Achim Stanneck: Ganz ohne Pinsel gemalt. Studien zur Darstellung der Produktionsstrukturen niederländischer Malerei im 'Schilder-Boeck' von Karel van Mander (1604) (= Europäische Hochschulschriften. Reihe XXVIII: Kunstgeschichte; Bd. 393), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003, 219 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-631-39497-7, EUR 37,80
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Das "Schilder-Boeck" des Malerpoeten Karel van Mander (1548-1606) ist der erste publizierte kunsttheoretische Traktat nördlich der Alpen. Er beginnt mit dem "Grondt der Edel vry Schilder-Const", einem Lehrgedicht, das zwar gleich mit einer Ermahnung an die jungen Malerlehrlinge anhebt, aber doch alles andere als eine praktische Anleitung zum Malen liefert, sondern vielmehr eine theoretische Grundlegung der Kunst auf sehr hohem theoretischen und literarischen Niveau. Der nachfolgende, ungleich berühmtere Teil des "Schilder-Boeck" enthält eine Vitensammlung der antiken, dann der italienischen und schließlich der niederländischen und deutschen Maler ("Het Leven der Doorluchtighe Nederlandtsche en Hooghduytsche Schilders") nach dem Vorbild der Künstlerviten des Giorgio Vasari (1511-1574): Karel van Mander, ein "Vasari des Nordens". Angehängt sind ein umfangreicher Kommentar zu Ovids Metamorphosen, der wichtigsten mythologischen Quelle der niederländischen Kunst jener Zeit, und eine kurze Darstellung allegorischer Figuren. Soweit zum Inhalt.
Dass diese hochkomplexe kunsthistoriographische und kunsttheoretische Quellenschrift zur Malerei keine Anleitung zur Malpraxis ist, steht außer Frage, gleichwohl aber lasse die Vielzahl der in den Lebensbeschreibungen und im Lehrgedicht "abgelagerten" technischen Hinweise auch eine auf die Malpraxis bezogene Lesart des Textes zu, so der Ansatz von Achim Stanneck in seiner Bochumer Dissertation aus dem Jahre 1999. Denn van Mander instrumentalisiere alle mit der Malpraxis in Verbindung stehenden Aspekte, um zwei wesentlichen Intentionen Ausdruck zu verleihen: der Kritik an den Zünften und der Kritik an Vasari. Darüber hinaus zielten van Manders Ausführungen zur Maltechnik auch darauf, "die Künstler einem handwerklich-technischen Standard auf dem qualitativ höchstem Niveau zu verpflichten" (6). Den Beweis, dass eine solche Lesart (für wen eigentlich?) auch intendiert war, bleibt Stanneck schuldig.
Der Titel "Ganz ohne Pinsel gemalt" ist wörtlich zu verstehen und geht zurück auf den bedeutenden Porträt- und Historienmaler Cornelis Ketel (1548-1616), von dem van Mander berichtet, dass es ihm 1599 in den Sinn gekommen sei, ohne Pinsel mit der bloßen Hand zu malen, und wie erstaunlich gut ihm dies geglückt sei. Van Mander schmückt die Szene noch aus, indem er einen Pinselmacher hinzutreten lässt, der Ketel an jedem Finger ein Hühnerauge wünscht. Ein Jahr später habe Ketel dann sogar begonnen, mit dem Fuß zu malen, was viele zum Lachen und Spott gereizt habe. Van Mander verteidigt Ketel damit, dass einige, um ihre Geschicklichkeit zu zeigen, eben dergleichen ungewöhnliche Dinge ausführen, wie jene, die das Gewehr auf dem Rücken anlegen und das treffen, worauf sie zielen. Spätestens hier wird der topische Charakter der Beschreibung deutlich. Stanneck erkennt in der Malweise ohne Pinsel darüber hinaus eine Kritik van Manders an den Zünften: da die Zünfte der unterschiedlichen Gewerbe auch die jeweils spezifischen Gerätschaften zuwiesen, Ketels Materialien eindeutig der Malerei zuzuordnen sind, aber seine Arbeitsweise den bildhauerischen Techniken entlehnt sei, "wird nicht nur die Grenze zwischen den Darstellungskategorien aufgehoben, sondern auch die Notwendigkeit der zünftigen Reglements hinterfragt" (61). Aber wer sollte der Adressat einer solcherart zwischen den Zeilen verborgenen Kritik sein? Erst am Ende des Abschnitts erfährt man, dass tatsächlich eines dieser kuriosen Bilder Ketels erhalten blieb, ein halbfiguriges Männerbildnis aus dem Jahre 1601, das sich durch eine offene, fahrige Handschrift deutlich vom übrigen Werk Ketels abhebt: "Ich bin ganz ohne Borsten oder Haarpinsel gemalt" ("Sonder Borstel oft Pinceel ben ick gheschildert heel CK Ætat. 28. Anno 1601") liest man dort in der oberen rechten Bildecke. Schon Bredius hatte 1912 in "Oud Holland" auf die Bedeutung dieses Gemäldes in Hinblick auf die Interpretation der Ketelschen Vita bei van Mander hingewiesen, übrigens mit Abbildung, auf die Stanneck verzichtet. Nun ist die Bildausstattung heutzutage am wenigsten der Wunschkraft der Autoren geschuldet, aber statt der insgesamt sieben ganzseitigen Schwarz-Weiß-Abbildungen mit Werken van Manders, die einen angehängten Exkurs nur illustrieren, wären allein dieses Männerbildnis und ein Bilddetail, das die Malweise verdeutlicht, ein Gewinn gewesen. So nimmt man am Ende dieses Abschnitts irritiert zur Kenntnis, dass die Lebensbeschreibung Ketels und die Bildaufschrift "weder in einem nur topischen noch in einem nur realen Sinn" zu verstehen sei und dass Ketel die Finger nur dort verwendet habe, wo sie eine rasch handhabbare Alternative zum Pinsel boten, etwa beim Verwischen von Übergängen oder der Korrektur von Konturen, "nicht mehr und nicht weniger" (64).
Stanneck überschreibt dieses Kapitel mit "Der Bruch mit den technischen Normen und Werten", eine vielleicht allzu dramatisch gewählte Formulierung. Sie erhält ihren Sinn als Teil eines von Stanneck konstruierten fünfstufigen Modells: dieses beginnt mit der "Prägung technischer Normen und Werte" (14) durch Jan van Eyck und die Erfindung der Ölmalerei. Es folgt "Die Tradition technischer Normen und Werte" (31) in Haarlem um 1600. Für "Die Erneuerung technischer Normen und Werte" (37) steht Hendrick Goltzius, für den "Bruch mit den technischen Normen und Werten" (57) Cornelis Ketel. Das letzte dieser fünf Kapitel schließlich nennt Stanneck "Die Vernachlässigung technischer Normen und Werte", so die Angabe im Inhaltsverzeichnis, die tatsächliche Kapitelüberschrift lautet dann "Die Vernachlässigung technischer Normen und ethischer Werte" (66), hierfür stehen der "Massenbetrieb" und die Vita des Frans Floris. Dann verlässt Stanneck die Viten und wendet sich dem Lehrgedicht zu (105). Die insgesamt 14 Kapitel werden den entsprechenden Passagen bei Vasari gegenübergestellt sowie einzelnen "historischen Skizzen" der Malpraxis jener Zeit. Stanneck erweist sich hier und im abschließenden Kapitel über die "Techniken der Bildproduktion" als profunder Kenner der Materie. Ich habe diese Abschnitte mit großem Gewinn gelesen, auch wenn mich Stannecks vorgeschlagene Übersetzung von "Van wel schilderen oft coloreren", so der Titel des 12. Kapitels, mit "von der feinen und der rauhen Art zu malen" nicht überzeugt hat. Mit Hoecker (1916) und Miedema (1973) bleibe ich bei der Deutung als Synonyme, also: "Vom Malen".
Ganz in seinem Element ist Stanneck dann in seinem angehängten Exkurs unter dem Titel "Spiegel der Theorie? Die Gemälde von Karel van Mander". Hier vergleicht er die Angaben zur Malpraxis im "Schilder-Boeck" mit sieben von insgesamt etwa 30 gesicherten Gemälden von van Mander selbst - mit folgendem Ergebnis: Es findet sich "kein Gemälde von seiner Hand, das je eine konsequente Annäherung an die Malweise (...) belegen könnte, die er (...) im 'Grondt' so treffend charakterisiert und zum Ideal stilisiert hat" (187).
Leonhard Helten