Rezension über:

Anne-Julia Zwierlein: Majestick Milton. British Imperial Expansion and Transformations of Paradise Lost, 1667-1837 (= Studien zur englischen Literatur; Bd. 13), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2001, 512 S., ISBN 978-3-8258-5432-4, EUR 65,90
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Rezension von:
Stefan W. Römmelt
München
Redaktionelle Betreuung:
Gudrun Gersmann
Empfohlene Zitierweise:
Stefan W. Römmelt: Rezension von: Anne-Julia Zwierlein: Majestick Milton. British Imperial Expansion and Transformations of Paradise Lost, 1667-1837, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2001, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 7/8 [15.07.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/07/3337.html


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Anne-Julia Zwierlein: Majestick Milton

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Das Epos "Paradise Lost" des englischen Dichters und Politikers John Milton (1608-1674), dessen erste Fassung 1667 publiziert wurde, zählt seit dem 18. Jahrhundert zu den kanonischen Texten der englischen Literatur. Milton erzählt dort in Blankversen die Geschichte vom Aufstand Satans gegen Gott und Adam und Eva im Paradies, um das Verhalten Gottes gegenüber den Menschen zu rechtfertigen. Nur Shakespeares Wirkung lässt sich mit dem Nachleben des aus zwölf Büchern bestehenden "Paradise Lost" vergleichen, dessen Strahlkraft auch in der Gegenwart kaum an Intensität verloren hat.

Die Dissertation, die Anne-Julia Zwierlein 2000 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster vorlegte, geht der Frage nach, wie Milton im Laufe des langen 18. Jahrhunderts zum englischen Nationaldichter und Poeten des Empire aufstieg und instrumentalisiert wurde: "It investigates how the British understood and talked about the empire they had created, how their understanding changed, and how Milton's writings served as a language with which to express imperial as well as anti-imperial positions" (6). Die Arbeit konzentriert sich auf die für die Folgezeit bedeutsame Whig-Interpretation Miltons im Sinne des weltlichen Fortschritts und verzichtet auf eine Analyse der Milton-Deutung durch religiöse Gruppen wie die Nonkonformisten und Evangelikalen oder die radikalen Republikaner. Ihr Anliegen besteht darin, die Wolke zu lüften, die sich um Miltons Werk gelegt hat.

In der Einleitung skizziert Zwierlein im Anschluss an das Verhältnis zwischen Miltons "Paradise lost" und dem britischen Empire den Vorgang der Säkularisierung des religiösen Epos, geht kurz auf das erste und zweite britische Empire ein und thematisiert die Rolle der Staatskunst in Miltons Werk. Weitere Aspekte wie der "Whig Milton", die Rezeption Miltons durch die "Imperial Nation", der Einfluss Miltons auf Schriftsteller der "zweiten Reihe" und die Diskurse des 18. Jahrhunderts schließen sich an.

Der erste Hauptteil geht der Instrumentalisierung Miltons in der britischen Nationalepik des 18. Jahrhunderts, dem englischsprachigen (post)kolonialen Amerika und Indien, nach. Beschäftigt man sich mit der Rezeption Miltons im Kontext der postkolonialen Debatte, so liegt die Frage nach der Haltung des Autors zum Kolonialismus nahe. In seiner Eigenschaft als "Foreign Language Secretary" Oliver Cromwells (1599-1658) war Milton mit auswärtigen Angelegenheiten befasst, und seine Werken bezeugen ein intensives Studium der geografischen Literatur. Doch Miltons Haltung entzieht sich einer eindeutigen Festlegung: Einerseits betonte er die natürliche Freiheit des Menschen, andererseits hielt er im Kontext des imperialen Diskurses an der Notwendigkeit einer auch gewaltsamen Zivilisierung barbarischer Nationen wie der Iren fest. Zwierlein hebt den transzendenten Charakter der Epen Miltons hervor und verweist nachdrücklich auf deren Empire-kritische, von Nationalismus freie Färbung.

Doch wie vollzog sich Miltons Transformation vom religiösen Dichter zum Vorbild des Preisens britischer Weltherrschaft? Milton selbst hatte in seinem Werk die weltlichen Herrschaftsgefüge und Autoritäten infrage gestellt - nach Zwierlein sprechen sich "Paradise Lost" und "Paradise Regained" für geistliche und nicht für weltliche Eroberungen aus. Der Prozess der Säkularisierung Miltons begann mit dem Scheitern des puritanischen Experiments und der Restauration der Stuart-Monarchie. Milton erfuhr in diesem Kontext eine Verwandlung zum "imperial poet". Im 18. Jahrhundert bemächtigten sich die Whigs Miltons und holten dessen Werk vom Himmel auf die Erde, indem sie die geistliche Allegorie auf die britische Kolonialherrschaft übertrugen. Dies bewirkte nicht nur eine Verunklarung der theologischen Botschaft Miltons, sondern auch die Entschärfung von dessen anti-imperialistischen Potenzial. Zwierlein konstatiert nüchtern: "There was always a very simple strategy of coming to terms with Milton´s reservations about human empire: to ignore them" (60). Zahlreiche zweitrangige Dichter "miltonisierten", um eine englische Aeneis zu verfassen. Die Mehrheit der Autoren des 18. Jahrhunderts griff auf Miltons Epos zurück, und konstruierte so eine Gründungslegende für das sich formierende britische Empire. Die Texte, die Zwierlein in diesem Zusammenhang untersucht, stammen allerdings mehrheitlich nicht aus dem 18. Jahrhundert, sondern wurden 1801 beziehungsweise 1818 publiziert, sodass man fragen könnte, ob nicht die Auswahl anderer Beispiele sinnvoll gewesen wäre. Miltons Ablehnung der säkularen Großreiche konnten auch die "Relektüren" des 18. Jahrhunderts nicht ganz unterdrücken. Ein bemerkenswertes Zeugnis der kritischen Auseinandersetzung mit der Transformation Miltons liefert William Blake (1757-1827), der im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen die apokalyptische Dimension Miltons hervorhob.

Der Verlust der amerikanischen Revolution schlug sich erst mit einiger zeitlichen Verzögerung in der Literatur des Mutterlandes nieder. Das britische Modell verlor dennoch nicht seine Vorbildfunktion - die postkoloniale Epik übernahm die Gründungslegende und übertrug sie auf ihre soeben unabhängig gewordene Nation. Nach dem Verlust des ersten Empire wandte sich das britische Interesse nach Indien, wo die East India Company seit den 1740er Jahren zusehends an Einfluss gewonnen hatte und über das von den Mogulkaisern 1765 gewährte Recht der Steuereinziehung faktisch die Macht besaß. Miltons Werk diente der poetischen Bewältigung der britischen Kolonialherrschaft - diesmal zur Inszenierung eines apokalyptischen Szenarios, das die Rache der indischen Götter an den britischen Besatzern beschrieb.

"Translating Empire: Milton in Eighteenth-Century Discourses", der zweite Hauptteil, untersucht in fünf Kapiteln die Transformation Miltons in verschiedenen Diskursen des 18. Jahrhunderts und greift hier auf J.G.A. Pococks Konzept der "political languages" zurück. Zwierlein konzentriert sich auf den Diskurs über Miltons "prä-historische" Sprache, dessen Einfluss auf die Beschreibung von Reisen, die Rezeption des "Paradise Lost" in der Darstellung von Merkantilismus und Landwirtschaft, Miltons Rolle im Handelsweltreich und das Verhältnis der Anti-Slavery-Movement zu Milton.

Miltons archaisierender und von Latinismen geprägter Stil provozierte gegensätzliche Reaktionen und löste eine Debatte über dessen "Englishness" aus. Dennoch fand sein Werk Eingang in den literarischen Kanon, ein durchaus gewaltsamer Vorgang: Während christliche Universalität das "Paradise Lost" bestimmt, vereinnahmte die Whig-Lesart Milton im patriotischen Sinne als Nationalautor.

Einen vergleichbaren Umdeutungsmechanismus arbeitet Zwierlein im Kapitel über das Reisen heraus: "(...) Milton´s symbolic universe and his knowledge skepticism are swept aside by the possessive vision of the scientific traveller" (199). Die transzendenten Bezüge des "Paradise Lost" wurden zu Gunsten Miltons geografischen Exkursen ausgeblendet, sodass das Epos eine Transformation im Sinne eines "Reiseführers" erfuhr. Die Berg-Visionen des Dichters dienten nun als Versatzstücke einer Beschreibung der britischen Herrschaft über unendlich große Räume und wurden so gleichermaßen "überschrieben". Dies führte sogar dazu, dass Schriftsteller des 18. Jahrhunderts eine Eroberung des Weltalls in Erwägung zogen, obschon Milton selbst in seinem Werk deutliche Vorbehalte gegenüber astronomischen Untersuchungen geäußert hatte.

Die Entwicklung Großbritanniens zur Handelsnation bewirkte auch eine veränderte Wahrnehmung der britischen Landschaft. Miltons Paradies diente als Projektionsfläche der konservativen "Country party", deren Anhänger fernab der Stadt ihr eigenes Paradies erschaffen wollten, das einem kleinen Empire von Landsitzen glich, deren Unterhalt die Arbeit der Pächter sicherte. So würdigten miltonisierende Gedichte die gängige Praxis der "Enclosures", das heißt der Aneignung von Gemeindeland durch die Großgrundbesitzer. Zugleich griffen die patriotischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts auf Miltons Paradiesschilderung zurück, um England allegorisch zu verherrlichen. Die Spannung zwischen dem selbstgenügsamen Gartenidyll England und den Anforderungen des Empire blieb aber dennoch spürbar. Eine "Überschreibung" erfuhr auch Miltons Paradies, das zunehmend als Zentrum einer "commodity culture" (404) interpretiert wurde. Parallel dazu wurde auch das von Milton abgelehnte "Empire-Building" Satans positiv gewertet und im 19. Jahrhundert als positive Allegorie der kapitalistischen Industrie aufgefasst.

Die Ausführungen über den Sklavenhandel lenken das Augenmerk auf die Instrumentalisierung Miltons durch die Anhänger wie auch durch die Gegner des Sklavenhandels, die das Konzept von einer langsam zunehmenden Freiheit für ihr Anliegen vereinnahmten, ohne sich von der konstitutionellen Monarchie und der Expansion des Empire zu distanzieren. Die Abschaffung der Sklaverei bedeutete keineswegs ein Ende des Kolonialreiches, vielmehr sollte hierdurch dessen Erhalt gesichert werden.

Die Ergebnisse der Arbeit fasst das Kapitel "Conclusions" prägnant zusammen. Ein "Postcolonial Epilogue" geht der Rezeption des "Paradise Lost" in der amerikanischen Literatur der Gegenwart nach. Eine umfangreiche Bibliografie und ein detaillierter Index beschließen das Werk.

Zwierleins Monografie besticht durch die Fülle der verarbeiteten Quellen und die Originalität der Fragestellungen. Deutlich wird die subversive Kraft des Epos, das den Mythos von der "Translatio Imperii" infrage stellt. Nicht Miltons Werk, sondern dessen "Überschreibungen", die im Laufe des 18. Jahrhunderts erfolgten, wurden zum literarischen Gemeingut. Die postkoloniale Debatte, die sich am angeblich "imperialen" Autor Milton entzündet hat, greift so nicht den Dichter selbst, sondern dessen Zerrbilder an. Die Aufforderung Zwierleins, das Paradies ohne die Transformationen des 18. Jahrhunderts neu zu imaginieren, erscheint so durchaus berechtigt.

Stefan W. Römmelt