Thomas Michael Schneider: Heeresergänzung und Sozialordnung. Dienstpflichtige, Einsteher und Freiwillige in Württemberg zur Zeit des Deutschen Bundes (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Vol. 917), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2002, 400 S., ISBN 978-3-631-38459-6, EUR 60,30
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Nach wie vor basiert der Forschungsstand zur Militärgeschichte des Deutschen Bundes in erster Linie auf der spezifischen Entwicklung Preußens. Für die Mittelstaaten besteht hingegen noch erheblicher Forschungsbedarf, obwohl sich die Quellenlage hier im Gegensatz zu Preußen insgesamt als recht günstig darstellt. Der Münsteraner Historiker Thomas Michael Schneider greift in seiner als Strukturanalyse konzipierten Dissertation erstmalig den Bereich der Heeresergänzung im Königreich Württemberg als zentrale Schnittstelle zwischen militärischer und ziviler Sphäre für ein mittelstaatliches Heer auf. Seine Ergebnisse sind um so mehr von Interesse, als ein Konskriptionssystem wie das württembergische auch in den übrigen Mittelstaaten des Deutschen Bundes angewendet wurde. Es basierte auf der Losziehung und war dazu durch vielfache Exemtionen, das heißt Befreiungen auf Grund von Beruf oder gesundheitlichen und familiären Verhältnissen sowie der Möglichkeit der Stellvertretung durch Bezahlung eines Einstehers, charakterisiert. Außerdem waren die tendenziell militärfeindliche Haltung des Bürgertums und das geringe Sozialprestige des Militärdienstes für viele der mittleren Staaten des Deutschen Bundes typisch.
Schneider untersucht das Heeresergänzungssystem Württembergs über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren, der - abgesehen von den unruhigen Jahren 1848/49 - von kriegerischen Konflikten verschont blieb, schwerpunktmäßig mit Blick auf die Rekrutierten selbst. Dabei rückt er nicht nur die ausgehobenen Rekruten, die jeweils nicht einmal ein Viertel des Potenzials ihrer Altersklasse ausmachten, sondern alle Militärpflichtigen ins Zentrum seines Interesses. Den Spezialfall der Rekrutierung des Offizierkorps hingegen klammert er aus, da dieser, wie er zu Recht schreibt, ein eigenständiges Untersuchungsfeld darstellt.
Die Hauptquelle seiner Analyse stellen die für die Jahre von 1820 bis 1866 lückenlos erhaltenen Kontingentslisten dar, die im Hauptstaatsarchiv Stuttgart verwahrt sind. In ihnen sind nicht nur die tatsächlich eingereihten Rekruten, sondern auch die Einsteller, die sich durch einen Ersatzmann vertreten ließen, sowie alle gesetzlich vom Militärdienst befreiten Personen vermerkt. Im Untersuchungszeitraum wurden 180.000 Militärpflichtige in Württemberg ausgehoben, weshalb Schneider entschied, sich auf die vier Oberamtsbezirke Calw, Cannstadt, Heilbronn und Riedlingen zu beschränken, die über das Königreich verteilt lagen und aus denen insgesamt immerhin fast 11.000 Militärpflichtige stammten. Seine Auswahl erscheint daher in hohem Maße repräsentativ, zumal er damit sowohl die Trennung in alt- und neuwürttembergische Gebiete und die Verteilung der Konfessionen berücksichtigt, als auch die Unterscheidung von Wachstums- und Stagnationsbezirken in Bezug auf den demographischen, ökonomischen und sozialen Wandel beachtet.
Die Studie gliedert er in vier Kapitel. Zuerst liefert er einen skizzenhaften Überblick über die staatliche und sozioökonomische Entwicklung des Königreichs Württemberg zur Zeit des Deutschen Bundes, bevor er die wesentlichen Charakteristika des Rekrutierungssystems, wie etwa Wehrordnung und -organisation, Beurlaubung, Versorgung und Einsteherwesen herausarbeitet. Daraufhin erfolgt schließlich die Sozialanalyse, die den größten Raum in seiner Studie einnimmt. Hierzu stellt er nach einer ausführlichen Charakterisierung der untersuchten Oberämter in einem ersten Schritt Größe und Umfang der im Verlauf des Aushebungsprozesses generierten Gruppen sowie ihre zahlenmäßigen Verhältnisse untereinander über den gesamten Untersuchungszeitraum dar. Er unterscheidet zwischen der Anzahl der Militärpflichtigen insgesamt, der Stärke der Kontingente sowie dem jeweiligen Anteil der Eximierten, Einsteller, Einsteher, Freiwilligen und Abwesenden. Anschließend analysiert er die einzelnen Gruppen im Hinblick auf ihre Berufsstruktur, ihre Familienverhältnisse (Anzahl der Verheirateten, unehelich Geborenen, Vaterberufe) und ihre Mobilität (Verteilung der räumlichen Mobilität, Verhältnis Stadt-Land, Abwesende, Auswanderer), sodann die Abgänge (Anzahl der vorzeitig Abgegangenen, Mehrfacheinsteher, Selbstmorde) und die sich zeigenden regionalen Besonderheiten.
Das Vorgehen Schneiders, die Oberämter jeweils einzeln zu untersuchen, wird durch seine Ergebnisse gerechtfertigt: Die Verhältnisse unterschieden sich hinsichtlich der Untauglichen- und Abwesendenquoten, der Differenzierung der Berufs- und Erwerbsstrukturen der Rekrutierten und ihrer Mobilität deutlich. Klar zeigt sich, dass dabei im Wesentlichen die unterschiedlichen sozioökonomischen Strukturen zum Tragen kamen, während zwischen alt- und neuwürttembergischen Gebieten keine Unterschiede deutlich werden und auch die konfessionelle Verteilung keine Spezifika zu Tage fördert. Schneider kann im Gegensatz zur bisherigen Forschungsmeinung plausibel darlegen, dass das System der Heeresergänzung der Militärverwaltung keine Einflussmöglichkeiten auf die Zusammensetzung der Streitkräfte ließ.
Im abschließenden Kapitel geht der Autor in einer Längsschnittuntersuchung der Frage einer Korrelation zwischen sozioökonomischer und demographischer Entwicklung und den durch die Ergebnisse der Heeresergänzung sichtbar werdenden gesellschaftlichen Veränderungen nach. So schlugen sich etwa die Agrarkrise der 1820er Jahre, die Einführung der eingeschränkten Gewerbefreiheit 1862 oder die Judengesetzgebung in den Rekrutierungsergebnissen nieder. Auch spiegeln die Ergebnisse demographische Einschnitte und Prozesse mit einer Verzögerung von etwa 21 Jahren wider, so die Verluste im Russlandfeldzug 1812 oder das Hungerjahr 1816/17.
Das wichtigste Ergebnis Schneiders ist die Widerlegung der einer empirischen Grundlage entbehrenden These der älteren Forschung, das Heer hätte sich auf Grund der Existenz von Exemtionen und Stellvertretung aus den untersten sozialen Schichten der Bevölkerung, den "Armen und Ungebildeten", zusammengesetzt. Schneiders Analysen der Angaben des württembergischen Kriegsministeriums fördern einen überraschend hohen Alphabetisierungsgrad unter den Ausgehobenen zu Tage. Durch die Auswertung der Berufsstruktur kann er zeigen, dass sich die Ausgehobenen fast ausschließlich aus einer breiten, kleinbürgerlich geprägten unteren Mittelschicht rekrutierten. Er begründet dies mit dem Rekrutierungssystem selbst, das neben der Losziehung von Exemtion und Einsteherwesen geprägt war. Die oberen 20% der Bevölkerung waren entweder auf Grund ihrer Bildung vom Militärdienst befreit oder konnten auf Grund ihres Wohlstandes einen Einsteher bezahlen. Aber auch zahlreiche Angehörige der Unterschichten wurden wegen eingeschränkter körperlicher Tüchtigkeit oder familiärer Härten von der Aushebung ausgenommen.
Insgesamt gelingt es Schneider in seiner Studie, die Erkenntnischancen der in letzter Zeit in Misskredit geratenen quantifizierenden Methode deutlich zu machen. Durchgängig achtet er auf eine sorgfältige Einbettung seiner sozialstatistischen Ergebnisse in die rechtlichen, politischen und sozioökonomischen Entwicklungslinien Württembergs. Detaillierte Erkenntnisse über die Mentalität seiner Untersuchungsgruppe zu gewinnen, ist ihm hingegen, wie er selbst betont, mit dem von ihm herangezogenen Material nicht möglich. Hier fordert er weitergehende Studien ein, klammert jedoch den Problembereich von Mentalität und Heeresergänzung nicht ganz aus, sondern zieht vorsichtige Rückschlüsse und formuliert begründete Vermutungen auf der Basis seiner quantitativen Befunde.
Schneiders Leistung besteht darin, ein umfassendes Sozialprofil der Rekrutierten und deren Verhältnis zur Gesamtgesellschaft zu entwerfen sowie die Verbindungen zwischen Heeresergänzung und Strukturen des langfristigen sozialen und ökonomischen Wandels sichtbar zu machen. Er stellt in seiner Untersuchung zum ersten Mal seriöse statistische Grundlagen bereit, die das bisher akzeptierte Diktum vom Heer der "Armen und Ungebildeten" relativieren und modifizieren.
Ein Wehrmutstropfen ist die äußere Form des Buches. Register, Tabellen- und Abbildungsverzeichnisse fehlen, Schriftgröße und Zeilenabstand sind sehr klein. Zwar wird der Fließtext um viele Tabellen und Grafiken ergänzt, doch lockern diese denselben nicht auf, sondern werden als Block am Ende der Kapitel über mehrere Seiten aneinander gereiht. Der ansonsten in jeglicher Hinsicht äußerst lesenswerten Studie ist eine breite Rezeption zu wünschen.
Gundula Gahlen