Günther Frank / Kees Meerhoff (Hgg.): Melanchthon und Europa. 2. Teilband: Westeuropa (= Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten; Bd. 6/2), Ostfildern: Thorbecke 2002, 352 S., ISBN 978-3-7995-4807-6, EUR 24,00
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Der vorliegende Sammelband ist aus einer vom Melanchthonhaus Bretten und dem Huizinga-Institut in Amsterdam gemeinsam veranstalteten Tagung hervorgegangen. Der erste Band behandelt den Einfluss Melanchthons in Nordeuropa, während der hier vorgelegte Band die Bedeutung des großen Humanisten und Reformators für die westeuropäischen Länder thematisiert.
Ganz grundsätzlich fällt auf, dass Melanchthon im europäischen Westen vor allem als Philosoph beziehungsweise Artist und viel weniger als Theologe rezipiert wurde. In den skandinavischen Ländern war sein Einfluss schon allein aus seiner Position in Wittenberg, wo viele wichtige Reformatoren für diese Räume ausgebildet wurden, und durch seine Bekenntnisschriften ganz außerordentlich bedeutsam. Die westeuropäischen Länder dagegen, die sich allesamt zum Calvinismus hin orientierten, wurden ganz wesentlich von der Genfer Reformation geprägt, weswegen der theologische Einfluss Melanchthons viel geringer ausfiel.
Zu Beginn thematisiert Lawrence D. Green die Stellung der Seele in der Rhetorik Melanchthons. Die Rhetorik könne, so Melanchthon, helfen, die korrupte menschliche Seele zu kontrollieren. Melanchthons Bedeutung in der europäischen intellectual history beruhte auf seinen Lehrbüchern zu verschiedenen philosophischen Fächern sowie seinen lateinischen und griechischen Grammatiken, wie Peter Mack in seinem Beitrag über Melanchthons Kommentare zur lateinischen Literatur betont. Seine Kommentare entstammten aus der Praxis des Hochschullehrers und waren auch deshalb außerordentlich erfolgreich.
Ins Detail der Rezeptionsgeschichte steigt Ricardo Pozzo mit seinem Beitrag über die Melanchthonrezeption bei den Paduaner Aristotelikern ein. Die Logik Melanchthons wurde an der Universität Padua breit rezipiert. Wichtigster Vermittler war Johannes Caselius, der sich einige Jahre in Norditalien aufhielt und für eine Reform des Logikstudiums an der Universität Wittenberg eintrat. Nach diesen Studien zur Rezeptionsgeschichte legt der Beitrag von Peter Walter einen Vergleich zwischen zwei Werken vor, die in keiner erkennbaren Rezeptionsbeziehung standen: zwischen Melanchthons "Loci communes" und dem "De locis theologicis" des Melchor Cano, Theologe an der Universität Salamanca. Melanchthon vertrat das evangelische sola-scriptura-Prinzip, während Cano, bezogen auf die Erkenntnislehre, den katholischen Standpunkt verteidigte.
Ebenfalls vergleichend untersucht Olivier Millet die "Loci Communes" von 1535 und Calvins "Institutiones" von 1539-1541, und zwar im Sinne eines Dialoges. Calvin setzte sich detailliert mit den "Loci" auseinander, die zusammen mit der "Confessio Augustana" die bedeutendste systematisch-theologische Lehrschrift der lutherischen Reformation bildeten. Es folgen weitere Beiträge zur Rezeptionsgeschichte Melanchthons in Frankreich. Isabelle Pantin behandelt die Wirkungsgeschichte von Melanchthons Physik ("Initia doctrinae physicae") in Frankreich, die gegen Ende des 16. Jahrhunderts ihren größten Einfluss entfaltete. Am Beispiel der Kommentare zu Ovids Metamorphosen des Barthélemy Aneau zeigen Jean-Claude Moisan und Marie-Claude Malenfant ein konkretes Beispiel der Rezeption Melanchthons. Aneau bewegte sich innerhalb der von Melanchthon vorgegebenen Abhandlung über Ovid. Marie-Luce Demonet wendet sich nochmals der Rezeption der Logikschriften Melanchthons in Frankreich zu. Ihre Wirkung beruhte auf der Unterscheidung von Notwendigkeit und Möglichkeit und auf der Methode der Schriftinterpretation. Kees Meerhoff formuliert einige grundsätzliche Bemerkungen zum Einfluss Melanchthons in den Niederlanden und in Frankreich. Seine methodischen und philosophischen Schriften erreichten dort die größte Wirkung.
Nach diesen sehr speziellen Beiträgen zu den eher randständigen Themen der Ideengeschichte des 16. Jahrhunderts thematisiert Heinz Scheible mit seinem Beitrag "Melanchthons ökumenischer Einsatz in Frankreich", hervorgegangen aus einem öffentlichen Abendvortrag, ein zentrales Thema der deutschen Forschung zu Melanchthon: seine - positiv formuliert - irenische oder - negativ formuliert - nachgiebige Haltung gegenüber den Katholiken. Charakterisiert wird die Position Melanchthons in den Verhandlungen zwischen dem französischen König und den Protestanten bis zur Mitte der 1530er-Jahre, für die Melanchthon Denkschriften und Ausgleichstexte formuliert hatte.
Mit dem Beitrag von Ian Maclean über vier späte Schriften Melanchthons auf dem europäischen Buchmarkt zwischen 1560 und 1601 verlassen die Beiträge des Sammelbandes den romanischen Raum und wenden sich England sowie dem niederdeutschen beziehungsweise niederländischen Raum zu. Der Verfasser kommt zu dem methodisch bemerkenswerten Schluss, dass der Druck der Bücher an sich noch keine Aussagen über den Einfluss der Texte zulässt, da die Editionen der Schriften Melanchthons von vielfältigen Interessen der Herausgeber, Drucker und Politiker bestimmt wurden.
Anhand der Buchkataloge von Mitgliedern, Dozenten und Studenten, der Universitäten Oxford und Cambridge untersucht Sachiko Kusukawa die Rezeption Melanchthons an diesen beiden Universitäten. Auch in England waren die Lehrbücher außerordentlich erfolgreich. In den Bücherverzeichnissen waren die sechs am häufigsten vorkommenden Autoren Erasmus, Cicero, Aristoteles, Melanchthon, Virgil und Augustin. Hier zeigt sich die große Bedeutung Melanchthons für das Studium der Artes.
Ann Moss betont die überkonfessionelle Rezeptionsgeschichte der grammatischen, rhetorischen und dialektischen Werke Melanchthons. Seine Lehrbücher und ihre weite Verbreitung machten den Wittenberger zu einem "praeceptor of Early Modern Europe". Gerhard Weng interpretiert zwei Briefe des Engländers John Roger, einen, den er als Superintendent in Dithmarschen schrieb, den anderen von Melanchthon an ihn. Günter Frank stellt eine Schrift des Johannes Musaeus gegen Herbert von Cherbury in den Mittelpunkt seines Beitrages und verlässt damit das 16. Jahrhundert. Musaeus sei um eine zwar kritische, aber konstruktive Auseinandersetzung mit der Religionsphilosophie des englischen Deisten bemüht gewesen. Herman J. Selderhuis versucht die Bedeutung Melanchthons in den Niederlanden im 16. und 17. Jahrhundert zu bestimmen. Die Ausführungen sind allerdings sehr allgemein gehalten. Theologisch war Melanchthon hier einflussreicher als in England oder Frankreich, was in der Geschichte des niederländischen Calvinismus begründet liegen mag. Gerade für die Arminianer war Melanchthon ein wichtiger Zeuge für eine von Calvin abweichende Prädestinationslehre.
Im letzten Beitrag würdigt Ashley Hall die Bedeutung Melanchthons für den amerikanischen Protestantismus im 19. Jahrhundert und kommt hier von der engeren Rezeptionsgeschichte zu einer allgemeineren Wirkungsgeschichte. Ganz ähnlich wie in Deutschland schwankte auch in den USA das Bild Melanchthons im 19. Jahrhundert zwischen den Extremen der Verachtung und der Verehrung, während die Reformierten die wissenschaftlichen und irenischen Leistungen Melanchthons zu würdigen versuchten. Dabei ignorierten sie einfach den lutherischen Charakter seines Werkes. Erst im 20. Jahrhundert wurde eine sachlichere Sicht auf den großen Humanisten möglich.
Der vorliegende Sammelband vereinigt Beiträge, die in ihrem Grundtenor bisherige Thesen verifizieren und im Detail mit einer Fülle von Beobachtungen unser Wissen um Melanchthons Wirkung in Europa ergänzen. Bemerkenswert sind die allgemeinen Tendenzen der Wirksamkeit Melanchthons. In Frankreich, England und Italien beruhte sein Ruhm vor allem auf seinen Lehrbüchern zur Philologie, Philosophie und den Artes, während im deutschen, niederländischen und skandinavischen Raum auch seine theologischen Schriften sehr einflussreich waren, schon allein deshalb, weil er die wichtigsten Bekenntnisschriften des deutschen Luthertums verfasst hatte. Seine theologische Wirkung in Westeuropa resultierte vor allem aus seiner Stellung zu Calvin, der sich vielfältig mit ihm auseinander setzte.
Abgerundet wird der inhaltsreiche und auch ansprechend gestaltete Band durch ein Personen- und Sachregister.
Thomas Fuchs