Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2002, X + 514 S., ISBN 978-3-7873-1597-0, EUR 58,00
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In seiner 1935 erschienenen Studie "La crise de la conscience européenne", einem Klassiker der westlichen Geschichtsschreibung, hat der französische Literatur- und Ideenhistoriker Paul Hazard die Jahre von 1680 bis 1715 als Phase einer grundlegenden Neuorientierung der geistigen Grundlagen Europas und damit letztlich als Anbruch der westlichen Moderne charakterisiert. Während diese These in der französischen und angelsächsischen Forschung lebhaft diskutiert und zum Teil auch scharf angegriffen wurde [1], ist sie in der deutschen Geschichtswissenschaft weitgehend unbeachtet geblieben. Ursächlich dafür sind vermutlich das Festhalten an den traditionellen politischen Zäsuren von 1648 und 1789/1806, die ein lineares und in sich kohärentes 'Zeitalter des Absolutismus' suggerieren, sowie der Primat der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in den 1960er- bis 1980er-Jahren, der eine allein auf ideengeschichtlichen Befunden basierende Studie nicht ernst zu nehmen vermochte. Erst im Zuge von Kultur- und 'Neuer Ideengeschichte' wird die Zeit um 1700 nun seit kurzem auch in der deutschen Frühneuzeitforschung verstärkt als Einschnitt und Umbruchzeit wahrgenommen, wobei die Geschichtswissenschaft bisher freilich eher unauffällig im interdisziplinären Peloton mitfährt, während die Etappen von den Philologien und der Philosophiegeschichte gewonnen werden. [2]
Der Münchner Privatdozent Martin Mulsow knüpft in seiner philosophiehistorischen Habilitationsschrift von 1999 direkt an Hazards Studie an. Allerdings wählt er nicht die weithin strahlenden Leuchttürme der deutschen Frühaufklärung wie Pufendorf, Tschirnhaus oder Thomasius zum Gegenstand seiner Untersuchung, sondern sein Augenmerk gilt dem Werden der Moderne aus dem Untergrund, also aus der klandestinen Literatur, um deren Erschließung sich bislang vor allem die französische und italienische sowie die angelsächsische Forschung verdient gemacht haben. In Deutschland dagegen harren diese Schriften, obgleich sie ebenso zahlreich in Umlauf waren wie in den übrigen europäischen Ländern, noch gänzlich der wissenschaftlichen Entdeckung.
Die begriffliche und inhaltliche Bestimmung dieser heterodoxen "Untergrundkultur" (3) stößt jedoch auf erhebliche Probleme, denen die umfängliche Einleitung gewidmet ist. Dies beginnt bei der Begrifflichkeit: Mulsow entscheidet sich für die heuristische Kategorie der "Radikalität", obgleich er sich bewusst ist, dass das Attribut "radikal" ebenso wie das Links-Rechts-Schema der politischen Semantik des 19. Jahrhunderts verpflichtet ist. Ähnliches gelte jedoch auch für das alternative Konzept der "Freidenker" und letztlich auch für den Begriff "Frühaufklärung", der zudem einer "inhärenten Finalisierung auf das spätere 18. Jahrhundert" ausgesetzt sei (7). Dem ist ebenso beizupflichten wie grundsätzlich auch Mulsows impliziter Auffassung, dass diese Begriffe aus Gründen der Wahrnehmung und Einordnung des Gegenstandes unverzichtbar seien. Dennoch bleibt die Begriffskritik aus Sicht des Rezensenten unvollständig, wenn sie nicht auch die möglichen heuristischen Konsequenzen ihrer Wahl mitreflektiert und der immerhin prominent im Banner geführte Begriff der Moderne gar nicht problematisiert, sondern bereits im Vorwort als nicht näher bestimmbar klassifiziert und somit ad acta gelegt wird (X).
Methodisch verfolgt Mulsow als Philosphiehistoriker primär einen ideengeschichtlichen Ansatz, geht dabei allerdings weit über die reine Textgeschichte hinaus, indem er diese um sozialgeschichtlich-prosopographische Untersuchungen und "Netzwerkanalyen" des gelehrten Milieus zu einer "philosophischen Mikrohistorie" (27) zu erweitern sucht, wobei er sich unter anderem an Vorarbeiten angelsächsischer Historiker wie Robert Darnton und vor allem Margaret C. Jacob orientiert, deren Buch "The Radical Enlightenment" (1981) "in mancher Hinsicht [...] mit dem vorgelegten Versuch vergleichbar" sei (11). Die Ermittlung von Autoren stößt aber natürlich gerade bei klandestiner Literatur auf besondere Schwierigkeiten, gehörte doch das Verbergen der Identität konstitutiv zum Untergrundmilieu dazu. Deshalb gilt die Aufmerksamkeit des Buches darüber hinaus auch den Strukturen gelehrter Kommunikation, also Sprache, Medien und Streitformen, sowie ganz allgemein dem gelehrten "Habitus" und den dazugehörigen "Karriereformen" (29f.). "Dabei war die Idee leitend, radikale und moderate Aufklärung nicht als zwei inkommensurable Größen zu behandeln, sondern in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und vielfältigen Verwobenheit sichtbar zu machen" (309), wie sie zum Beispiel in Halle als dem zentralen Ort der deutschen Frühaufklärung zum Tragen kam.
Zentrales Kriterium der Untersuchung aber bleibt das Phänomen der Radikalität: Es geht Mulsow nicht um eine Mikrohistorie im lokalgeschichtlichen Sinn, auch wenn Halle eine gewichtige Rolle spielt, sondern um eine mikroskopische Betrachtung und 'dichte Beschreibung' bestimmter Themen- und Diskursfelder und ihrer Rezeption, wobei Radikalität, um hier einige Ergebnisse vorwegzunehmen, zwar zunächst oft eine Zuschreibung seitens der Orthodoxie war, aber auch durch Methode (selbstständige, philologisch-kritisch basierte eklektische Auswahl), Inhalte (Idolatriekritik, Antitrinitarismus und Antiplatonismus, jüdische und sozianische Einflüsse) und Duktus (Ironie, Spott, ambivalente Rede) bestimmt wird. Dazu kommt oft eine "Situationshilfe" (440), etwa die Opponentenrolle in einer akademischen Disputation.
Dem heuristisch-methodischen Ansatz ist auch die Auswahl des Quellenkorpus geschuldet, die sich an Autoren, an zentralen Themen wie der "Destruktion des christlichen Platonismus" (Kapitel VI) und schließlich an den Debatten selbst, ihrer Dynamik und der wechselseitigen Wahrnehmung ihrer Akteure orientiert. Trotz dieser vielfältigen Zugangsweise ergibt sich allerdings keineswegs ein dichtes Untergrundmilieu; Mulsow spricht lieber von einer "fragmentierten Radikalaufklärung" (34), die sich aus losen personell-thematischen Netzwerken konstituiert, wobei allerdings hier und da eine eigenständige 'radikale' Soziabilität in Form von Sodalitäten und Freundeskreisen zum Tragen kommt. Personell richtet sich die Untersuchung einerseits auf etablierte Mitglieder der Universität Halle - den liberalen Thomasius-Schüler Nikolaus Hieronymus Gundling, Professor für Philosophie und (später) Jurisprudenz, seinen Gegenspieler Johann Franz Budde und den Theologen Johann Lorenz Mosheim -, andererseits auf die nur zum Teil im akademischen Milieu reüssierenden Träger der philosophischen Radikalisierung wie Friedrich Wilhelm Bierlin, Peter Friedrich Arpe, Johann Friedrich Kayser, Jakob Friedrich Ludovici, Johann Christian Behmer und Theodor Ludwig Lau. Dieser Personenkreis wird ergänzt durch Angehörige einer älteren Generation wie Daniel Clasen, Georg Calixt, Hermann Conring, Daniel Georg Morhof und Johann Balthasar Schupp, die als Anreger der fast durchweg in den 1670er- und 1680er-Jahren geborenen Genannten gelten können, sowie durch Vertreter der Orthodoxie, in deren Angriffen sich das 'radikale' Spektrum spiegelt und durch die es zum Teil erst Kohärenz gewinnt. Eine bedeutende Rolle spielt zudem das - von der Geschichtswissenschaft bisher noch weitgehend unentdeckte - französisch-niederländische Emigrantenmilieu, das teilweise abseits der gelehrten Zentren eine beachtliche publizistische Aktivität entwickelte.
Inhaltlich gliedert Mulsow seinen Stoff in sieben (mit der Einleitung acht) Kapitel, die nicht im strengen Sinn chronologisch aufeinander folgen - im Gegenteil greift das letzte Kapitel zeitlich am weitesten zurück -, sondern jeweils bestimmte "Themenbündel" aufschließen. So schildert das zweite Kapitel die Rezeption eines unter dem Namen Judaeus Lusitanus veröffentlichten antichristlichen Manuskriptes, das durch den calvinistischen Theologen Isaac Jaquelot aus Amsterdam, einem der Zentren heterodox-radikaler Publizistik, an den Berliner Hofbibliothekar Mathurin Veyssière La Croze (1661-1739) gelangte. Dieser verbreitete es wiederum weiter, unter anderem an den Sozinianer Samuel Crell (1660-1747), der seinerseits Kontakte nach England pflegte und dessen Rezeption englischer antitrinitarischer Theorien im Zentrum von Kapitel III steht. Kapitel IV verfolgt dann den Weg einer weiteren Schrift, "De tribus imposteribus" von 1688, bei der es sich um die Fälschung eines vermeintlich älteren Textes durch den jungen Kieler Professor Johann Joachim Müller (1661-1733) handelte.
Diesen verschlungenen Wegen unter sachkundiger Führung zu folgen, mit den teilweise unkonventionellen oder ins Ironische gewendeten Argumentationsgängen vertraut gemacht zu werden, liest sich streckenweise geradezu kurzweilig und hält gleichsam am Wegesrand eine schiere Menge an Einzelerkenntnissen philologischer Art bereit. Überhaupt ist Mulsows Beherrschung des disparaten Stoffes stets souverän, seine Auseinandersetzung mit den philosophischen Texten selbst von bisweilen stupender Gelehrsamkeit, was sich allein schon in den umfangreichen und mit Zitaten gespickten Anmerkungen bemerkbar macht, während die Abbildungen zur Textüberlieferung eine Ahnung von den Mühen der Lektüre vermitteln. Wahrhaft spannend wird die Arbeit aber für den überwiegend geschichtswissenschaftlich interessierten Leser in Kapitel V, das Mulsow selbst als "das umfangreichste Stück dieser Arbeit" bezeichnet (38), und in dem er sich dem weiten Feld der "Politischen Theologie" zuwendet, deren Auseinandersetzung mit der politischen Funktionalisierung von Religion er als Exempel "reflexiver Modernisierung in der Frühen Neuzeit" (257) begreift. Der Beschäftigung mit Heidentum und Aberglaubenskritik schreibt Mulsow säkularisierende "Umklappeffekte" (256) zu, denen grundsätzlich ein Potenzial von Modernität innewohne, indem dort Themenstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts vorweggenommen würden. Auch die Kontinuität von akademischer und klandestiner Philosophie wird hier am deutlichsten, zum Beispiel in dem zur Radikalisierung beitragenden "Antihumanismus".
Antihumanistische Impulse wirkten auch bei der Destruktion des christlichen Platonismus und der damit verwandten Denkfigur der "Philsosophia perennis", der sich das sechste Kapitel zuwendet. Die "Ablehnung des Platonismus als Quelle der Enthusiasten und 'Pietisten'" (262) speiste sich aus verschiedenen Quellen, seinen deutlichsten Befürworter fand aber der Skeptizismus in dem halleschen Universitätsprofessor und Thomasius-Schüler Gundling (1671-1729), dessen Auseinandersetzung mit seinem Kollegen Budde (1667-1729) über die Ursprünge der Philosophie das siebte Kapitel gewidmet ist. Was hier als Gegenstand der Philosophiegeschichte eben noch erlaubt war und von Mulsow als Auseinandersetzung zwischen "liberaler" und "konservativer" Aufklärung eingestuft wird, nämlich die Abkehr von der fundamentalen göttlichen Begründung der Philosophie, führte auf dem Feld der Dogmatik schnell zum religiösen Indifferentismus und damit zur Überschreitung eines Denkverbotes. Die Spuren dieses Indifferentismus und seinen Zusammenhang mit der Theorie der Eklektik verfolgt schließlich das letzte Kapitel am Beispiel eines von der Hamburger Orthodoxie scharf angegriffen Textes von Johann Balthasar Schupp (1610-1661) aus dem Jahre 1652 und seiner Rezeption bis zur Radikalaufklärung der 1740er-Jahre und Lessing.
Die genaue Analyse der Texte und ihrer Rezeption, die getreu den Vorgaben der Mikrogeschichte und der von dieser eingesetzten Methode der 'dichten Beschreibung' durchgehend "in den Verlauf der 'Erzählung' eingebunden" (38) ist, fördert eine Fülle von Einzelerkenntnissen und Themenkomplexen zu Tage, die von unmittelbarem geschichtswissenschaftlichen Interesse sind, beispielsweise die Widerstandsproblematik bei Schupp (380ff.). In der Zusammenfassung weist Mulsow zudem an verschiedenen Themen noch einmal auf die Verbindung zwischen radikalem beziehungsweise klandestinem Diskurs und frühaufklärerischem Denken hin. Gleichwohl ist das Fehlen einer übergreifenden Synthese zu bedauern, die den Beitrag des "Untergrundes" zur Moderne systematisch aufzeigen und einordnen würde. Im Lichte einer kumulativen Analyse bleibt dieser Beitrag jedenfalls eher beiläufig und mittelbar beziehungsweise kann jeweils nur partikularen Strömungen zugeordnet werden. So ist zu hoffen, dass der angekündigte Nachfolgeband, der nach vorausgegangenen Einzelstudien beziehungsweise Sammelbänden zu Mosheim, Reimann und La Croze die Beschäftigung des Autors mit dem Thema komplettieren soll, dies nicht nur in additiver, sondern auch in systematischer Hinsicht leistet und nach dem durchgängigen inhärenten Anteil radikaler und klandestiner Konzepte an der Entstehung der Moderne fragt. Inwieweit genau diese aus dem Untergrund entstand, wird also noch weiter zu verfolgen sein; dass der Beginn des 'Projekts der Moderne' in den von Mulsow in der Vielfalt ihrer gegenseitigen Bezüglichkeiten präsentierten Konstellationen des Denkens um 1700 und nicht erst um 1800 zu suchen ist, ist schon jetzt in überzeugender und eindrucksvoller Weise deutlich geworden. [3]
Anmerkungen:
[1] Margaret C. Jacob: Hazard revisited, in: P. Mack / Margaret C. Jacob (Hg.): Politics and Culture in Early Modern Europe, Cambridge 1987, 251-271.
[2] Vergleiche Richard van Dülmen / Sina Rauschenbach (Hg.): Denkwelten um 1700. Zehn intellektuelle Profile, Frankfurt am Main 2002. Im Dezember 2000 fand in Wolfenbüttel ein Arbeitsgespräch zur "kulturelle(n) Orientierung um 1700" statt, dessen Beiträge Ende 2003 in der Reihe "Frühe Neuzeit" im Max-Niemeyer-Verlag Tübingen erscheinen werden. Zu den einzelnen Referaten vergleiche einstweilen den Tagungsbericht in den Wolfenbütteler Bibliotheksnachrichten 2000, Nr. 3-4, 74-76.
[3] Vergleiche dazu auch Jonathan I. Israel: The Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity, 1650-1750, Oxford 2001.
Markus Meumann