Heinrich August Winkler (Hg.): Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland (= Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte; Bd. 10), München: Oldenbourg 2002, 193 S., ISBN 978-3-486-56653-6, EUR 24,80
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"Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland" - unter diesem Titel lassen sich ganz verschiedene Facetten eines spannenden Themas subsumieren: etwa eine klassische politikgeschichtliche Analyse der geschichtspolitischen Instrumentalisierungen der Weimarer Republik in den beiden deutschen Staaten, eine Analyse der verschiedenen Legitimierungsstrategien staatlicher Ordnungen. Oder eine wissenschaftshistorische Untersuchung, die erörtert, wie die Fachwissenschaften in Ost- und Westdeutschland die Weimarer Republik gesehen haben und inwieweit sie dabei von gesellschaftlichen Wandlungen beeinflusst wurden. Aber auch eine kulturgeschichtliche Herangehensweise, die fundamentale Fragen nach Geschichtsbildern und kollektiven Mythen stellt und an diesem eminent wichtigen Fallbeispiel grundsätzlich deren Bedeutung, Entstehung und Durchsetzung untersucht. Schließlich ein ebenfalls kulturgeschichtlicher Ansatz, der die verschiedenen späteren Bezugnahmen auf diesen Zeitabschnitt der deutschen Geschichte, etwa in Architektur oder Kunst, auslotet und die Bedeutung der Weimarer "Roaring Twenties" als Laboratorium der Moderne für ganz unterschiedliche Rezeptionen in beiden Teilen Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nachzeichnet.
Die Organisatoren des hochkarätig besetzten Symposiums, das die Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte anlässlich des 75. Todestages ihres Namensgebers am 24. und 25. Februar 2000 im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig durchführte, haben sich neben der Darstellung von Forschungen zur Weimarer Zeit selber für eine Beschränkung auf die ersten beiden Zugänge entschieden, wobei die dritte Perspektive in einigen Beiträgen anklingt, ohne jedoch ausführlicher berücksichtigt zu werden. Das ist sicherlich sowohl auf den Anlass als auch auf die Forschungsschwerpunkte der Teilnehmer zurückzuführen. Dabei hatte der Titel der Tagung: "Gespaltenes Geschichtsbild in Deutschland - Der Streit um den historischen Ort der Weimarer Republik in Ost und West seit 1945", den dritten Aspekt noch näher gelegt. Doch auch so dokumentiert der Band wichtige Aspekte eines spannenden Gegenstandes.
Am Anfang des Buches stellt Klaus Schönhoven (Mannheim) in einem knappen und präzisen Überblick die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die Entstehung der Weimarer Republik dar, den er zugleich als Epochenscheide und Katalysator der "Krisenzeit der klassischen Moderne" (D. Peukert) sieht. Die Erfahrungen der Kriegsjahre auf politischem, sozialem und kulturellem Gebiet bestimmten wesentlich den Handlungsrahmen für den neuen Staat. Insbesondere die Alltäglichkeit von Gewalt sowie verhärtete interne und externe Feindbilder erwiesen sich als schwere Hypothek. Vor diesem Hintergrund ist auch die Novemberrevolution 1918 zu interpretieren, deren wechselnde Deutungen in der Bundesrepublik Heinrich August Winkler (Berlin) in seinem Beitrag kurz nachzeichnet und durch Ergebnisse seiner eigenen Forschungen ergänzt. Vor allem hebt Winkler den ambivalenten Charakter der Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung als große Belastung für den jungen Staat und gleichzeitig notwendige Voraussetzung für die Etablierung seines auf Koalitionen und Kompromisse angelegten parlamentarischen Systems hervor. Ebenso betont er die Notwendigkeit, die Handlungen der Akteure aus ihrem Erfahrungshorizont heraus zu untersuchen und an ihren eigenen Wahrnehmungen und Zielen zu messen.
Das "ostdeutsche Pendant" zu Winklers Ausführungen bildet die Darstellung der Deutungen der Novemberrevolution in der DDR. Jürgen Johns (Jena) Text macht den quantitativen Schwerpunkt des Bandes aus und ist einer der aufschlussreichsten Beiträge. Aus der Insider-Sicht des Beteiligten und zugleich mit der nötigen Distanz des kritischen Wissenschaftlers zeichnet er den Umgang der DDR-Historiographie mit der Novemberrevolution unter sich ändernden politischen Vorgaben nach, und zwar anhand der runden Jahrestage von 1948 bis 1988. John äußert dabei Zweifel daran, dass die offizielle Geschichtspolitik des Staates und die Deutungen der an die Vorgaben der Partei gebundenen Wissenschaft tatsächlich großen Einfluss auf die Geschichtsbilder der breiten Bevölkerung gehabt hätten und verweist auf die in seinen Augen viel wichtigere Institution Schule. In bezug auf die Instrumentalisierung des Revolutionsbildes durch Partei und Staat macht er zwei zentrale Epochen aus: Unter Ulbricht hatte die Novemberrevolution massiv der Identitätspolitik des neuen Staates zu dienen, wobei die Führung darauf bedacht war, sie für traditionsstiftende und legitimierende Zwecke zu nutzen und sich gleichzeitig von der als bürgerlich interpretierten Revolution und ihren Folgen abzugrenzen. Das Thema war so wichtig, dass Ulbricht persönlich die Linie vorgab und über die autoritative Festlegung der historischen Interpretation innerparteiliche Gegenströmungen ruhig zu stellen suchte: Kampf gegen die Sozialdemokratie im Westen und den Sozialdemokratismus im Innern war die Maßgabe. In der Honecker-Ära verlor die Revolution selbst hingegen zunehmend an Bedeutung und wurde im Rahmen des Erbe-Traditions-Modells, das zwischen eigenen progressiven Traditionen der kommunistischen deutschen Arbeiterbewegung und allgemeinem historischen Erbe unterscheidet, als Erbe gedeutet. Die Auslegung der Rolle der KPD - also der Tradition - behielt sich bis zum Schluss die Partei vor und betraute damit das Institut für Marxismus-Leninismus. Für die 1980er-Jahre betont John die internen Erosionstendenzen, die auch vor dem historiographischen Deutungsmonopol der SED nicht Halt machten und zu lebhaften internen Konflikten führten, die letztendlich erst durch die Wende aufgelöst wurden.
Im Mittelpunkt des zweiten Teils des Bandes steht die Diskussion des anderen zentralen, zwischen Ost und West umstrittenen Problems der Weimarer Zeit, nämlich der verschiedenen Positionen von KPD und SPD am Ende der Weimarer Republik. Während Eberhard Kolb (Köln) die Forschungen zur Politik der SPD seit 1928 kritisch referiert und zu einer weitgehend positiven Einschätzung sozialdemokratischer Politik in dieser Zeit kommt, stellt Andreas Wirsching (Augsburg) die Position der KPD zwischen Sozialfaschismusthese beziehungsweise "ultralinker Wende" 1928 und "Antifaschistischer Aktion" im Jahr 1932 dar. In den Kommentaren von Werner Bramke (Leipzig) und Hermann Weber (Mannheim) werden neben divergierenden Ansichten der einzelnen Forscher auch Nachwirkungen der unterschiedlichen Einschätzungen zwischen Ost und West deutlich. Weber kritisiert vor allem Wirschings Berücksichtigung der erfahrungsgeschichtlichen Perspektive der KPD-Mitglieder sowie der internen Flügelkämpfe, weil er der Parteibasis und auch der deutschen Führung jegliche Bedeutung abspricht. Allein die Komintern in Moskau habe die Linie der Partei bestimmt, und deren Ziel sei die Zerstörung von Republik und Sozialdemokratie gewesen. Bramke hingegen weist auf die massiven psychologischen Folgen nicht nur der Selbstisolierung der KPD im Weimarer Staat, sondern auch der faktischen Ausgrenzung der Kommunisten durch die deutsche Gesellschaft und andere Parteien hin.
Den Schluss des Bandes bilden zwei Untersuchungen über die Schlussfolgerungen, die aus dem Scheitern Weimars in den beiden deutschen Staaten gezogen wurden. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm (Berlin) nimmt die westdeutsche Interpretation des Grundgesetzes als gelungene Lehre aus Weimarer Fehlern zum Anlass, über die "Bewährung" von Verfassungen nachzudenken. Er weist darauf hin, dass sich das "Schicksal einer Verfassung" immer erst aus dem Zusammenwirken ihrer Konstruktion mit der konkreten historischen Situation und ihren sich wandelnden Interpretationen entscheidet. Während der Weimarer Verfassung ihre positivistisch-formalistische Auslegung mit zum Verhängnis wurde, musste das Grundgesetz noch keine ernste Bewährungsprobe bestehen. Abschließend widmet sich Martin Sabrow (Potsdam/Berlin) noch einmal der DDR-Geschichtswissenschaft, deren bedingungslose Unterordnung unter die Politik zum Zwecke einer konsensuellen Herrschaftslegitimation und Identitätsstiftung für ihn eine der Lehren ist, welche die SED aus der Weimarer Zeit gezogen hat. Im Dreieck aus politisch verordnetem und wissenschaftlich erarbeitetem Geschichtsbild sowie persönlichen Erfahrungen zeichnet er Grundstrukturen der homogenisierenden Prinzipien der DDR-Historiographie zur Weimarer Zeit nach: Aktualisierbarkeit als Auswahlkriterium für Themen ("Präsentismus"), ihre historische Entstofflichung ("Entkonkretisierung") und eine grundsätzlich "beherrschte Erinnerung".
Wegen seines doppelten Fokus ist der Band insgesamt sehr spannend und lesenswert. Wenn die meisten der Erkenntnisse auch bereits andernorts vorgestellt wurden und die klassische politik- beziehungsweise wissenschaftshistorische Perspektive wenig Raum für neuere kulturgeschichtliche Fragestellungen lässt, so bleibt doch eine Zusammenstellung konziser Beiträge, die wichtige Ergebnisse der Weimar-Forschung in ihrem Entstehungskontext urteilsfreudig auf knappem Raum zusammentragen. Dass bei dieser Analyse größtenteils die DDR und ihre Historiographie im Vordergrund steht, liegt angesichts der Tatsache, dass sie nun selber Gegenstand der Geschichtsschreibung sind, wohl in der Natur der Sache. Ein detaillierterer Bezug der westdeutschen Deutungskonjunkturen auf die Standorte der jeweiligen Autoren hätte allerdings wohl ebenfalls weitergehende Erkenntnisse ermöglicht. Dem Band insgesamt wäre eine ordnende und vor allem einordnende Einleitung zu wünschen gewesen. Diese hätte Begriffe klären, theoretische Implikationen des Themas reflektieren, Verbindungen zwischen den einzelnen Beiträgen herstellen und die Themen des Bandes in einen größeren Kontext stellen können. Schade ist ebenfalls, dass für eine Zusammenfassung etwaiger Diskussionen auf dem Symposium kein Platz blieb, da sie insbesondere den anvisierten Dialog zwischen Ost und West hätte deutlicher werden lassen können.
Jochen Guckes