Miloš Vec: Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1879-1933) (= Juristische Zeitgeschichte. Abt. 1: Allgemeine Reihe; Bd. 12), Baden-Baden: NOMOS 2002, 153 S., ISBN 978-3-7890-8222-1, EUR 29,00
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Nicht nur die Praktiker der Strafvollstreckung und die Kriminologen, sondern auch die Vertreter der Polizei versuchten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt durch eine "Verwissenschaftlichung" ihrer Methoden und Verfahren die Legitimation und den Nutzen ihrer Existenz für Staat und Gesellschaft zu begründen. Nach den Studien von Richard F. Wetzell und Peter Becker zur Kriminologie [1] hat nun Miloš Vec eine Arbeit zur Geschichte kriminalpolizeilicher Ermittlungs- und Personenidentifikationsverfahren vorgelegt, die sich vor allem mit der Revolutionierung der Kriminalistik durch die Einführung biometrischer Verfahren im ausgehenden 19. Jahrhundert beschäftigt. Zunächst war es die Polizeifotografie, dann die so genannte "anthropometrische Bertillonage", eine von dem französischen Polizeibeamten Alphonse Bertillon entwickelte Methode der Körpermessung und schließlich das Fingerabdruckverfahren (Daktyloskopie), durch welche die Kriminalisten hofften, eindeutige Personenidentifizierungen vornehmen zu können. Diesen Umbruch durch eine "Verbindung von Rechtsgeschichte, Technikgeschichte und historische Kriminalistik" (1) nachzuzeichnen, hat sich Vec zum Ziel gesetzt.
Zunächst beschäftigt sich Vec mit den Problemen der Personenidentifikation, die sich aus der Mehrdeutigkeit der Körperzeichen ergaben, zumal Justiz und Polizei im Zuge der Justizreformen des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so zentrale Waffen im Kampf gegen das Verbrechen wie Verdachtstrafe, Folter und Brandmarkung abhanden gekommen waren. Im Wesentlichen allein auf die Techniken der Personenbeschreibung gestützt, die in Form von Gauner- und Diebeslisten, Steckbriefen, Personalbüchern sowie Sammlungen von Spitz- und Aliasnamen nur unzureichend eine eindeutige Identifizierung des Delinquenten ermöglichten, ließen sich die zahllosen, im devianten Milieu üblichen Praktiken der De-Identifizierung wie Verkleidung, Verstellung et cetera kaum entlarven.
Vec entwirft ein Panorama der wichtigsten Ermittlungsverfahren, das von der Polizeifotografie über die "Bertillonage" bis zur Daktyloskopie reicht. Er zeigt überzeugend auf, wie es den mit "wissenschaftlichem" Ethos auftretenden Kriminalisten gelang, entscheidende Fortschritte zu propagieren, nicht nur in der Aufklärung von Straftaten, sondern auch in der Überwachung und polizeilichen Kontrolle des sich aus der Sicht der Zeitgenossen aus Rückfalltätern und "geborenen Verbrechern" speisenden devianten Milieus. Die Wiedererkennung des Delinquenten erschien damit gleichzeitig als eine erfolgreiche Strategie der Verbrechensbekämpfung. Doch die Bemühungen um eine möglichst lückenlose Erfassung daktyloskopischer Daten machten nach dem Willen der Kriminalisten nicht bei den Vertretern gesellschaftlicher Randgruppen Halt, sondern sollten gewissermaßen als "Volksdaktyloskopie" auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt werden, um so das auf dem Prinzip der Wiedererkennung beruhende Verfahren noch leistungsfähiger zu machen.
Aber Vec macht auch auf die Grenzen dieses technik- und wissenschaftsbegeisterten Optimismus der Kriminalisten aufmerksam. Die zeitgenössischen Datenverwaltungssysteme konnten mit der regelrechten "Datenfresssucht" der Kriminalisten kaum mithalten, sodass sich das Wiederfinden der Daten als schwierig herausstellte. Die Bestrebungen zu einer Volksdaktyloskopie etwa in Ausweispapieren wurden von der Bevölkerung nicht angenommen, da die Daktyloskopie mit Kriminalität und abweichendem Verhalten assoziiert und somit stigmatisiert war. Darüber hinaus fand eine gesetzliche Normierung der Anwendung biometrischer Verfahren in Deutschland nicht statt, da das zentrale Anliegen der Beteiligten ganz auf die Steigerung der kriminalpolitischen Wirksamkeit und die Kontrollfunktion der kriminalistischen Techniken gerichtet war. Bezeichnenderweise kam es zu einer Normierung erst im November 1933, aber da diente die Kriminaltechnik ja bereits einer neuen Kriminalpolitik unter dem Banner der polizeistaatlichen Prävention.
Insgesamt hat Vec eine informative, gut recherchierte Studie vorgelegt, wobei bisweilen Rekurse auf den breiteren Kontext der Kriminalanthropologie und der Anthropometrie wünschenswert gewesen wären.
Anmerkung:
[1] Richard F. Wetzell: Inventing the Criminal: A History of German Criminology, Chapel Hill / London 2000; Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Zur Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002.
Thomas Nutz