Christel Meier / Volker Honemann / Hagen Keller / Rudolf Suntrup (Hgg.): Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur. Akten des Internationalen Kolloquiums Münster 26.-29. Mai 1999 (= Münstersche Mittelalter-Schriften; Bd. 79), München: Wilhelm Fink 2002, XIX + 407 S., 31 Abb., ISBN 978-3-7705-3778-5, EUR 60,00
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Zum vierten und letzten Mal hat der Münsteraner SFB 231 "Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter" zu einem Kolloquium geladen, um Ergebnisse vorzustellen und zu diskutieren, und auch diesmal ist aus den Beiträgen von Projektteilnehmern und Gästen ein gehaltvoller und anregender Sammelband geworden. Wie bei den drei Vorgängerbänden [1] sind sowohl Gegenstände als auch Forschungsansätze beeindruckend vielfältig und weit gespannt, was dem anspruchsvoll breit abgesteckten Gesamtziel zu verdanken ist: 'Pragmatische Schriftlichkeit' ist kein typologischer Begriff, der etwa das im engen Sinne 'nützliche' Schriftgut vom gelehrten und literarischen Schrifttum absetzen wollte, sondern zielt auf die Beziehung zwischen Schriftlichkeit als kultureller Technik einerseits und den Handlungs- und Benutzungskontexten, in die sie eingebunden ist, andererseits. Gerade auch mit Blick auf den besonderen Charakter mittelalterlicher Mündlichkeit erweitert er so den Bezugsrahmen auf die handlungsleitenden, normensetzenden und gemeinschaftsbildenden Aspekte diverser Formen der Schriftverwendung: Es gibt keine 'nicht-pragmatische Schriftlichkeit'. Obgleich sich also grundsätzlich alle Spielarten mittelalterlicher Schriftlichkeit für eine solche Neudeutung eignen, stehen auch hier wieder solche Problemkomplexe im Vordergrund, die sich besonders anbieten.
Auf die Probleme mittelalterlicher Historiographie etwa beziehen sich drei Beiträge: Zunächst nähert sich Johannes Fried dem Problem der Überlieferung, indem er die Aussagekraft erinnerten Wissens problematisiert (23-62). An ausführlichen Beispielen aus dem Bereich der Zeugen bei Gerichtsverhandlungen, des familiär-genealogischen Gedächtnisses und der episch-historischen, quasi kollektiven Erinnerung plädiert er dafür, eine "Erinnerungskritik" (24) als anthropologischen Bestandteil mediävistischer Quellenkritik fest zu verankern. Das Ergebnis ähnelt dem Lieblingstopos aller mittelalterlichen Arengenschreiber und Chronisten, hier umgemünzt zum konservativen methodischen Credo: Nur die Schrift, nicht das unzuverlässige und allzu wankelmütige menschliche Gedächtnis, sichert Wahrheit und garantiert Gültigkeit. Nach seiner impliziten Prämisse, die ganz positivistisch die Gewinnung von faktisch korrekten Informationen über historische Ereignisse als Ziel setzt, kann man nicht umhin, Fried in seiner durchweg negativen Bewertung der Mündlichkeit zu folgen; nur gerät hier zum Endpunkt, was eigentlich Ausgangspunkt sein sollte: Gerade das Paradigma der 'Pragmatik' stellt Instrumente zur Verfügung, intentionale wie unbewusste Verformung von Überlieferungen im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit als historische Informationen zu lesen.
Eben dies zeigt Gerd Althoff, indem er seine Analyse der Argumentationsstruktur historiographischer Texte (63-76) gerade auf die "unzuverlässigen Geschichten" (65) zuspitzt. Er kann zeigen, dass der ausgeprägt anekdotische Charakter vieler Passagen zwar einerseits deutliches Zeichen mündlich geformter Geschichtserzählung ist, bei genauerem Hinsehen aber symbolisch kodierte Argumente der Anklage und Rechtfertigung transportiert. Wo der "Untersuchungsrichter Fried" also die historischen Zeugen in zermürbendem Verhör in Widersprüche verwickelt, bringt der "verständnisvolle Gesprächspartner" Althoff sie - in bewährter Weise - zum Reden, indem er sich auf ihre Denkweise einlässt.
Peter Johanek schließlich verortet die schriftliche Geschichtsdarstellung im Kontext von und im Konflikt mit symbolischen Medien der Geschichtsvermittlung (339-358). Seine Verallgemeinerung einzelner Projektbeiträge zielt auf eine Neubewertung der spätmittelalterlichen Universalchronistik, die gerade in ihrem ermüdenden Formalismus einen festen chronologischen Bezugsrahmen etabliert und sich dadurch bewusst von den reinen Erinnerungsmedien absetzt.
Die pragmatische Dimension verwaltender Schriftlichkeit wird hier zweifach in den Blick genommen, einmal als Regelung kommunalen Zusammenlebens und einmal als Fixierung herrschaftlicher Besitzrechte: Hagen Keller verknüpft die explodierende Verwaltungsschriftlichkeit oberitalienischer Stadtkommunen im 13. Jahrhundert mit einem neuen mentalen Habitus (1-22): Gerade dadurch, dass die Lebensumstände des einzelnen mithilfe administrativer Schriftlichkeit in kontrollierbare Verfahren eingebunden werden, wird das Leben der Einzelperson von der Gemeinschaft abstrahierbar und planbar. Die für diese Zeit zu beobachtende Individualisierung sei also neben spiritueller Introspektion gerade auch einer neuen Rationalität in Bezug auf äußere Lebensumstände zuzuschreiben - eine These, die mit Sicherheit kontrovers aufgenommen werden dürfte. Weil Keller in mutiger Verallgemeinerung von klar eingrenzbarem Beispielmaterial aus das zentrale Anliegen des Gesamtprojekts explizieren und anschaulich machen kann, ist dies einer der wichtigsten Beiträge. Roger Sablonier zeichnet vom Schriftguttypus des Urbars, der für das Spätmittelalter oft als Beleg herrschaftlicher Wirtschafts- und Verwaltungsrationalität angeführt wird, auf der Basis neuer Forschungen ein ganz erheblich problematisiertes und differenziertes Bild (91-120): Zum einen wird man Urbare in Zukunft stark entökonomisieren müssen, das Aufschreiben und Beschreiben wirtschaftlicher Zustände wird zunehmend als Festschreiben von Traditionen und Legitimationen in einem symbolischen "Besitzgedächtnis" (111) zu deuten sein. Zum anderen wird man die Produktion und Überlieferung wirtschaftlich-administrativer Daten stärker in konsensorientierte Kommunikationsverfahren zwischen Herrschaft und Untertanen einbinden müssen.
Zum Vergleich laden auch zwei Beiträge ein, die jeweils die Verbindung zwischen der Text- und Bücherbenutzung einer religiösen Gemeinschaft und der normativen Fixierung geistlicher Lebensordnungen untersuchen. Florent Cygler zeigt anhand der dominikanischen Konstitutionen, wie in den ordensbegründenden Texten normative Regelsetzungen durch relativierende Verfahrensvorschriften zur pragmatischen Umsetzung der aktiven Ordensziele - die ja über das regelgerechte Zusammenleben gerade hinausgingen - funktionalisiert wurden (77-90). In einem aufgrund seiner klaren Argumentationsweise sehr lesenswerten Artikel skizziert Nikolaus Staubach eine Geschichte der Devotio Moderna als Textgeschichte (251-276): So wie sich die Devoten über ihre intensive Beschäftigung mit patristischen Autoritäten, ihren Hang zur religiösen Autobiografie und ihren effektiven Auf- und Ausbau ansehnlicher Bibliotheken als "Textgemeinschaft" (254) definieren lassen, so sehr führt die devote Praxis der spirituellen Aneignung von Texten auch zu einer Auflösung und Neuordnung von Texteinheiten. Ganz nebenbei bietet Staubach so nicht nur eine kleine Einführung in die Devotio moderna, sondern auch eine fruchtbare Auseinandersetzung mit den von der "new philology" problematisierten Konzepten der auktorialen Zuschreibung und der performativen Aneignung von Texten im Manuskriptzeitalter.
Als Pragmatik lassen sich zweifellos auch die Strategien definieren, mit denen Texte einerseits gesellschaftliche Verhaltensnormen (re)produzieren und andererseits soziales Konsenswissen aktivieren und abrufen. Als Beispiel für Ersteres kann Gabriele Müller-Oberhäusers Analyse der Courtesy Books des spätmittelalterlichen Englands gelten (211-232). In Auseinandersetzung mit Höflichkeitsmodellen der linguistischen Pragmatik zeigt sie, wie das Erlernen von Höflichkeitsregeln für die mündliche Interaktion durch eine nur schriftliche Vermittlung möglich wird. In ihrem Forschungszwischenbericht zur Sentenzverwendung in mittelhochdeutschen Romanen (135-160) sprechen sich Manfred Eikelmann und Tomas Tomasek - gestützt auf quantifizierte Beispiele aus späten Artusromanen - dafür aus, Sentenzen, also literarische Lebensweisheiten, als den großen Texten eingeschriebene Mikrotexte zu lesen, die als integraler Bestandteil der mittelalterlichen Poetik die mentale Aktivierung der Zuhörer bezwecken sollten.
Für die Pragmatik der Darstellung und Überlieferung von Rechtstexten steht Ruth Schmidt-Wiegands Untersuchung zur legitimierenden Funktion von Bildern in illustrierten Rechtshandschriften (121-134). Hauptsächlich anhand der Beziehung zwischen Autoren-, Herrscher- und Gottesbild beziehungsweise der Verschiebungen innerhalb dieser Konstellation lassen sich - nach Auftraggeber und Benutzer differenziert - verschiedene Akzentsetzungen in der Legitimierung des Rechtsinhalts herausarbeiten.
Drei weitere Beiträge kreisen um die pragmatische Textdimension der Wissensvermittlung und -bereitstellung. Heinz Meyer beschäftigt sich mit einer Textsorte, die zwischen wissenschaftlicher Kompilation und erbaulicher Moralisation steht und deshalb als solche bisher kaum wahrgenommen wurde: der Predigerenzyklopädie (177-190). Anhand einer Benutzungsanalyse kann er anschaulich machen, wie Enzyklopädien durch Vorgänge wie Nummerierung und Neuordnung zu einem Kompendium moralisierender, universell einsetzbarer Predigtversatzstücke umfunktioniert wurden. Christel Meier weitet die bisherige Beschäftigung mit den Problemen mittelalterlicher Enzyklopädien aus und umreißt die Konturen einer pragmatisch hergeleiteten Geschichte der Gattung, die sich nicht länger an formalen Eigenheiten, sondern an den von der historischen Benutzungssituation ausgehenden Analysefeldern (wie Autorenkompetenz, Kompilation, Umarbeitungen, Illustrationspraxis) orientiert (191-211). Michael Baldzuhn liefert einen faszinierenden, aber aufgrund seiner überdichten Wissenschaftsprosa schwer zu lesenden Werkstattbericht über Forschungen zur medialen Vermittlung und zur Unterrichtssituation im Trivialunterricht des Spätmittelalters (161-176). Am Beispiel der städtischen Lateinschule von Ulm zeigt er, dass das Ineinandergreifen von Latein und Volkssprache, mündlichen und schriftlichen Lehrmethoden sowie medialer und konzeptioneller Mündlichkeit / Schriftlichkeit klare Trennungen und lineare Entwicklungen nicht zulässt und dass gerade die schulische Grundlegung von Wissensbeständen ein noch kaum erforschtes, weil schwer zugängliches Problemgebiet darstellt.
Eine extreme Form des pragmatischen Umgangs mit Schrift war im mittelalterlichen Alltag allgegenwärtig und wird hier in zwei Artikeln thematisiert: Ihre religiös-symbolische beziehungsweise rituell-magische Funktionalisierung. Sabine Griese und Volker Honemann zeigen am Beispiel des xylographischen Einblattdruckes, wie innerhalb der technischen Beschränkung eines Medientyps eine enorme Varianz entlang des Bild-Text-Kontinuums möglich war (233-250): Von einer völligen Beschränkung auf symbolische Bildformeln bis zu ausformulierten theologischen Handreichungen spiegelt sich so ein Benutzungskontinuum zwischen den Polen der Magie und der Theologie. Klaus Schreiner bietet für eben diesen Zusammenhang einen Einblick in die Buchstaben-, Wort- und Textsymbolik des gesamten Mittelalters, wobei auch er die Spanne von theologischer Spekulation bis zu handfester Zauberei abdeckt (277-338). Nach seiner beeindruckend enzyklopädischen Materialsammlung wirkt es fast enttäuschend, wenn Schreiner sich in seiner Analyse darauf beschränkt, zwischen - im engen Sinne - magischen und theologisch akzeptablen Praktiken zu unterscheiden, scheint die Thematik doch noch weit mehr Potenzial zu besitzen.
Das Gesamtergebnis also - und ein größeres Kompliment kann einem Sammelband kaum gemacht werden - ist weit mehr als die Summe seiner Teile und wird als solches Bestand haben. Der Band erreicht seine überraschende Kohärenz und Geschlossenheit nicht über thematische Beschränkung oder methodische Vereinheitlichung, sondern über die Fülle und Dichte der Querbezüge zwischen den Beiträgen. Nach der Lektüre versteht man, warum sich viele der Autoren, obwohl sie auf eindrucksvollen Ergebnissen aufbauen können, vor dem Versuch eines abschließenden Fazits gedrückt haben: Es wird noch einige Zeit und Arbeit kosten, die einladenden Forschungsfäden zu einem tragfähigen Netz zu verknüpfen und fest im historischen Kanon zu verankern. Zum Glück hat der sehr produktive und publikationsfreudige SFB 231 seine Arbeit einmal mehr so vorbildlich verfügbar gemacht, dass sich hier jeder seinen Vorlieben gemäß versuchen kann. In welchem Sinne auch das von Claudia Spanily bearbeitete Register nicht unerwähnt bleiben soll.
Anmerkung:
[1] Hagen Keller / Klaus Grubmüller / Nikolaus Staubach (Hg.): Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen (= Münstersche Mittelalter-Schriften; Bd. 65), München 1992; Christel Meier / Dagmar Hüpper / Hagen Keller (Hg.): Der Codex im Gebrauch (= Münstersche Mittelalter-Schriften; Bd. 70), München 1996; Hagen Keller / Christel Meier / Thomas Scharff (Hg.): Schriftlichkeit und Lebenspraxis im Mittelalter. Erfassen, Bewahren, Verändern (= Münstersche Mittelalter-Schriften; Bd. 76), München 1999.
Julian Holzapfl