Rezension über:

Andreas Gotzmann / Rainer Liedtke / Till van Rahden (Hgg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800-1933 (= Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts; Bd. 63), Tübingen: Mohr Siebeck 2001, 444 S., ISBN 978-3-16-147498-9, EUR 74,00
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Rezension von:
Marcus Pyka
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Marcus Pyka: Rezension von: Andreas Gotzmann / Rainer Liedtke / Till van Rahden (Hgg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800-1933, Tübingen: Mohr Siebeck 2001, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 6 [15.06.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/06/1787.html


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Andreas Gotzmann / Rainer Liedtke / Till van Rahden (Hgg.): Juden, Bürger, Deutsche

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Mitunter haben Bücher weniger ein Schicksal als vielmehr eine Mission. So auch im vorliegenden Falle. Der hier anzuzeigende Band ist gleichsam eine Blütenlese aus den Forschungskolloquien, die im Rahmen der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck-Instituts von Reinhard Rürup geleitet worden sind, weshalb diese Sammlung dem Berliner Emeritus gewidmet ist. Aus diesem wissenschaftlichen Rahmen entsprang die Frage, "inwieweit und in welcher Weise Juden Teil der deutschen bürgerlichen Gesellschaft waren" (4). Was auf den ersten Blick wie eine geradezu banale Angelegenheit erscheint, ist eine noch längst nicht hinreichend beantwortete Frage - denn in der Tat ist es weder der Jüdischen Geschichte noch der vermeintlich 'allgemeinen' Bürgertumsforschung bislang gelungen, auf umfassender Basis die Rolle von Juden bei der Formierung und Differenzierung der deutschen bürgerlichen Gesellschaft zu untersuchen. Und nicht selten reduzierten entsprechende Versuche ihren Gegenstand zu einer bloßen Vorgeschichte der Shoah. Hier setzt nun dieser sehr empfehlenswerte Band an, "indem er die Spannung zwischen rechtlicher Egalität und Ausgrenzung, zwischen kultureller Homogenität und Selbstbestimmung ebenso wie das Wechselspiel von Anpassung und Eigenständigkeit ins Zentrum des Interesse rückt" (5). Wenn dabei nicht nur die üblichen Vorstellungen von "Bürgertum" und "Bürgerlichkeit" schärfer gefasst werden, sondern auch die Idealvorstellung von einer klassenlosen bürgerlichen Gesellschaft kritisch hinterfragt wird, so wird bereits deutlich, dass es sich um ein Unternehmen mit größerer Tragweite handelt als bloß um eine weitere 'Minderheitengeschichte'.

Die Basis des Bandes stellt die von Till van Rahden in die deutsche Geschichtswissenschaft eingeführte Konzeption des situativen Charakters von Identität dar. Entsprechend geht es den Autoren weniger um die traditionelle Frage jüdischer "Beiträge" (beziehungsweise deren Zurückweisung durch die nicht-jüdische Mehrheit) als vielmehr um das spezifische Verhalten von Juden im Spannungsfeld von universalem Anspruch und oftmals partikularistischer Wirklichkeit der Gesellschaft, der sie angehören. Das Spektrum der Fragestellungen reicht dabei von klassischen sozial- und ideengeschichtlichen Ansätzen über die Mentalitäts- und Geschlechtergeschichte bis hin zur Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft. Zeitlich liegt der Schwerpunkt deutlich auf dem Kaiserreich, sodass der Band ungeachtet seiner methodischen Breite einen sehr geschlossenen Eindruck hinterlässt. Gerade ein solches vielgestaltiges Vorgehen vermag das bislang gängige Bürgertumsbild nachdrücklich zu differenzieren. Dies beginnt bereits in van Rahdens ausgesprochen gehaltvoller Einführung, um sich in nahezu allen folgenden fünfzehn Beiträgen fortzusetzen.

Ausgehend von Bourdieus Kapital-Begriff weist etwa Simone Lässig in ihrer Untersuchung jüdischer Reformschulen in der Emanzipationsära den enormen modernisierenden Einfluss dieser Einrichtungen nach, deren Wirkung letztlich erst in der zweiten und dritten Generation vollends deutlich werden konnte. In ihnen wurden jene Gedanken verbreitet, die wiederum nach Andreas Gotzmann alle Entwürfe jüdischer Kollektiv-Identität im 19. Jahrhundert nach der Maßgabe einer bürgerlichen Konfession zu gestalten suchten - ein Prozess, der selbst vor den Vertretern der (Neo-)Orthodoxie nicht halt machte. Gerade hier wurde deutlich, welch zentrale Rolle das deutsche Judentum im 19. Jahrhundert für die Ausgestaltung des Phänomens 'Bürgertum' gespielt hat, auch wenn, wie vielleicht am nachdrücklichsten Richard Mehler anhand bürgerlicher Formierungen in der bayerischen Röhn aufzeigt, Juden nicht als Einzige in dieser Richtung wirkten. Zu welchem Preis diese Entwicklung im Übrigen nur erkauft werden konnte, wird ebenfalls deutlich. Stefan-Ludwig Hoffmann beispielsweise illustriert anhand der Beziehung zwischen Juden und Freimaurertum, wie deutlich mitunter Anspruch und Wirklichkeit der freimaurerischen universalistischen Idee auseinander klafften, wenn es um die Integration von Juden ging; andererseits zeigt er aber auch, dass diese nachgerade klassische Fragestellung der Forschung nicht ausreicht, um der Vielgestaltigkeit (nicht nur) der jüdischen bürgerlichen Existenz gerecht zu werden.

Zu ähnlichen Ergebnissen - nämlich der Existenz einer neuen, gar eigenständigen Form des Zusammenseins, die sich überdies mit den Friktionen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft selbst auseinander zu setzen hatte - kommt auch Andreas Reinke in seiner Untersuchung des Unabhängigen Ordens B'nai B'rith in Deutschland. Dieser frühe US-Import entwickelte seit den 1880er Jahren mit dem Modell der "ethnischen Vergemeinschaftung" (325) eine Möglichkeit, eine eigenständige jüdische Kollektividentität zu entwickeln, ohne damit die Loyalität der deutschen Nation gegenüber infrage zu stellen, wie dies etwa das zionistische Gegen-Modell mit sich brachte.

Ähnliche Strategien konnten scheitern (Ulrich Sieg über jüdische Geisteswissenschaftler) oder zu spezifischen, hochkomplexen Lebensformen führen (Morten Reitmeyer über jüdische Großbankiers), dennoch wird stets deutlich, dass der ausschließliche Dualismus von Integration (in eine 'deutsche' Mehrheitsgesellschaft unter Aufgabe alles 'Jüdischen') einerseits und Bewahrung (einer eher vagen 'jüdischen Identität') andererseits nur ein sehr eingeschränktes Bild ermöglicht: Denn dass auch den jüdischen 'Menschen des 19. Jahrhunderts' noch eine ganze Reihe anderer Fragen umtrieben, belegt beispielsweise die bemerkenswerte Fallstudie Stefanie Schüler-Springorums zur Autobiografie des Königsberger Kaufmanns Aron Liebeck, die insbesondere interessante Gender-Fragestellungen aufzeigt. Und selbst in Olaf Blaschkes Beitrag zu einem "neuen Konfessionalismus" wird letztlich - wenigstens für die bürgerlichen Schichten im Kaiserreich - die Grenze seines auf Konflikt hin angelegten Konzeptes eines "zweiten konfessionellen Zeitalters" sichtbar.

Erst mit dem heraufziehenden Ersten Weltkrieg, jener "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", wurden Differenzen zu jenen Gräben, die im Zuge einer Fetisch-Werdung des Kollektivs und seiner Ordnung fatale Folgen zeitigen sollte. Dass dies nicht erst mit der berühmt-berüchtigten 'Juden-Zählung' von 1916 einsetzte, belegt eindrücklich Marline Ottes Beitrag über das Berliner Unterhaltungstheater der Gebrüder Herrnfeld, wo sogar noch bis zum Kriegsausbruch die (inner-)bürgerliche Differenzerfahrung eine regelrechte Attraktion für Juden wie für Nicht-Juden werden konnte; unter dem Druck des gesellschaftlichen "Burgfriedens" verödete dieser Reiz jedoch zur bloßen Einheitsübung - ein Verlust an Vielfalt, der nicht zu kompensieren war. Während sich jedoch nach dem Krieg auf der Bühne des ehemaligen Jargon-Theaters die Suche nach sprachlicher und kultureller 'Reinheit' noch verhältnismäßig harmlos gestaltete, verursachte der mittlerweile vollends gesellschaftsfähig gewordene Antisemitismus in Wirtschaft und Politik ein Krisenbewusstsein unter den deutschen Juden, das selbst in den so genannten 'guten Jahren' der Weimarer Republik kaum mehr ruhig schlafen ließ, wie Martin Liepach nachzeichnet. Hier wurde auf einmal in letztlich fataler Weise bedeutsam, dass 'bürgerlich' und damit 'deutsch sein' von der Akzeptanz der Nicht-Juden abhängig sein könnte.

Diese Sichtweise, 'Bürgertum' sei identisch mit 'Integration', hat sich die Forschung lange zu Eigen gemacht. Doch abgesehen davon, dass er auch manch andere neue Forschungsperspektive eröffnet, vermag der vorliegende Band diese Sicht erfolgreich infrage zu stellen. Angesichts des durchweg hohen Niveaus der einzelnen Aufsätze darf man ihn als einen substanziellen Beitrag zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bezeichnen. Es bleibt nur zu hoffen, dass sich die 'Mission' dieses Buches erfüllen wird und es weitere Forschungen auf seiner Grundlage anzustoßen vermag.

Marcus Pyka