Jörg Echternkamp / Sven Oliver Müller (Hgg.): Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760-1960 (= Beiträge zur Militärgeschichte; Bd. 56), München: Oldenbourg 2002, VIII + 294 S., ISBN 978-3-486-56652-9, EUR 34,80
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An wissenschaftlicher Literatur zum Nationalismus herrscht wahrlich kein Mangel. Seit die Forschung vor etwa zwei Jahrzehnten die Wende von der Geschichte der Nationen zu einer Analyse der Nationalismen als "imagined communities" vollzogen hat, trägt die so genannte neue Nationalismusforschung zusätzlich zu dieser Publikationsflut bei. Der vorliegende Sammelband ordnet sich also mit dem Bekenntnis der Herausgeber zu einem Nationalismuskonzept als "gedachter Ordnung" zwischen partizipativen und exklusiven Momenten in eine wohl etablierte Tradition ein. Zusätzlich liegt der Aufsatzsammlung die leitende These zu Grunde, dass der deutsche Nationalismus seit dem 18. Jahrhundert nicht als eine inhaltliche Konstante betrachtet werden kann, sondern als ein inhaltlich unterbestimmtes, viel gesichtiges und flexibles Diskurselement zu betrachten ist. Nationale Deutungsstrategien sind damit potenziell in allen sozialen und kulturellen Texturen zu identifizieren, die zu einer Kontingenzminimierung der zeitgenössischen Wahrnehmung beitragen sollten - und diese Funktion des "nationalen Blicks" kann insbesondere in Krisen- und Kriegszeiten als existenziell betrachtet werden.
Die Beiträge gruppieren sich in mehrere Blöcke: Ute Planert und Jörg Echternkamp sind zunächst darum bemüht, von entgegengesetzten Enden her die übliche Periodisierung der Nationalismusforschung aufzuweichen. Planert widmet sich einer grundlegenden Kritik der Ära der Befreiungskriegsphase als Initialzündung des deutschen Nationalismus. Mithilfe eines detaillierten Kriterienkataloges gelingt es ihr, die konzeptionellen Grundlagen des deutschen Nationalismus in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts vorzudatieren und gleichzeitig mit einem sozialhistorischen Seitenblick die Fundamentalnationalisierung zwischen 1813 und 1815 infrage zu stellen. Das Ergebnis ist in Anlehnung an Reinhart Koselleck ein Plädoyer für eine nationale "Sattelzeit" zwischen etwa 1750 und 1820. Echternkamp richtet seinerseits den Blick auf das Überleben des deutschen Nationalismus nach 1945. Dabei gelingt ihm eine detaillierte Analyse der nationalen Nachkriegsrhetorik in beiden deutschen Staaten, die auf unterschiedliche Weise bemüht war, den Nationalsozialismus aus der nationalen Tradition hinaus zu komplimentieren, um gleichzeitig einen semantischen Zugriff auf die deutsche "Einheit" offen zu halten. Echternkamps Beitrag verweist auf eine gewaltige Forschungslücke, in der bislang auch andere Phänomene wie der implizite Nationalismus der Friedens- und Ökologiebewegungen verborgen liegen - man denke nur an die Implikationen der Rhetorik zu den Mittelstreckenraketen (auf deutschem Boden als Schlachtfeld der Großmächte), vom "deutschen Wald" ganz zu schweigen.
Eine weitere Gruppe von Autoren widmet sich den Wechselwirkungen zwischen nationalem Diskurs und den Deutungssystemen von Ökonomie, Religion und Naturwissenschaft. Andreas Etges schildert am Beispiel der Zollunionsaktivitäten zwischen 1830 und 1848 die Verknüpfung von nationalem Sentiment und ökonomischen Interessen. Bekanntlich galt es interessierten Eliten als viel versprechend, die nationale Idee durch die Integration des Wirtschaftsraums in der alltäglichen Praxis zu verankern, und einige der von Etges herangezogenen Texte ließen sich beinahe deckungsgleich in die Epoche der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion übertragen. Bemerkenswert ist Etges' Beobachtung, dass im Umfeld der Zollunionsdebatten der bisher als allgegenwärtig unterstellte Franzosenhass hinter eine ökonomisch motivierte Anglophobie zurücktrat. Hedda Gramley widmet sich der Rolle protestantischer Theologen und Historiker bei der Konstruktion der Nation nach 1848. Die enge Verquickung von Reformation und Weltgeist einerseits und deutscher Nation andererseits wird dabei nochmals in allen Einzelheiten deutlich. Gleichzeitig wendet sich Gramley aber gegen die Auffassung des Nationalismus als "Säkularreligion", weil in ihren Augen der Nationalismus keine vergleichbare universale Deutungskraft in allen Lebenslagen bereitgestellt habe. Schließlich schildert Peter Walkenhorst Strukturen und Entwicklung des deutschen "Nationaldarwinismus", der zur entscheidenden Triebfeder des deutschen Imperialismus werden sollte. Einzig die etwas knappe empirische Interpretationsleistung verhindert hier genauere Einblicke in die konkrete semantische Dialektik von Nationalisierung und Wissenschaft.
Im Bereich der klassischen Politikgeschichte versuchen Vito F. Gironda und Sven Oliver Müller mit ihrem relativen Konstruktivismus neue Akzente zu setzen: Gironda untersucht dabei linksliberale Konzepte der Staatsbürgerschaft und kritisiert aus rechtshistorischer Perspektive gleichzeitig die manichäische Unterscheidung von 'ius soli' und 'ius sanguinis'. Beides konnte im politischen Diskurs nebeneinander existieren, und es scheint, dass die konkreten Problemlagen einer als unvollendet betrachteten nationalen Inklusion gleichzeitig die nationale Exklusion beförderten. Sven Oliver Müller schildert sodann die Allgegenwart und Geschmeidigkeit der nationalen Rhetorik, wenn es um konkrete politische Konflikte ging. Die Debatte um die preußische Wahlrechtsreform während des Ersten Weltkriegs dient hier zur Verdeutlichung eines inhaltslosen Kriegsnationalismus, der sich in ausnahmslos allen politischen Lagern rhetorisch breit machte und sowohl zur Legitimation von autokratischer Herrschaft wie von Reformforderungen taugte. Eine integrative Wirkung konnten die Nationalismen spätestens seit 1916 so nicht mehr entfalten, weil die innere Exklusionswirkung die darunter liegenden sozialen und politischen Konflikte nur noch verschärfte.
Die übrigen beiden Beiträge kreisen schließlich um den Nationalsozialismus als Kardinalproblem der deutschen Nationalismusforschung. Sven Reichardt verfolgt Nationalismuskonzeptionen der SA während der Weimarer Republik. Die Mythisierung und Sakralisierung der deutschen Nation ging mit den zeitgenössisch einschlägigen Rassismen und Blut-Mysterien einher, und Reichardt veranschaulicht das sowohl anhand von Texten als auch Ritualen der SA der "Kampfzeit". Weit entfernt von einer perfekten Parteiregie zeugen gerade die nachdrücklichen Bemühungen der Funktionäre um ein rituell einwandfreies Auftreten der "Bewegung" von der zentralen Bedeutung der inszenierten Mystifikationen für den Aufstieg des Nationalsozialismus. Diese Entwicklungslinie des "Radikalnationalismus" verfolgt dann auch Hans-Ulrich Wehler. Das nationalsozialistische Regime soll aus der Mantra der Singularität befreit und in den Kontext des sich radikalisierenden Nationalismus eingeordnet werden. Neben der Betonung seiner Sichtweise der Hitler-Diktatur als "charismatische Herrschaft" erwartet Wehler neue Aufschlüsse über den radikalnationalen Charakter des Nationalsozialismus von den Ergebnissen der Geschlechtergeschichte, der Körpergeschichte, der Erforschung konfessionell geprägter Sozialstrukturen, der Beachtung regional spezifischer Prozesse und der Wissenschaftsgeschichte. Aus dem Etikett des "Radikalnationalismus" resultieren für Wehler neue Möglichkeiten des Vergleichs, insbesondere aber hofft er darauf, dass ein derart erweiterter Nationalismusbegriff die Nationalismuskritik wach halte. Es wäre hinzuzufügen, dass die kritischen Einsichten einer solchen Nationalismusforschung auch auf supranationale Strukturen anwendbar bleiben sollten, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts als "gedachte Ordnungen" in die Dialektik von Partizipation und Exklusion eingetreten sind.
In einem wie gewohnt klugen und präzisen Schlusskapitel macht John Breuilly kritische Anmerkungen zu inhaltlichen und methodischen Desiderata der vorliegenden Beiträge. Seine äußerst lesenswerte Kritik nimmt große Teile einer kritischen Rezension vorweg, sodass nur noch wenig hinzuzufügen bleibt: Einige Beiträge, und auch die Bemerkungen der Herausgeber, stehen gelegentlich im Schatten eines epistemologischen Dualismus von Diskurs- und "Realgeschichte". Gerade wenn der vorliegende Band, wie die Herausgeber betonen (19), die Versöhnung beider Ebenen ins Auge fasst, bleibt die Dichotomie immer noch vorausgesetzt. Wehler spricht schließlich von der Analyse "'realhistorischer', soll hier heißen: nichtsprachlicher" (206) Bedingungen. Nach langen Jahren der Diskussion bleibt immer noch unbeantwortet, in welchen Quellenmedien diese Realgeschichte jenseits ihrer - bereits zeitgenössischen - Narrativierung in Texten, Bildern oder auch Statistiken greifbar werden soll. Darüber hinaus argumentieren die Beiträge fast ausschließlich aus den klassischen Zentren der Nationalismusforschung, und der Band entfernt sich von aktuellen Forschungstrends, die wichtige Impulse von den "Rändern" des Phänomens beziehen: Nationale Minderheiten, soziale Unterschichten oder die koloniale Perspektive, um nur einige zu nennen, bleiben weitgehend unberücksichtigt, obwohl die Kategorie der "Differenz" für das Phänomen nationaler Deutungen von ausschlaggebender Bedeutung ist. Und schließlich vermeidet die Sammlung jede tiefer gehende Problematisierung der verhängnisvollen Modernität des sich radikalisierenden Nationalismus. Die Entfaltung des industriekapitalistischen Utilitarismus, die Wissenschaftsgläubigkeit des Zeitalters und die normativen Beschränkungen des liberalen Denkens sind mehr als nur die Randbedingungen sondern eventuell der Kern der (deutschen) Pathologie des Nationalismus. Wer vom Radikalnationalismus spricht, darf von der Moderne nicht schweigen.
Aribert Reimann