Silke Möller: Zwischen Wissenschaft und "Burschenherrlichkeit". Studentische Sozialisation im Deutschen Kaiserreich, 1871-1914 (= Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 4), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001, 269 S., ISBN 978-3-515-07842-9, EUR 45,00
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Von den vielen Studien über Universitäten und Studenten im Deutschen Kaiserreich unterscheidet sich das Buch von Silke Möller dadurch, dass es sich auf die subjektive Perspektive konzentriert: Anhand von 155 Autobiografien versucht es zu rekonstruieren, wie Studenten ihr Studium erlebten und welche Wirkungen sie diesem auf ihr Leben zuschrieben. Möller strebt ein sozial repräsentatives Sample an, aber es besteht ein gewisses Übergewicht an Erfolgreichen und sozial Hochgestellten, an Professoren und Schriftstellern, da diese eher Autobiografien verfassten.
Autobiografien sind im Rückblick geschrieben. Sie sind auch von der Zeit der Niederschrift geprägt und tendieren zudem dazu, ein kohärent-sinnvolles und gelungenes Leben aufzuzeigen. Möller ist sich dieses Umstands bewusst, wie sie überhaupt methodisch sorgfältig und reflektiert vorgeht, aber da sie keine anderen Quellen heranzieht, bleibt dieser Tatbestand bei der Lektüre zu beachten.
Inhaltlich unterscheidet Möller drei Bereiche. Zunächst analysiert sie die Einstellung der Autobiografen zur Universität, wobei sie zwischen verschiedenen Fachrichtungen unterscheidet. Insgesamt zeigt sich, dass der Universitätszeit eine hohe Bedeutung für die Entwicklung von fachlicher Kompetenz und Persönlichkeit zugeschrieben wurde. Die Autobiografen waren davon überzeugt, das wissenschaftliche Arbeiten gelernt zu haben (allerdings nur mit Einschränkungen bei der praktischeren Ausbildung von Medizinern und Juristen), glaubten aber auch im Sinne des Humboldtschen Bildungsideals in der vergleichsweise großen Freiheit des Universitätssystems ihre gesamte Persönlichkeit entwickelt zu haben. Die Darstellungen sind weithin geprägt vom Stolz, sich frei von der Familie zurechtgefunden, guten Kontakt zu bekannten Professoren gepflegt und mit dem Examen ein großes Ziel erreicht zu haben.
Im zweiten Bereich betrachtet Möller studentische Verbindungen, die sie überzeugend als Männerbünde analysiert. Sie betont die Initiationsriten bei der Aufnahme, die strenge Reglementierung des Lebens bis in die Privatsphäre hinein, die strenge Abgrenzung gegenüber der Außenwelt und das Gefühl von strukturierter Kameradschaftlichkeit in der Gruppe. All dies konnte ein Gefühl der Geborgenheit in einem klar vorgegebenen Rahmen und der Überlegenheit gegenüber der Außenwelt vermitteln, aber der Preis war hoch. Die Gemeinschaft dominierte über jede Individualität, zumindest in den ersten Jahren trat das universitäre Studium ganz in den Hintergrund. Die Kontakte zu Studenten außerhalb der Verbindung waren eng begrenzt, es blieb kaum Zeit für Reisen oder kulturelle Aktivitäten. Insgesamt dominierte ein Verständnis von Männlichkeit, das sich ganz der Gruppe unterordnete und eigene Empfindungen unterdrückte. Das Bild des frohen Studentenlebens mutierte zu streng ritualisiertem Trinkzwang, das Konzept der Ehre zum Standhalten in der Mensur, das Einfügen in eine Gemeinschaft zur Flucht in die Sicherheit autoritärer Strukturen. Möller hat sicherlich recht, den Einfluss solcher Vorstellungen auch über die studentischen Verbindungen hinaus zu betonen, aber hier überrascht es doch, dass Gegenbewegungen, etwa die lebensreformerische Ablehnung von Alkohol, in den Autobiografien kaum eine Rolle zu spielen scheinen. Einige lehnten die studentischen Verbindungen explizit ab, aber eine bewusst andere Lebensgestaltung kommt in diesem Buch nicht zur Sprache.
Der dritte Bereich, "die außeruniversitäre Umwelt", hat keine so klare Ausrichtung wie das Vorhergehende. Er behandelt das Zurücktreten des elterlichen Einflusses im Vergleich zu Freunden (wobei gerade der Vater als Geldgeber und Berater noch immer eine machtvolle Position innehatte), das Verhältnis zu Frauen (von ehrenhaften Bürgertöchtern und den ersten Kommilitoninnen bis hin zu Dienstmädchen und Prostituierten), die Wohnverhältnisse, sportliche Aktivitäten, Reisen (oft mit Eltern) und das jugendbewegte Wandern sowie schließlich die Wichtigkeit, sich als gebildet und kulturbeflissen zu zeigen. Auch die Einstellung zu Militär und Politik findet hier ihren Platz, wobei unter den Schreibern eine konservative Orientierung ohne direktes politisches Engagement domininierte: Man ging nicht gern zum Militär, sah es aber im Rückblick im positiven Licht für die Entwicklung der Persönlichkeit. Man war national gesinnt, aber nicht Mitglied einer Partei, man ging eventuell zu politischen Reden und Veranstaltungen, sah dies aber eher als eine geistige Orientierung. Einige wenige Autobiografen polemisieren gegen Liberale, Sozialisten, Katholiken und Juden, aber insgesamt findet die Politisierung der Studenten, etwa durch die damalige Gründung des Vereins Deutscher Studenten, in dem Sample kaum einen Niederschlag. Zudem scheint die politische Einstellung, wie Möller bemerkt, sehr stark durch den Zeitpunkt der Niederschrift beeinflusst zu sein: In politisch so wechselhaften Zeiten ist die Autobiografie offensichtlich keine gute Quelle zur Rekonstruktion früherer politischer Einstellungen.
Das Buch, dem sein Ursprung als Doktorarbeit anzumerken ist, ist durchgängig methodisch reflektiert, solide und zuverlässig. Die Einleitung rechtfertigt das Thema und diskutiert den Forschungsstand zu Universitätsgeschichte, Sozialisationsforschung und Autobiografien, das Sample und sein Grad an Repräsentativität werden ausführlich beleuchtet, in allen Kapiteln wird der Leser kompetent in das Thema eingeführt. Die Untersuchung der Autobiografien ergibt wenig überraschende Ergebnisse, wenn es nicht verwundert, wie stark sich die Autoren in ihrer Selbstdeutungen an den herrschenden Vorstellungen der damaligen Zeit orientieren. Die überwiegende Mehrheit der Autobiografen dachte und lebte, so könnte man vielleicht bilanzieren, in Harmonie mit den offiziösen Denkmustern. Soziale Aufsteiger aus dem Kleinbürgertum waren scheinbar bemüht, sich möglichst schnell und unauffällig dem neu erworbenen sozialen Status anzupassen, und bürgerliche Mentalitäten blieben wohl, abgesehen vom Wandel im politischen Denken, überraschend stabil. Zumindest zeigt das von Möller präsentierte Bild weder größere Konflikte der Studenten mit ihrer Zeit noch eine rückblickende Gebrochenheit gegenüber damaligen Vorstellungen, sei es in Bezug auf Bildung und Frauen, Männlichkeitsideale und Gemeinschaftskult, scheinbare Politikferne oder gesellschaftsferne Wissenschaftlichkeit. Da die Autobiografien bis zu 50 Jahre nach dem Ende des Kaiserreichs veröffentlicht wurden, verweist dies auf eine Stabilität von kulturellen Vorstellungen zumindest in der älteren Generation über das Dritte Reich hinweg bis in die frühen 1960er Jahre.
Thomas Rohkrämer