Ilonka von Gülpen: Der deutsche Humanismus und die frühe Reformationspropaganda 1520-1626. Das Lutherporträt im Dienst der Bildpublizistik (= Studien zur Kunstgeschichte; Bd. 144), Hildesheim: Olms 2002, 517 S., 102 sw-Abb., ISBN 978-3-487-11680-8
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Die Erforschung der frühen Neuzeit hat sich im Lauf der letzten Jahrzehnte mit großem Engagement den Kommunikationsformen "Flugblatt" und "Flugschrift" zugewandt. So wurde mittlerweile auch die dazugehörige Druckgrafik verstärkt als geschichtliche Quelle erkannt und analysiert, nachdem lange das Hauptinteresse der historischen Fächer primär den Texten als solchen gegolten hatte. Gerade die illustrierten Einblattdrucke der frühen Reformationszeit sind höchst aussagekräftige Dokumente einer Medienrevolution, die "die frühe Reformation als Kommunikationsprozess" (B. Moeller) einer "reformatorische[n] Öffentlichkeit" (R. Wohlfeil) erscheinen lässt. Die Historiographie der ganzen Epoche ist durch die konsequente Berücksichtigung dieser Quellen erheblich vorangekommen.
Nun ist die hier angezeigte Dissertation im Druck erschienen, die in Frankfurt am Main von dem Kunsthistoriker Gerhard Eimer betreut wurde, ihrem Selbstverständnis nach aber "eine fächerübergreifende Untersuchung" sein will (13). Am Schluss der kurzen Einführung (9-15) wird angesichts einer aus Sicht der Verfasserin ungenügenden Forschungslage der Wunsch geäußert, "wiederum das Interesse der Geisteswissenschaften auf noch unerschlossene Forschungsgebiete in Bezug zur Reformationszeit zu lenken" (15).
Der Gang der Untersuchung muss erlesen werden; das kaum untergliederte Inhaltsverzeichnis gibt hierfür wenig her. Unter Verzicht auf methodische Reflexionen wie auch auf eine interesseleitende Frage- oder Thesenstellung wird in einem ersten Kapitel ("Die Humanisten", 17-59) der Weg des Humanismus von seinen italienischen Ursprüngen im 14. Jahrhundert nach Deutschland nachgezeichnet und mit den Stationen Erfurt und Wittenberg die stufenweise Annäherung der - von der Verfasserin charaktervoll porträtierten - intellektuellen Avantgarde an die spätere Hauptstätte der Reformation vorbereitet. Unterschiede wie Gemeinsamkeiten beider Bewegungen werden deutlich, bisweilen pointiert, herausgestellt: "Verglichen mit Luthers tiefbohrenden und selbstquälerischen Fragen an Gott mussten die Humanisten, mit denen Luther hin und wieder in Berührung gekommen sein mag, wie Teilnehmer eines intellektuellen Glasperlenspiels gewirkt haben" (34). Seine Rückbesinnung auf den Kirchenvater Augustin statt auf die heidnischen Klassiker zeichnet "die kommenden Differenzen bereits" (52) vor.
Die Funktion dieser langen historischen Rampe wird erst im zweiten, "Die Reformationsbewegung" überschriebenen Kapitel (60-107) deutlich, das mit der Abfassung, Veröffentlichung und Verbreitung von Luthers 95 Thesen gegen die Ablasspraxis einsetzt und die anfängliche Kooperation weiter humanistischer Kreise mit der frühen Reformation als "produktives Missverständnis" akzentuiert; "der Erfolg der reformatorischen Bildpropaganda basiert zum großen Teil auf diesem weitreichenden Irrtum" (76). Die unterschiedlichen Beweggründe Luthers und seiner humanistischen Anhänger führten dementsprechend zu dessen "Verweigerung, sich als Bannerträger der Humanistenpartei instrumentalisieren zu lassen" (76), wenngleich das Wort als Waffe gegen Rom nunmehr von beiden Bewegungen zielgerichtet eingesetzt wurde: Nach der Leipziger Disputation 1519 wurde "zum ersten Mal aktuelle Ware mit kurzgefaßten Texten in handlichem Format" produziert, "die von vornherein zur massenhaften Verbreitung und zum schnellen Verbrauch bestimmt war" (88). Das erste Lutherbildnis erschien im Rahmen dieser Tagespublizistik auf dem Titelblatt einer in Leipzig gehaltenen und gedruckten Predigt Luthers (102-106).
Damit sind die "Lutherporträts" (108-162) als eigentlicher Untersuchungsgegenstand eingeführt. Sie sind im Kontext der "Wittenberger Öffentlichkeitsarbeit" (108-117) des kurfürstlichen Geheimsekretärs Georg Spalatin zu sehen. In einer Art Exkurs (117-126) wird Albrecht Dürers vergeblicher Wunsch thematisiert, Luther einmal selbst "mit fleis kunterfetten vnd jn kupfer stechen" zu können (124). Stattdessen war es Lucas Cranach d.Ä., der die maßgeblichen Lutherporträts gestaltete und ihnen je nach Sachlage ein öffentlichkeitswirksames "Image" aufprägte: "Luther als Mönch" (126-143), mit und ohne Nische - "Luther als Doktor der Theologie" (143-154) - "Luther als adeliger Junker" (154-159). Die Darstellung folgt hier dem bekannten Geniestreich von Martin Warnke (Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image, 1984), wesentlich Neues kommt nicht hinzu. Entsprechend knapp wird die Serienfertigung von "Lutherporträts der Cranachwerkstatt" (160-162) behandelt, die somit erneut aus dem Kontext der reformatorischen Porträtverwendung herausgehalten wird. Gerade hier wäre das Schließen einer kirchen- und kunsthistorischen Lücke eine gute Gelegenheit gewesen, die anfänglichen Versprechungen einzulösen.
Die folgenden, in Quantität und Qualität erheblich variierenden Kapitel behandeln die in jener Zeit starke ikonographische Vernetzung von Herrscher- und Humanistenporträts auf der einen Seite und dem gezielt gestalteten und eingesetzten Lutherbildnis auf der anderen. Unter dem Begriff "Bildpropaganda der frühen Neuzeit" (163) wird dabei, anders als üblich, die öffentlichkeitswirksame Selbstdarstellung durch Auftragsporträts verstanden, deren Motivgeschichte seit der Antike die Verfasserin an ausgewählten Beispielen illustriert. Besonders der kämpferische Ulrich von Hutten (213-259) hat demzufolge wesentlich zur Ikonographie der Lutherporträts beigetragen. Über Luthers Schrift "De captivitate" heißt es: "Es ist kaum denkbar, daß [der Drucker] Schott bei seinem ersten Lutherdruck überhaupt auf den Gedanken gekommen wäre, ein Lutherbildnis einzufügen, wenn sein Erfolgsautor Hutten [...] ihn nicht zu dieser Form der Produktgestaltung angeregt hätte." (240) - ein äußerst dünnes Fundament für eine der wenigen originellen Thesen. Die Ausbeute dieses langen Kapitels bleibt gering. Von Bedeutung ist jedoch, dass im weiteren Verlauf die Relevanz der im Umkreis des Wormser Reichstags 1521 kursierenden Publizistik für die öffentliche Wahrnehmung Luthers erheblich relativiert wird (bes. 298), und zwar auf Grund der humanistisch gedeuteten Schrift "Passion Martin Luthers". Das anschließende Kapitel stellt anhand von Katalogliteratur und Pamphletsammlungen die Protagonisten und bekannten Hauptschriften der "Reformationspropaganda" (297-347) vor - etwa das berühmt gewordene Karsthans-Motiv - und diskutiert, inwiefern hier humanistische Produktion als Werk des "gemeinen Mannes" getarnt und rezipiert wurde. Die altgläubige Seite hat sich der Druckmedien bekanntlich weitaus zögerlicher bedient; der Anteil v.a. Thomas Murners als einem der wenigen wirklich produktiven Satiriker der Gegenseite wird daher in diesem und im folgenden Kapitel ("Gegenpropaganda", 348-363) besonders herausgestellt. Die spätere ikonographische Verwertung humanistischer Autorenporträts für die Darstellung Luthers als Evangelist oder Kirchenvater ist Gegenstand eines weiteren Kapitels (364-381), bevor mit dem Bruch zwischen "Erasmus und Luther" (382-388) auch das Ende der humanistisch-reformatorischen Bildsynthese begründet ist. Damit scheint, so der kurze Epilog, auch eine allgemeine Ernüchterung in der öffentlichen Wahrnehmung beider Bewegungen eingetreten zu sein.
Ilonka van Gülpen erweist sich als talentierte Erzählerin. Wer ein historisches Lesevergnügen sucht, wird etwa an der Passage über Johannes Reuchlin und den Dunkelmännerstreit dieselbe Freude haben wie der Rezensent. Nicht selten geht ihr jedoch die Feder durch; so wird über das bekannte Lutherbildnis Hieronymus Hopfers gesagt, dass "sein Stich durch Luthers leicht schielenden Blick und die etwas verunglückte Taube, die wirkt, als würde sie gerade auf seinem Kopf eine Notlandung versuchen, in die Nähe des devotionalen Kitsches gerät" (303). Gerade bei Bildbeschreibungen, ausgerechnet einem ureigenen Feld der Kunstwissenschaft, stört oft eine gewisse Unaufgeräumtheit. Soll hier das Fehlen eines festen methodischen Fundaments kaschiert werden? Welches ikonologische Modell den Bildanalysen zugrundegelegt wurde (gewiss nicht die für frühneuzeitliche Druckgrafik bestens erprobte "Historische Bildkunde" von Rainer Wohlfeil), bleibt ebenso unklar wie die Herkunft der über 100 Abbildungen, die doch hier den Rang von Primärquellen einnehmen und darum selbstverständlich eines Quellennachweises bedürfen. Generell ist die Quellenverwendung schwer nachvollziehbar, denn oft wurden unzulängliche oder längst überholte Textausgaben benutzt, etwa das "Buch der Reformation", eine schön gemachte DDR-Volksausgabe, die zum wissenschaftlichen Zitieren allerdings ungeeignet ist; dagegen sollten z.B. Luthertexte stets aus der immer noch maßgeblichen Weimarer Ausgabe zitiert werden. Leider muss diese Unsicherheit auch hinsichtlich der Sekundärliteratur festgestellt werden: "Nach dem Höhepunkt des 'Lutherjahres' [1983!] scheint das Interesse an weiterführenden Forschungen weitgehend erloschen zu sein. Erwähnenswerte Veröffentlichungen zur Reformationspropaganda fanden nicht mehr statt [...]" (15). Die einschlägigen jüngeren Standardwerke von Franz-Heinrich Beyer, Wolfgang Harms und Harry Oelke, um nur einige zu nennen, wurden demzufolge nicht herangezogen; dort hätte Vieles nachgelesen werden können, was hier vermeintlich zum ersten Mal präsentiert wird. Das Fehlen eines Registers vervollständigt die Hürden, die dem wissenschaftlichen Benutzer dieses Buches in den Weg gestellt sind. Das Lesen dieser groß angelegten und schwungvoll erzählten Epochendarstellung ist eine Sache; dass damit auch gearbeitet werden soll, eine andere.
Tim Lorentzen