Annette Hennigs: Gesellschaft und Mobilität. Unterwegs in der Grafschaft Lippe 1680 bis 1820 (= Sonderveröffentlichungen des Naturwissenschaftlichen und Historischen Vereins für das Land Lippe e. v.; Bd. 66), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2002, 326 S., 5 Abb., ISBN 978-3-89534-456-5, EUR 29,00
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Die Paderborner Dissertation untersucht den "Straßenverkehr" in der frühneuzeitlichen Grafschaft Lippe unter der Leitkategorie der "Mobilität". Dabei hat Hennigs nicht in erster Linie technische Fragen im Sinn; nicht der Unterbau oder der Fahrbahnbelag, und auch nicht die Fahrzeuge auf den lippischen Straßen stehen im Vordergrund, sondern die Menschen, die sich geschäftlich, aus persönlichen Gründen oder gezwungenermaßen unterwegs befanden. Im Einzelnen werden zunächst das Straßen- und Wegenetz in Lippe vorgestellt und die Veränderungen in der Straßenbaupolitik beleuchtet. Es folgt die Untersuchung der Funktionen, die das Wegenetz für die einheimische Bevölkerung besaß. Ein zweiter Fragekomplex dreht sich um die Legalität und Illegalität der Wegebenutzung: Welche Berufsgruppen führten einen mobilen Lebenswandel? Bei welchen wurde die Mobilität unterstützt, bei welchen bekämpft? Daraus folgt die Frage nach der Wahrnehmung von Mobilität durch die Bevölkerung ("Kirchturmhorizont" im Sinne von Hans-Ulrich Wehler oder nicht?, 11) sowie durch die reglementierende Obrigkeit.
Hennigs gliedert ihre Arbeit in drei Hauptteile: "Rahmenbedingungen der Mobilität", "legale Mobilität" und "illegale Mobilität". Abgerundet wird die Studie durch ein Vorschaltkapitel über "landeskundliche Einführung" sowie ein Folgekapitel über "Schnittpunkte", das heißt die Berührungsflächen zwischen Legalität und Illegalität. Quellengrundlage bilden die Regierungsakten der lippischen Landesregierung, die im Staatsarchiv Detmold überliefert sind, sowie die kommunale Überlieferung in den Stadtarchiven Lemgo und Horn sowie einige Kirchenakten im Archiv der Lippischen Landeskirche Detmold.
Unter "Rahmenbedingungen" untersucht Hennigs das vorhandene Straßennetz der 1680er Jahre als Ausgangslage, wobei sie sich auf ein Verkehrskontrollgesetz aus dem Jahre 1681 stützen kann. Eine Pesteppidemie in Oberdeutschland führte zu scharfen Kontrollen gegenüber Migranten, da man Infizierte aus dem Lande fern halten wollte. An 35 Kontrollstellen wurden alle Passanten kontrolliert und mit ihren Daten aufgenommen; die Protokolle sind, mit unterschiedlicher Informationstiefe, bis heute überliefert. Auf dieser Quelle aufbauend untersucht Hennigs die Verkehrswege in ihrer Entwicklung, die "Fluch auspressenden Mordwege" (52), die über lange Jahre des 18. Jahrhunderts die Reisewirklichkeit bestimmten, bis hin zu den neuen befestigten Chausseen, die seit dem späten 18. Jahrhundert geplant und in einigen Fällen auch gebaut wurden. Hennigs betont, dass die Widerständigkeit der Bevölkerung gegen Wegebaudienste eine Modernisierung der Verkehrsverhältnisse lange verzögert habe; als diese Pflichten in Geld abgegolten werden konnten, wuchs die Akzeptanz, und die Landesregierung konnte sogar noch damit argumentieren, dass der Straßenbau mit Lohnarbeitern aus den Unterschichten gleichzeitig ein "Investitionsprogramm" zur Linderung sozialer Not darstellte (81). Es folgen Überlegungen zu Verkehrsregelungen, Verkehrsmittel, Passwesen und Grenzen.
Im Kapitel über die "legale Mobilität" stehen Berufsgruppen im Vordergrund: Die öffentlichen und privatwirtschaftlichen Boten, die Fuhrleute (ebenfalls nach dienstpflichtigen und selbstständigen unterschieden), die Handwerker, die Wanderarbeiter sowie die Wanderhändler, differenziert nach Herkunft (Lippe oder "Ausland") sowie nach sozialer Zugehörigkeit (jüdische Wanderhändler).
"Illegale Mobilität" - dahinter verbirgt sich einer heterogene Gruppe von Reisenden, die aus sozial Ausgestoßenen, entlassenen Söldnern, Bettlern, Betteljuden, Zigeunern und Angehörigen von Räuberbanden bestanden. Ihnen gemeinsam waren - so stellt Hennigs fest (239) -Nichtsesshaftigkeit, Verarmung, Gruppenbildung und in einigen Fällen Gewaltbereitschaft. Familiäre Gruppen kamen ebenso vor wie kleine bewaffnete Einheiten vorwiegend jüngerer Männer. Bettler als ständig Vagierende waren ebenso beobachtbar wie sesshafte Bettler - etwa aus dem benachbarten Paderbornischen oder Ravensbergischen -, die um Gewerbematerialien (Werg, Heede) bettelten (206). Die lippischen Obrigkeiten betrachteten diese Gruppen mit Misstrauen, wiesen ihnen erst den Status der Illegalität zu und versuchten, sie von der Einreise abzuschrecken und beim Aufgreifen exemplarisch zu bestrafen. Da die Grenze zwischen bloßen Bettlern und gewalttätigen Personengruppen fließend war, stellten die Vaganten nicht nur ein Ordnungs-, sondern auch ein Sicherheitsproblem dar. Nur sogenannte "Brandbettler", die nach Zerstörung ihrer Kirche oder gar ihrer ganzen Siedlung in der Umgebung Geld für den Wiederaufbau erbettelten, konnten sich gegebenenfalls auf lippische Lizenzen zum Geldsammeln berufen (204f.). Damit gehören sie eigentlich nicht in den Kontext der "illegalen Mobilität".
Die Reaktion der lippischen Obrigkeit auf ertappte illegale Vaganten war normalerweise hart: Der Abschreckungsgedanke dominierte, und so wurden Familien getrennt, die Eltern entweder ausgewiesen oder ins Zuchthaus verbracht, die Kinder zur "Besserung" ins Waisenhaus eingeliefert (218f.). Hinrichtungen oder andere Leibesstrafen waren allerdings die Ausnahme, solange die Vaganten nicht schwerer Verbrechen überführt werden konnten.
Hennigs schließt ihre Studie mit den "Schnittpunkten", an denen sich Einheimische und Reisende begegneten. Die Wirtshäuser sind bereits in anderen Studien gut erforscht worden, sodass sich Hennigs hier auf den Forschungsstand stützen kann. Für Judenherbergen und Krüppelfuhren gilt dies weniger. Die tradierte Gastfreundschaft sesshafter jüdischer Familien und jüdischer Gemeinden wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert so sehr belastet, dass nicht alle reisenden Juden privat untergebracht werden konnten. Wenn in Detmold 1789 nicht weniger als 940 Juden durchreisten und um Versorgung baten, war dies nur praktikabel, wenn die Mehrzahl von ihnen in der Judenherberge wohnte. Weitere Herbergen für Juden entstanden in den meisten lippischen Städten und Flecken, aber auch in Dörfern wie Wöbbel oder Oerlinghausen (246). Griff die Obrigkeit in das Verkehrsverhalten der Juden nicht stark ein, so war dies bei arbeitsunfähigen Vaganten anders. Hier befürchteten die obrigkeitlichen Stellen, dass die im zeitgenössischen Sprachgebrauch als "Krüppel" bezeichneten Personen im Lande bleiben und in den Genuss öffentlicher oder privater Versorgungsleistungen gelangen wollten. Die Gemeinden konkurrierten insofern miteinander, als jede versuchte, die aufgegriffenen Kranken in die jeweilige Heimatgemeinde (das heißt Herkunftsgemeinde) zurückzuschaffen. Der Transport wurde jedoch nicht abschließend durchgeführt, sondern erfolgte bis zur nächsten Gemeindegrenze, sodass die Kranken dort von einer neuen Obrigkeit aufgegriffen und dann weiter transportiert wurden. Rücksicht auf den Grad der Erkrankung oder Verletzung wurde dabei kaum genommen, sodass Hennigs Berichte anführt, die von ums Leben gekommenen Kranken handeln (248).
Das Verhältnis der lippischen Einwohnerschaft zu den Vaganten war nicht durchgängig von Feindseligkeit geprägt - eher im Gegenteil: Hennigs konstatiert eine verbreitete Neigung, fremden Bettlern zu helfen, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten. Die Hilfe beschränkte sich allerdings auf akute Hungerhilfe: Verderbliche Nahrungsmittel für den Direktverzehr wurden gereicht, wie ein aus Brake stammender Bettler 1794 als Fazit seiner längeren Tour durch Lippe zu Protokoll gab (251), doch der Wunsch nach Getreide wurde abschlägig beschieden. Die potenziellen Geber argwöhnten, das Getreide würde der Bettler anderenorts verkaufen. Spannungsgeladener war das Verhältnis zu den Zigeunern, denen die Bevölkerung pauschal die Neigung zu Diebstahl, Brandstiftung und Gewaltkriminalität unterstellte. In diesem Denken wurde sie von den gültigen obrigkeitlichen Edikten unterstützt, die sogar Straffreiheit für das Töten eines Zigeuners in Aussicht stellten.
Kritisch anzumerken sind zwei terminologische Grundausrichtungen, die Hennigs ihrer Arbeit unterlegt: Die Differenz "Legalität" - "Illegalität" ist eine stark normative Kategorie. Damit macht sich die Verfasserin von vornherein die Perspektive der Obrigkeit zu Eigen, denn viele als "illegal" bezeichnete Migranten dürften sich selbst anders betrachtet haben. Ein anderes terminologisches Problem stellt die Ausrichtung auf "Berufe" als Gliederungskategorie der Migranten dar: Berufsständische Modelle, wie sie für das 19. und frühe 20. Jahrhundert Anwendung finden, lassen sich nur schwer auf die Frühmoderne zurückverlagern. Zu viele Personen haben in ihrer Laufbahn mehrere verschiedene "Berufe" nacheinander ausgeübt, und andere praktizierten unterschiedliche Formen des Broterwerbs gleichzeitig. Während bei Kaufleuten oder Handwerkern eine berufsständische Gliederung infolge der langen Ausbildung und der Bestrebungen zum genossenschaftlichen Schutz des eigenen Tätigkeitsfeldes angemessen ist, gilt dies für einen großen Teil der unterbürgerlichen und unterbäuerlichen Schichten nur mit Einschränkungen, ebenfalls für die "illegalen" Migranten. Juden und Zigeuner, Letztere von Hennigs aus Gründen der politischen Korrektheit stets in Anführungsstrichen gesetzt (vergleiche Begründung, 23), sind ohnehin keine berufsständischen Kategorien.
Ungeachtet der terminologischen Einwände legt Annette Hennigs eine überzeugend konzipierte und gut lesbare Studie vor, im Stile der "Bielefelder Schule" mit der üblichen sozialgeschichtlichen und theoretischen Untermauerung geschrieben: 21 Tabellen und vier Karten runden die Studie empirisch ab, und dem wissenschaftlich wie landeskundlich Interessierten wird ein Orts- und Personenregister an die Hand gegeben. Durch die Einbeziehung von "Schnittpunkten", den Begegnungsstätten verschiedener Gruppen unterwegs sowie dem Blick auf die wechselseitigen Beobachtungen von ständisch Arrivierten und Vagierenden werden Kategorien wie Mobilität und Kommunikation erst recht plastisch gemacht und die Thematik im Sinne moderner Kulturgeschichte geöffnet. Hennigs zeigt, dass Sozialgeschichte und Kulturgeschichte keine Widersprüche zu sein brauchen. Dies hat auch der Naturwissenschaftliche und Historische Verein für das Land Lippe e.V. gewürdigt, indem er die Studie nicht nur in die Reihe seiner Sonderveröffentlichungen aufgenommen, sondern auch mit dem "Otto-Weerth-Preis 2000" ausgezeichnet hat.
Johannes Arndt