder die Handels- und Gewerbefreiheit auf Akzeptanz stießen, weil sie sich in die Deutungsmuster des alten ländlichen Freiheitskampfes gegen städtische Privilegien und obrigkeitliche Unterdrückung einfügen ließen. In der Frage des Gemeindebürgerrechts dominierte hingegen noch die herkömmliche, korporativ-lokalistische Perspektive.
Das 1831 etablierte liberale Repräsentativsystem erwies sich als instabil: Die neue Regierungselite provozierte mit ihrem allzu forschen Modernisierungskurs nun ihrerseits Proteste. Im letzten Kapitel behandelt Weinmann den wieder primär von der Landbevölkerung getragenen Züri-Putsch von 1839 und die demokratische Bewegung der 1860er Jahre. Die Autorin betont, dass diese Protestbewegungen gegen die liberale Regierung nicht als rückwärts gewandt, sondern als innovative Versuche zu interpretieren seien, das alte genossenschaftlich-republikanische Ordnungsmodell von der Gemeinde auf den Staat zu übertragen. Dies geschah mittels der Forderung nach direktdemokratischen Referendums- und Initiativrechten, die 1869 im Kanton Zürich und wenig später auch auf Bundesebene verfassungsrechtlich verankert wurden. In dieser Übertragung der direkten Partizipationsrechte auf die staatliche Ebene erkennt die Verfasserin den dritten und entscheidenden Dynamisierungsschritt des gemeindlich-genossenschaftlichen Modells, der es zukunftsfähig machte: Der Antagonismus zwischen Staat und lokaler Bürgergesellschaft wurde überwunden, das stabile Fundament für eine an Konsens und Gemeinnutz orientierte und doch zugleich moderne Staatsbürgergesellschaft gelegt.
Weinmanns Grundthese, dass der Erfolg des Modells Schweiz auf der gelungenen Synthese alter Freiheitsvorstellungen und neuer liberalen Prinzipien basierte, und dass somit gerade der legitimationsstiftende Rekurs auf die Vergangenheit den Übergang in die Moderne erleichterte, ist für die Schweizer Historiografie nicht neu. Weinmann plädiert denn auch weniger für einen alternativen Blick auf die eidgenössische Geschichte. Vielmehr setzt sie das Schweizer Beispiel neueren Studien zu Deutschland entgegen, die der altständischen Autonomietradition eine Anschlussfähigkeit an die Moderne generell absprechen. Im Schlusskapitel greift Weinmann die Auseinandersetzung mit der deutschen Forschung wieder auf, indem sie einen vergleichenden Ausblick nach Baden wagt: Warum scheiterte der badische Gemeindeliberalismus, dessen zeitweilige Massenbasis ebenfalls auf dem Appell an kommunalistische und klassisch-republikanische Einstellungen beruhte? In Übernahme der - nicht unumstrittenen - These Paul Noltes postuliert Weinmann, dass der badische Gemeindeliberalismus im Gegensatz zum Zürcher Fall die überkommenen antiindividualistischen und antistaatlichen Affekte nicht überwand. Er sei deshalb tatsächlich nicht zukunftsfähig und schon vor der gewaltsamen Niederschlagung der badischen Revolution 1849 zum Scheitern verurteilt gewesen.
Auch wenn man diese abschließende vergleichende Erklärung als zu kurz gegriffen kritisieren mag, so ist Barbara Weinmann doch eine sehr anregende und gut lesbare Studie gelungen, die einen wichtigen Beitrag zur Debatte über die Traditionslinien zwischen altständischer und moderner Bürgergesellschaft in Europa leistet. Etwas zu bedauern bleibt einzig, dass geschlechtergeschichtliche Fragestellungen völlig ausgeblendet und die eingehend analysierten politischen Vorstellungen in ihren sozial- und alltagsgeschichtlichen Kontext nur lose eingebettet werden. Weinmanns Ansatz ist ein ideen- und mentalitätsgeschichtlicher, ihre Quellen sind Denkschriften, Pamphlete, Petitionen. Eine solche Schwerpunktsetzung ist natürlich legitim. Aber dennoch wüsste man gerne mehr über die Trägergruppen der politischen Bewegungen und über die lebensweltlichen Veränderungen, welche die Dynamisierung der Denkmuster vorantrieben.
Beate Althammer