Anne Lipp: Meinungslenkung im Krieg. Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914-1918 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 159), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, 354 S., ISBN 978-3-525-35140-6, EUR 45,00
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Was trieb die Menschen im August 1914 auf die Straße? War es Neugierde, Begeisterung, das Bedürfnis nach schneller Information? War es Angst? In der Rückschau wurde man sich bald einig: Aus Kriegsbegeisterung und Patriotismus drängten die Deutschen massenweise in den öffentlichen Raum. Das "Augusterlebnis" wurde zur herrschenden Deutung der Art und Weise, wie der Kriegsbeginn im Reich erlebt wurde. Doch was hat diese Deutung mit den konkreten Erfahrungen der Menschen in jenen Tagen zu tun? Einiges sicher, aber wir wissen heute ebenso, dass die Stimmung im Deutschen Reich auch ganz anders sein konnte. Begeisterung gab es, aber wohl sehr viel punktueller, als es mit der Rede vom "Augusterlebnis" lange Zeit ausgedrückt worden ist.
Anne Lipps Dissertation bewegt sich in diesem Zwischenreich zwischen konkreten Erfahrungen und ihren gesellschaftlichen Deutungen. Ausgehend von den Erlebnissen und Stimmungen der deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg untersucht sie, wie die Erfahrungen in Deutungen einflossen, wer Deutungen bestimmte beziehungsweise "herstellte" oder wie Deutungen stabilisiert werden konnten.
Theoretische Anregungen bezieht die unter anderem im Rahmen des Tübinger Sonderforschungsbereichs "Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" entstandene Arbeit aus der Diskursanalyse und vor allem aus wissenssoziologischen Überlegungen. Um die Zusammenhänge von Erfahrungen, Deutungen und deren Folgen zu beschreiben, geht sie von der Vorstellung aus, "dass die gesellschaftspolitische Wirkung, die individuelle und kollektive Erfahrungsprozesse über das jeweilige Ereignis hinaus entfalten können, in hohem Maße davon abhängig ist, in welches kommunizierbare Zeichensystem diese Erfahrungsprozesse überführt werden" (16). Die "Deutungs- und Identifikationsangebote" öffentlicher und damit im Krieg überwiegend offizieller Stellen schufen (erst) eine Grundlage, "auf der über soldatische Kriegserfahrungen kommuniziert werden konnte" (16).
Standen bei ähnlich orientierten Studien bislang Feldpostbriefe im Mittelpunkt, benutzt Lipp neben soldatischen Erinnerungstexten vor allem Feldzeitungen sowie Bestände zum so genannten Vaterländischen Unterricht. Als zentrale Zeitungen von Divisionen oder Armeen und als "Schützengrabenzeitungen" kleinerer Einheiten entstand bald nach Kriegsbeginn eine soldatische "Presse", in der Kriegserfahrungen artikuliert oder für Soldaten brisante Themen aufgegriffen wurden. Nach und nach wurden diese Feldzeitungen zu Propagandaforen der Militärführung. Mit der 1916 eingerichteten "Feldpressestelle" begann die Oberste Heeresleitung (OHL) die Feldpublizistik systematisch zu nutzen. Der im Juli 1917 befohlene "Vaterländische Unterricht" verstärkte die propagandistischen Bemühungen weiter. Er sah sowohl Aufklärungsarbeit über die Stimmungen im Heer vor als auch deren Beeinflussung durch Schulungen und Vorträge, Kinovorführungen oder Sportveranstaltungen. Über den Erfolg der Propagandatätigkeit lässt sich in den meisten Fällen nur schwer etwas sagen. Anne Lipp sind vor allem zwei Dinge wichtig. Zum einen, dass Aufklärungsarbeit und Beeinflussungsbemühungen zumindest nicht ganz erfolglos waren. Zum anderen, dass die offizielle Meinungslenkung eine Art Monopolstellung als Interpretationsangebot einnahm. Sie war - beinahe - die einzige Instanz, in der individuelle Erfahrungen in kollektive Deutungsmuster überführt werden konnten, und als Sinnproduzentin entsprechend von überragender Bedeutung.
Drei "Erfahrungs- und Deutungsräume" untersucht Anne Lipp genauer, die Vorstellungen von "Front", "Krieg" und "Heimat". Das soldatische Erlebnis der "Front" wurde, so Lipp, vor allem von "Durchhalteerfahrungen" und "Verweigerungshandlungen" geprägt. Die erfolgreiche Abwehr der alliierten Angriffe an der Somme im Jahr 1916 etwa machte das "Durchhalten" unter Mannschaften und Offizieren zur vorherrschenden Erfahrung. Insbesondere ab 1917 kamen Verweigerungshandlungen dazu. Die Weigerung ganzer Einheiten, in bestimmte Frontstellungen einzurücken, Ausschreitungen bei Truppentransporten oder zeitweises "unerlaubtes Entfernen" prägten zunehmend das Fronterlebnis. In der offiziellen Propaganda findet sich freilich vor allem die Durchhalteerfahrung wieder. Begriffe wie "Pflicht" oder "Nervenstärke", Metaphern wie "eisern" oder "stählern" prägten die Sprache. Auf der Ebene der Bilder produzierte die Meinungslenkung den gepanzerten, mit dem Stahlhelm ausgerüsteten Frontkämpferheros mit entschlossener Miene und riesenhafter Gestalt.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs zweifelten Soldaten wie weite Teile der deutschen Gesellschaft kaum am Verteidigungscharakter des Krieges. Spätestens ab 1916 begann der Konsens zu zerfallen, der Sinn des Krieges stand zur Disposition. Die militärische Propaganda antwortete darauf mit zunehmend offensiven Legitimationsstrategien. Ein "Siegfrieden", Deutschlands Mission in Europa und der Welt, Germanen- und Raum-ideologien schoben sich in den Vordergrund. Gleichzeitig versuchte man nationale Feindbilder zu stärken. Gerade Letzterem bescheinigt Anne Lipp bemerkenswerterweise relativ wenig Erfolg. "Für eine erfolgversprechende Dämonisierung der Feinde", so ihr Fazit hier, "fehlte offenbar die Grundlage" (311). Und auch gegenüber Siegfriedensparolen und Eroberungsplänen blieben die Soldaten weitgehend immun. Allem, was den Krieg verlängern konnte, begegneten sie mit Skepsis.
Fand der entschlossene, stahlharte Frontkämpfertypus durchaus eine Entsprechung in den soldatischen Selbstbildern, kam die Oberste Heeresleitung bei der Legitimation des Krieges gegenüber den eigenen Truppen also nicht aus der Defensive heraus. Etwas näher kamen sich soldatische Erfahrung und offizielle Sinnproduktion wieder bei den Vorstellungen von Heimat. War "Heimat" zunächst sowohl in der Propaganda als auch in der Wahrnehmung der Soldaten das, was durch den Krieg vor allem beschützt werden musste, so tat sich zunehmend eine Kluft zwischen Front und "denen daheim" auf. Vorstellungen von Wucherern und Kriegsgewinnlern, Drückebergern und "Biertischstrategen" oder Enttäuschungen über das schwindende Prestige der Soldaten kursierten an der Front. Aufgeschreckt durch die hitzige Kriegszieldiskussion im Reich, durch die Friedensresolution des Reichstags und erste Streiks, begann auch die Heeresleitung immer mehr, einen Bruch zwischen Front und Heimat zu konstruieren. Seit 1917 steigerte sich die vermehrt negative Präsentation derer daheim zum Vorwurf des Versagens und schließlich des "Verrats". Nach den Januarstreiks von 1918 war von "in den Rücken fallen" und "Bruderkampf" die Rede.
Anne Lipp warnt davor, die Polarisierung zwischen Front und Heimat absolut zu setzen. Vor allem für den Erfahrungsraum der Soldaten seien Differenzierungen angebracht. Die genaue Feststellung der Übereinstimmung beziehungsweise der Differenz zwischen den Erfahrungen der Soldaten und den Deutungen der Propaganda ist allerdings nicht ihr Hauptanliegen. Maßgeblich für sie ist, welche Erfahrungen zu stabilen Deutungsmustern werden konnten. Und hier schreibt sie der offiziellen Propaganda eine entscheidende Bedeutung zu. Denn vorausgesetzt, die Interpretationsangebote der Armeeführung entsprachen in ausreichender Weise den soldatischen Wahrnehmungen, waren sie in hohem Maße geeignet, Deutungen zu fixieren und damit wiederum auch die Erfahrungen im Nachhinein festzulegen. Dieses "Kriegserlebnis", so die zentrale These der Arbeit, konnte dann "für die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten" der Weimarer Republik (319) entscheidend werden. Das von der Propaganda geschaffene Bild vom Frontkämpfer ist in den Kriegerdenkmälern der Zwischenkriegszeit zu besichtigen. Von der im Krieg erzeugten Polarisierung von Front und Heimat war es nur ein kleiner Schritt zur nach 1918 so erfolgreich verbreiteten Dolchstoßlegende. Verweigerungshaltungen, die Sympathie der Soldaten für einen Verständigungsfrieden waren dagegen nicht erinnerungsfähig und bestimmten nicht die Interpretationen der Nachkriegszeit. Sie hatten keinen kollektiven sprachlichen oder ikonographischen Ausdruck gefunden.
Der Erste Weltkrieg ist schon seit einiger Zeit wieder zu einem zentralen Gegenstand der historischen Forschung geworden. Die Arbeit von Anne Lipp kann unsere Kenntnisse dabei vor allem in zwei wichtigen Bereichen vermehren. Durch die Auswertung insbesondere der Schützengrabenzeitungen ergänzt sie die zahlreichen Studien zum Kriegserlebnis der Soldaten um die Dimension der soldatischen Selbstverständigungen jenseits von privaten Äußerungen in Briefen an die Heimat. Darüber hinaus schärft ihr Blick auf die militärische Propaganda das Verständnis des Ersten Weltkriegs als epochales Ereignis, durch das die politische Kultur der Weimarer Republik in hohem Maße geprägt worden ist.
Nicht zuletzt wirft die Arbeit eine Reihe inhaltlicher wie methodischer Fragen auf, die weiter zu diskutieren sind. Dazu gehört die Verständigung darüber, ob Erfahrungen hinsichtlich ihrer Wirkung in jedem Fall auf zeitgleich bereitgestellte kollektive Kommunikationsformen angewiesen sind. Zu fragen ist etwa, inwieweit die Allgegenwart des Todes in den Schützengräben für die politische Kultur Weimars bedeutsam werden konnte, auch wenn sie, wie Lipp betont, keinen "gültigen" sprachlichen Ausdruck gefunden hat. Auch über die Art und Weise, wie Mentalitäten und Stimmungen erfasst werden können, bleibt zu diskutieren. Mit der Analyse der Feldzeitungen und des Vaterländischen Unterrichts zeigt Lipp hier Möglichkeiten auf, wie auch öffentliche und offizielle Quellen herangezogen werden können. Schwierig bleibt ein solcher Nachweis freilich. Dass Anne Lipp solche Probleme keineswegs verschweigt, gehört zu den vielen Stärken ihrer Arbeit.
Friedrich Kießling