Rezension über:

Georges Didi-Huberman: Die leibhaftige Malerei [gefolgt von H. de Balzac, Das unbekannte Meisterwerk]. Aus dem Französischen von Michael Wetzel, München: Wilhelm Fink 2002, 180 S., ISBN 978-3-7705-3205-6, EUR 20,00
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Rezension von:
Christian Vöhringer
Kunsthistorisches Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Christian Vöhringer: Rezension von: Georges Didi-Huberman: Die leibhaftige Malerei [gefolgt von H. de Balzac, Das unbekannte Meisterwerk]. Aus dem Französischen von Michael Wetzel, München: Wilhelm Fink 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 6 [15.06.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/06/2069.html


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Georges Didi-Huberman: Die leibhaftige Malerei [gefolgt von H. de Balzac, Das unbekannte Meisterwerk]

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Ein junger Maler ist im Dezember 1612 auf dem Weg zu Meister Porbus, um sich diesem vorzustellen und von ihm zu lernen. Im Treppenhaus trifft er auf einen alten Herrn, dem er sich anschließen kann und als dessen Begleiter er problemlos Einlass erhält. Im Gespräch über Porbus'sche Werke erweist sich der Alte, Frenhofer sein Name, als Schüler Mabuses und seinerseits Lehrer des Porbus. Mit sicherem Blick übt er nach anfänglichem Lob detailliert Kritik an Porbus' "Ägyptischer Maria", vergleicht die Malweise mit Alten Meistern, bezieht das Resultat auf Künstlermythen und vollendet das Werk seines Schülers zuletzt mit wenigen Pinselstrichen. Die Lektion für Porbus wie für den Jungen - er hat sich mit einer Figurenzeichnung nach dem Gemälde als Nicolas Poussin eingeführt - lautet: "...entscheidend ist allein der letzte Pinselstrich. Porbus hat hundert gebraucht, ich gebe nur einen dazu. Niemand weiß uns Dank für das, was darunter ist." (152)

Frenhofer lädt zu sich nachhause ein, wo das Gespräch sich auf sein ideales, lebendiges, letztes Gemälde, die "Belle Noiseuse" auszurichten beginnt. Am Vorabend schien sie dem Meister nach zehnjähriger Arbeit zu atmen, also fertig, doch morgens erwies sich alles als Trug. Fehlt ihm das richtige Modell? Ein verhängnisvoller Handel zwischen den Männern bahnt sich an. Poussin wird Gillette, seine Geliebte, gegen ihren Willen Frenhofer "überlassen". Dieser wird Poussin und Porbus tagsdarauf sein vollendetes chef d'œuvre zeigen und an deren Reaktion, Poussin sieht nichts, Porbus kann die Situation nicht retten, kurz darauf zugrunde gehen, nachdem er alle seine Werke verbrannt hat. (143-171)

Honoré de Balzacs (1799-1850) "Le chef d'œuvre inconnu" erschien erstmals 1831 in der Zeitschrift L'Artiste als Conte de Fée (Märchen), heute gehört der Text in erweiterter Fassung neben anderen Künstlernovellen wie "Gambara" und "Massimilla Doni" zu Band 10 der Comédie humaine (Philosophische Schriften). Georges Didi-Huberman gewann daraus Mitte der Achtzigerjahre - die belle Noiseuse boomte in Paris [1] - eine lose Reihe kurzer Versuche über Weisheit in der Malerei, Malen als Schöpfungsakt, Hysterie und Symptom in der Malerei, Fleisch gewordene Malerei, Marmor als Fleisch, Wahrheit in Künstlermythen und verwandte Themen, die er in kurzer Zeit niederschrieb.

Der Titel kündigt das Zentralthema an, vom chef d'œuvre inconnu Balzacs wird zur "peinture incarnée" zugleich verallgemeinert und heilsgeschichtlich dramatisiert. ("Januar-Juni 1984" signiert am Textende (141) so etwas wie die Reuelosigkeit im Umgang mit den Gedanken, so wie Balzac das junge Genie seine Zeichnung (152) rasch zu Papier bringen ließ.)

Didi-Huberman nähert sich durch unterschiedliche Künstlerlegenden wie dem Schwammwurf des Apelles (10ff.) und Cézannes Augen (12f.) dem, was er Weisheit des Malers nennt, "sapience du peintre". Legende und Mythos bahnen den Weg dorthin, manche von ihnen von Balzacs Figuren evoziert, andere als Wahrheit eigener Art berichtet - les légendes disent - à leur manière - le vrai. (10) Historisch argumentiert er dort, wo Künstler und Kunsttheoretiker der Renaissance wie Cennino Cennini (23 ff.), Lodovico Dolce (22, 29, 74ff.), G. P. Lomazzo (19) und andere davor und danach wie Aristoteles (30 ff.) oder Cézanne (12 f.) die Bedeutung von Farbe und insbesondere der Hautfarbe und einer transluziden Stofflichkeit des Inkarnats erörtern; allerdings nicht so weit historisch erörternd, dass Balzacs Verhältnis zu diesen Quellen geklärt würde. Wo Didi-Huberman nach einer kurzen Heidegger-Einlassung (65) wiederholt "ontologisch spricht", Balzacs Szene auf Orpheus und Eurydike bezieht (70 ff.) und einer Bemerkung Porbus' folgend (157) Pygmalion als Ahnen einsetzt (81-90), scheint er seine Stimme ganz der "Beinah-Halluzination" (63) Frenhofers zu leihen. In langen Ovid-Passagen teilt Didi-Huberman Frenhofers Obsession, als gälte es, diesem exegetisch zur Seite zu stehen und ihn vor seinem nahen Ende zu retten. Zur romantischen Faszination des Malers als Künstlerschöpfer sucht Didi-Huberman keine reflexive Distanz, im Gegenteil bemüht er sich assistierend um historische Begleitargumente und theoretische Umformulierungen.

Balzacs Arbeit an den Künstlermythen am nächsten sind die Passagen über den Optiker Fraunhofer (37 f.) und über den "Wahnsinn mit Bewußtsein" bei Esquirol 1814 und Legrand du Saulle 1875 (16-19), welchem Frenhofers Zustand des "Selbstzweifels mit übersteigertem Tastsinn" entspreche. Hier gewinnt Didi-Huberman sein nicht von Balzac gegebenes Hauptthema, das den Buchtitel bestimmende Inkarnat. Dort hätte er wohl die Möglichkeit gehabt, Balzacs verzweifelten Künstler als historische, postromantische Figur kritisch zu lesen (wäre nicht auch über Ironie bei Balzac zu reden?). Stattdessen enthistorisieren vor- und zurückspringende Bezüge auf antike Farbtheorien, auf Aristoteles (30-33), Descartes (34 f.), Hegel (28), Diderot (26) das Inkarnat. Diese Aperçues gehorchen einem phänomenologischen Kreisen, das sich nicht immer zum lesbaren Gedankengang fügt.

Auch gibt der Text häufig und in vielen Sprachen dem Reiz zu Wortgeschichte und Allusion nach - zur Überforderung von Übersetzer und Leser. Seinen Assoziationen zum Balzac-Text trägt er zudem theoretische Höhungen auf, die in der Summe wie Blitzlichter Pariser Debatten wirken: Freud, Merleau-Ponty, Lacan und Derrida sind das Weiß dieses Meisters; an der einen oder anderen Stelle, etwa den Passagen zur Hysterie [1], gehören sie wohl schon zur Unterzeichnung.

Im zweiten und vierten Kapitel gibt Didi-Huberman unter den Überschriften "Das Flächenstück" und "Das Detail" den Entwurf einer Theorie des Symptoms in der Malerei, erstmals behauptet auf Seite 27, wo es zum Kolorit heißt: "Es ist ein Kolorit, vermittels dessen sich die Malerei als zu Symptomen begabt träumt, das heißt, mit den Fähigkeiten zu epiphasis und aphanisis begabt, die man einem Körper zuspricht, wenn er von Qualen und Stimmungswandlungen bewohnt, durchquert, heimgesucht wird." Was zunächst nur Frenhofers Traum (28) zu sein scheint, wird von Didi-Huberman später offenbar aber mitgeträumt und durchläuft verschiedene Stadien. Was auf Seite 32 mit einer Analogie zwischen Farbe und älteren medizinischen Feuchtigkeitslehren beginnt, führt in eine Dialektik der Verhüllung, für die Freud bemüht wird (33), und in der das Sichtbare und das Unsichtbare im Text "Das Flächenstück" genauso wie in Frenhofers Wahn ununterscheidbar werden. "Präzisieren wir: Das Stück Fläche wäre erstens die Imminenz (das Nicht, Noch-nicht) eines wahnhaften Moments des Bildes; desjenigen der Gewißheit, daß der Körper von Catherine Lescault dort ist, vor mir, "bebend", und zum Beispiel "sich erheben wird".

In dieser Hinsicht wäre das Stück Fläche die Bedingung der pikturalen Möglichkeit einer Halluzination des sôma, des Körpers im sêma, in der Figurabilität."(62) Wenn das "Stück Fläche" (oder das "Flächenstück", wie es in der Überschrift heißt) des Frenhoferschen Catherine-Lescault-Fußes halluzinogen ist, dann nicht als Ergebnis einer sinnentstellenden Symptomarbeit im freudschen Sinne. Dieser Fuß mag in Balzacs Text wie eine Spur funktionieren, die besser an einen wahrhaften Frauenkörper denken lässt, als dies ein Abbild des Ganzen vermocht hätte. Hat es aber ohne Entstellung, ohne die Arbeit der Symptombildung, noch Sinn, von einem Symptom zu sprechen? Nein, wie ich meine, denn als "Stück Fläche" das "nur ein reines Symptom der Malerei" ist (63), verfehlt es jede vorher behauptete Potenzialität, wird Symptom seiner selbst.

Nicht immer haben die Stichworte schon bei Balzac das Gewicht, das sie in diesem Essay bekommen. Marmorhaft erscheint der Fuß, einziger Rest einer ansonsten im Glauben, sie zu verbessern, übermalten Catherine Lescault. "Dieser Fuß erschien wie der Torso irgendeiner Venus aus parischem Marmor, die aus den Trümmern einer niedergebrannten Stadt auftauchte" (169), schrieb Balzac. Marmor und seine roten Aderungen reflektiert Didi-Huberman ausführlich ab Seite 107 als Fleisch gewordene Skulptur, zugleich den Bezug auf den Pygmalion- Mythos legitimierend, der bereits früher eingeführt worden war. Verloren gehen so die Beiläufigkeit - "irgendeiner Venus" - und die Fatalität - "aus den Trümmern einer niedergebrannten Stadt" - des Balzacschen Vergleichs. Es entsteht der Eindruck, was Plinius in Buch XXXV seiner Naturgeschichte über Marmor gesagt hat, sei für Didi-Huberman von magischer Bedeutung, was nicht einfacher wird, wenn die Übertragung des Topos auf die Malerei im 16. Jahrhundert zwar genannt, eine Konsequenz für die Bildbeschreibung in Balzacs Erzählerbericht (169) aber unausgesprochen bleibt. Wiederholt werden materialästhetische Überlegungen essentialistisch aufgeladen, als sei etwa bar jeder Konventionalisierung Marmor "leibhaftig" (115). Warum nur hat Didi-Huberman erst in späteren Werken erkannt, dass "inkarnierte" christliche Kunst nicht außerhalb des Glaubens an die Menschwerdung Gottes und ohne Bezug zur Logozentrik des Johannes-Evangeliums diskutierbar ist?

Seit der französischen Erstauflage sind siebzehn Jahre vergangen, in denen Didi-Huberman zu den wichtigsten hier traktierten Problemen ausführlicher publiziert hat, so zu Marmor und Inkarnation in seinem Fra Angelico- Buch von 1995, zu Abdruck und Abguss 1997 oder über Symptom und Kunst zuletzt in seinem Warburg-Buch "L'image survivante" von 2002. [3] "Le chef d'œuvre inconnu" wurde seit 1984 wie Balzacs andere Künstlernovellen anhaltend wissenschaftlich rezipiert. Eine Überarbeitung des Essays für die erste deutsche Auflage wird darum nicht ernsthaft erwogen worden sein. Nicht zuletzt weil Hans Belting zwischenzeitlich dem unsichtbaren Meisterwerk ein umfangreiches Buch gewidmet hat, in dem die Denkfigur Frenhofers als Paradigma einer im frühen 19. Jahrhundert einsetzenden Moderne analysiert wurde, und weil Didi-Huberman und Belting in intellektuellem Austausch stehen, hätte der deutsche Leser von einem anamnetischen Vorwort mit Hinweisen zur bisherigen Rezeption und Stellung zur derzeitigen Körperkonjunktur in den Kultur-, Sozial- und Medienwissenschaften profitiert. [4]

Trotz einiger Übersetzungsprobleme, Inkonsequenzen und Flüchtigkeiten, die das Lesen erschweren, verdankt man dem Übersetzer Michael Wetzel und dem Fink Verlag mit dem Essay "Die leibhaftige Malerei" einen "Verständigungstext", der an Kunstakademien und in kunsthistorischen Seminaren sicherlich diskutiert werden wird. Auch die (angeblich junge) kunsthistorische Inkarnatforschung in Deutschland wird sich jetzt mit der Rezeption leichter tun.

Anmerkungen:

[1] Hubert Damisch, The underneaths of painting, Word & Image 1 (1985), S. 197-209; Autour du chef-d'œuvre inconnu de Balzac, Ecole Nationale Supérieure des Arts Décoratifs, Paris 1985. Jacques Rivettes Film La belle noiseuse, der als späte Frucht gelten kann, hat dem Thema 1991 zu größerer Öffentlichkeit verholfen, den Akzent aber auf die Paarkonstellationen verschoben.

[2] Vgl. auch G. Didi-Huberman im Gespräch mit Jean-Pierre Criqui, "L'histoire de l'art face au symptôme", Art Press 149 (1990), S. 52-55. Für die geisteswissenschaftliche Verwendung des Symptombegriffs hilfreiche Differenzierungen nimmt Marcel Ritter vor: Das Symptom von Freud bis Lacan, in: Jahrbuch für klinische Psychoanalyse 2, hg. v. A. Michels u.a., Tübingen 2000, S. 35-53.

[3] Fra Angelico, München: Wilhelm Fink Verlag, 1995; L'Empreinte, Ausst. Centre Pompidou 1997, dt. 1999 als "Ähnlichkeit und Berührung"; Ouvrir Venus. Nudité, rêve, cruauté, Paris: Gallimard, 1999; Ninfa moderna. Essai sur le drapee tombé, Paris: Gallimard 2002; Rez. zu L'image survivante, Histoire de l'art et temps des phantômes selon Aby Warburg, Paris 2002, von Werner Hofmann, Kunstchronik 12 (2002), S. 590-596.

[4] Hans Belting, Das unsichtbare Meisterwerk. München: C.H. Beck, 1998; Christiane Kruse, Fleisch werden - Fleisch malen: Malerei als "incarnazione". Mediale Verfahren des Bildwerdens im Libro dell'Arte von C. Cennini, Zeitschrift für Kunstgeschichte 63 (2000), S. 305-325.

Christian Vöhringer