Nikolaus Buschmann / Horst Carl (Hgg.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 9), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2001, 320 S., ISBN 978-3-506-74478-4, EUR 41,00
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"Kriegserfahrung" ist das Thema dieses Tagungsbandes, und "Kriegserfahrung" ist die Fragestellung des Tübinger Sonderforschungsbereichs, der die Tagung ausgerichtet hatte. Indem sich alle Beiträge am Erfahrungsbegriff abarbeiten, leisten sie grundlegende Orientierungshilfe, und zwar nicht nur für die Tübinger, sondern letztlich für das ganze Fach, in dem das Wort "Erfahrung" - ungeachtet seiner schon länger beklagten Unbestimmtheit - seit einigen Jahren zu einem beliebten, aber diffusen Passepartout avanciert ist. Dem Anspruch gemäß bewegen sich die Beiträge auf einem ungewöhnlich hohen Reflexionsniveau; kein Aufsatz, der nicht mindestens zu einem Drittel der methodisch-theoretischen Standortbestimmung gewidmet ist.
Drei Beiträge befassen sich ausschließlich mit theoretischen Überlegungen. Die Herausgeber Nikolaus Buschmann und Horst Carl stecken in einem ausführlichen Einleitungsaufsatz den grundsätzlichen Rahmen ab. Als Leitmotiv wird hier bereits eine wissenssoziologische Perspektive vorgegeben, die kollektive Deutungsmuster als konstitutive Bedingung von Erfahrungsprozessen betrachtet. Dieser Ansatz wird am Ende in einem resümierenden Beitrag (Nikolaus Buschmann, Aribert Reimann) aufgegriffen und im Licht der Beiträge natürlich nicht wirklich revidiert, aber durch deren Anregungen und Anfragen erweitert und präzisiert. Jutta Nowosadtko bilanziert ergänzend die traditionsreiche und durchaus vielschichtigere soziologische Debatte. Ihre klug nach Problemzusammenhängen strukturierte Übersicht gibt, tendenziell gegen den Strich des Bandes, auch Positionen Raum, die stärker die Rolle des individuellen Erlebens akzentuieren. In diesem Sinne unterstreicht der Beitrag primär die Vielfalt der Angebote und mahnt die Notwendigkeit von Unterscheidungen und Unterscheidbarkeit an.
Die übrigen neun Beiträge folgen einem konsequent durchgehaltenen Schema. Ausgehend von einem jeweils unterschiedlichen theoretischen Paradigma, werden jedes Mal in knappen, aber meist präzisen und umsichtigen Zügen Ursprünge und Ansprüche der Herangehensweise skizziert. Der Band liest sich deshalb streckenweise wie ein Kompendium neuerer Strömungen deutscher Geschichtswissenschaft und verdient auch in dieser Hinsicht Aufmerksamkeit über den Horizont der Kriegsgeschichte hinaus. Zum Gesamtkonzept des Bandes gehört aber zweitens, dass der theoretische Zugriff jeweils an einem konkreten Thema im Umfeld der Erfahrung und Rezeption von Kriegen eingelöst worden ist. Die Verbindung von Theorie und Empirie erlaubt dem Leser ein Urteil über den Ertrag des jeweiligen Ansatzes. Tatsächlich scheint der gedankliche Aufwand nicht in jedem Fall über trivial Anmutendes hinauszuführen. Das Konzept aber und die Konsequenz, in der sich die Autorinnen und Autoren dieser Aufgabe gestellt haben, gehört zu den besonderen Vorzügen des Bandes. Das jeweilige Thema fungiert dabei allerdings eher als Beispiel, und die chronologische Reihung der Beiträge impliziert daher keine Entwicklungsperspektive.
Ute Planert greift Anregungen der Alltags- und Mentalitätsgeschichte auf und sucht sie durch wissenssoziologische Theorieansätze und eine entsprechend erweiterte Quellengrundlage zu einem Konzept von Erfahrungsgeschichte fortzuentwickeln. Am Beispiel der napoleonischen Epoche entwickelt sie daraus eine Strategie zur Erforschung historischen Wandels, die zwischen unmittelbaren Auswirkungen auf die Subjekte, zeitgenössischen Sinnstiftungen und retrospektiven Verarbeitungen unterscheidet.
Ernst Wolfgang Becker versucht, Zeiterfahrung zu thematisieren, indem er Reinhart Kosellecks Thesen zur Veränderung von Zeiterfahrungen im Zuge der französischen Revolution überprüft. Im Lichte zeitgenössischer Publizistik ergibt sich ein komplexeres, nach politischen Strömungen differenziertes Bild, das neben Zukunftserwartungen die fortschrittsskeptischen und kontinuitätsstiftenden Bewältigungsstrategien stärker betont.
Nikolaus Buschmann operationalisiert den Erfahrungsbegriff in einem kommunikations- und mediengeschichtlichen Kontext, indem er der Genese der Kriegsberichterstattung im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts nachgeht. In einem durchaus kontroversen und selbstreflexiven Prozess wurde Krieg dadurch in die Vorstellungswelt der Öffentlichkeit integriert.
Christian Rak nimmt von der Alltagsgeschichte seinen Ausgang, um die Kriegserfahrungen der als Seelsorger und Pfleger tätigen Jesuiten im deutsch-französischen Krieg 1870/71 zu beleuchten. Als erfahrungsgeschichtliche Erweiterung begreift er dabei den Vergleich zeitlich naher Zeugnisse mit späteren Berichten, deren kontextgebundene Akzentverschiebungen den konstruktiven Charakter der scheinbar unmittelbaren Wahrnehmung von Wirklichkeit entlarven sollen.
Frank Becker präpariert gestochen scharf den überaus voraussetzungsvollen Erfahrungsbegriff heraus, den Niklas Luhmann in seiner Systemtheorie verwendet hat. Mit diesem Instrument vermag er zu rekonstruieren, wie sich aus konkurrierenden Deutungen des Freischärlerkriegs 1870/71, die ihrerseits auf ältere Deutungsmuster zurückgriffen, jenes Muster behauptete, das am ehesten geeignet war, als Kontrastfolie die Organisationsstruktur der preußisch-deutschen Armee zu legitimieren.
Aribert Reimann bedient sich diskurs- und sprachanalytischer Herangehensweisen, um Soldatenbriefe aus dem Ersten Weltkrieg nicht nach ihrer vermeintlichen Authentizität, sondern erst eigentlich nach der sprachlichen Herstellung von Erfahrung zu befragen. Einerseits untersucht er, wie auch in der Verarbeitung unerwarteter Situationen - des Weihnachtsfriedens 1914 - vorgängige Deutungsmuster aktiviert wurden, andererseits arbeitet er heraus, wie die Kriegsteilnehmer selbst ein Konzept von Erfahrung als "gesellschaftliches Exklusiv-Wissen" entwickelten.
Ralph Winkle plädiert für eine Einbeziehung der Sachkultur. Am Beispiel militärischer Orden entwirft er das Programm einer symbolgeschichtlichen Interpretation, die Ehrenzeichen als nonverbalen Ausdruck kultureller Praxis und Objektivationen militärischer Strukturen begreift.
Sabine Kienitz lotet methodische Zugänge zur erfahrungsgeschichtlichen Bedeutung des kriegsinvaliden Körpers aus, die die Aspekte der Diskursivität und der Materialität zu verbinden vermögen. Beispiele aus politischen und medizinischen Umgangsformen mit Invaliden nach 1918 interpretiert sie als symbolische Praktiken, deren Zeichenhaftigkeit dem Körper eben nicht nur als Medium anhaftete, sondern in ihm auch als physische Verkörperung zum Ausdruck kam.
Christine Beil knüpft an Konzepte von Erinnerungskultur an, um Ausstellungen über das Schicksal Kriegsgefangener in der Adenauerzeit nicht nur als Gedächtnisorte, sondern als Erfahrungsorte zu analysieren. Sie arbeitet die Kombinationsmöglichkeiten vorgelagerter Sinnmuster, inszenierter Realitäten und der Sinnbedürfnisse der Nachkriegsgesellschaft heraus und akzentuiert insbesondere die integrative Wirkung der Opferikonographie.
Trotz der unterschiedlichen Ansätze bewegen sich also alle Beiträge, gemäß den Vorgaben, in einem Rahmen, der Erfahrung als diskursiv erzeugte, mithin prozesshafte, symbolisch vergegenwärtigte, gesellschaftlich verbürgte Sinnstrukturen versteht. Meistzitierte Autor(ität)en sind Peter Berger, Thomas Luckmann und Reinhart Koselleck. Meistkritisierte Forschungsstrategie ist die vermeintliche Hoffnung, auf Grund von Ego-Dokumenten, vor allem Soldatenbriefen, scheinbar authentische Zugänge zu scheinbar authentischen Realitäten gewinnen zu wollen. Damit grenzen die Autorinnen und Autoren ihre Auffassungen zugleich gegen ein alltagssprachliches Verständnis ab, das eine subjektive Aneignung objektiver Wirklichkeit im Modus unmittelbaren Erlebens unterstellt.
Weniger deutlich fällt die Klärung des Erfahrungsbegriffs im Kontext der vorgeführten Kategorienvielfalt aus. Die Strategie der Herausgeber ist an sich plausibel, nämlich Erfahrung als spezifischen, Vergangenes integrierenden Modus der Konstruktion von Wirklichkeit zu begreifen, um davon ausgehend unterschiedliche theoretisch begründete Zugriffsweisen erproben zu lassen. Je mehr aber Erfahrung dann wiederum nur als bloße Chiffre für verschiedene Modelle von Wahrnehmung, Deutung, symbolischer Repräsentation, kultureller Praxis oder Wirklichkeit erscheint, besteht die Gefahr, dass sich der Begriff auf höherem Niveau erneut in Beliebigkeit verflüchtigt.
Michael Sikora