Heide Wunder: Der andere Blick auf die Frühe Neuzeit. Forschungen 1974-1995. Hg. v. Renate Dürr / Ulrike Gleixner / Barbara Hoffmann / Helga Zöttlein (= Aktuelle Frauenforschung), Königstein: Ulrike Helmer Verlag 1999, 355 S., ISBN 978-3-89741-021-3, EUR 24,90
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Heide Wunder gehört zu den profiliertesten, originellsten und methodisch-theoretisch stärksten Vertreterinnen und Vertretern der Geschichte der ländlichen Gesellschaft und der Geschlechtergeschichte im deutschsprachigen Raum. Nicht wenige andere Forschungsfelder zu Spätmittelalter und Früher Neuzeit verdanken ihr höchst anregende, oft wegweisende Beiträge - man denke an die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Rechtsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Religions- beziehungsweise Konfessionalisierungsforschung, an Geschichtsdidaktik und Geschichtstheorie. Zu ihrem 60. Geburtstag präsentieren vier Schülerinnen mit dem treffend "Der andere Blick" betitelten Band eine Auswahl ihrer zwischen 1974 und 1995 erschienenen Aufsätze. Ein bis 1998 geführtes Werkverzeichnis und eine Tabula Gratulatoria runden den Band ab.
In einem knappen Vorwort danken die Herausgeberinnen, indem sie Wunders wissenschaftliche Anregungen und ihre Unterstützung sowie ihre enormen Leistungen in der Nachwuchsförderung herausstellen. Ein "Preface" der in Oxford lehrenden Lyndal Roper widmet sich der wissenschaftlichen Bedeutung der Jubilarin. Fünfzehn ausgewählte Arbeiten Wunders wurden in drei Hauptteile gegliedert: "Ländliche Gesellschaft: Verhältnisse und Mentalitäten", "Historische Frauenforschung: Arbeit, Zauber, Frömmigkeit" und "Allgemeine Geschichte: Neue Blicke" - so die Überschriften. Eine kurze Einführung, jeweils verfasst von einer der Herausgeberinnen und vorwiegend als Laudatio gestaltet, steht diesen Teilen voran.
Nicht ohne Seitenhieb auf ein "authoritarian academic dynasty-building on male lines" führt die mit dem deutschen Wissenschaftsbetrieb bestens vertraute Anglosäxin Wunder als geduldige und ausgesprochen aufgeschlossene Lehrerin und Mentorin ein. Roper fokussiert ihre Würdigung deutlich auf die Geschlechtergeschichte: Ihr Klassiker "Er ist die Sonn', sie ist der Mond"[1] "set the terms for any discussion of gender between 1400 and 1800" (Roper, 10) in Europa. Zunächst als Sozial- und Wirtschaftshistorikerin, bald auch in geschlechtergeschichtlicher Perspektive trug sie wesentlich dazu bei, anachronistische Gegenüberstellungen wie die von "privat" und "öffentlich" oder auch "West- und Ostelbien" obsolet zu machen. Aus aufmerksamer Quellenlektüre heraus historisierte sie brillant Konzepte und Begriffe wie "Das Ganze Haus", "Feudalismus", "Gemeinde", rückte gängige Annahmen über das "Politische" oder der "Modernisierung" zurecht, um selbst innovative und vielfach aufgegriffene terminologische und methodische Vorschläge zu entwickeln. Alles andere als eine Übertreibung auch die zentrale Aussage dieses Vorworts: "without Heide Wunder what we now recognize as the history of gender in late medieval and early modern Germany would not exist" (Roper, 9).
Vier der fünf im ersten Teil versammelten Arbeiten Heide Wunders entstanden in den 80er-Jahren und beziehen sich auf nach wie vor aktuelle Grundprobleme der Forschung zur ländlichen Gesellschaft und Agrargeschichte: auf das Verhältnis von bäuerlichem Widerstand und Staatsbildungsprozess, auf das Dorf als "primären Lebenszusammenhang der ländlichen Gesellschaft", auf den Wandel von Stereotypen über ländliche Bevölkerungen sowie auf die alteuropäische Wirtschaftsweise (geschrieben als kleine Erfahrungs- und Mentalitätsgeschichte des bäuerlichen Kredits). Wie mit dem fünften, 1991 erschienenen Beitrag zur ländlichen Gemeinde als "Strukturprinzip der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Geschichte Mitteleuropas" gingen von diesen Schriften Wunders maßgebliche Impulse für eine sich zur damaligen Zeit erst zaghaft Fragen nach Mentalitäten beziehungsweise Ethnologien des Historischen öffnenden Sozial- und Wirtschaftsgeschichte aus (Wunder wird hier zum Beispiel als eine der ersten Historikerinnen und Historiker greifbar, die mit der Kategorie Ethnie analytisch vorgeht, um Themen wie Staatsbildung oder Widerstand neu zu thematisieren). Eine die "gesamte Lebenswelt umfassende Perspektive" (Dürr, 18) bildet die systematische Schnittstelle dieser Arbeiten.
Nicht ganz angemessen erscheint der Titel des zweiten Hauptteils, der ja mit "Historische Frauenforschung" überschrieben ist. Bei allem Interesse an den historischen Erfahrungen und Perspektiven von Frauen, hat Wunder doch, wie Barbara Hoffmann in ihrer Einführung zu diesem Teil selbst richtig anmerkt, schon seit Mitte der 80er-Jahre dezidiert die Geschlechterbeziehungen zum Rahmen ihrer Arbeit gemacht. Eben diese Ausrichtung belegen auch die ausgewählten Aufsätze: So nimmt ihr richtungsweisender Aufsatz "Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert" zur "geschlechtsspezifischen Teilung und Bewertung von Arbeit in der Frühen Neuzeit" (1993) vom ersten Satz an eine dezidiert beide Geschlechter sowie - ebenfalls typisch für Wunders Schriften - zahlreiche andere Kategorien berücksichtigende Perspektive ein. Und unter dem Titel "Vermögen und Vermächtnis - Gedenken und Gedächtnis" (1991) kann sie aus einer detaillierten Rekonstruktion der Erinnerungspraxis in Testamenten und Leichenpredigten Hamburger Bürgerinnen immer noch hochaktuelle Thesen zur allgemeinen Historiografiegeschichte des 18. Jahrhunderts herleiten. Für Wunder, die etwa mit dem berühmten "Arbeitspaar" ein in unterschiedlichsten Forschungskontexten nutzbares und genutztes Analysekonzept angeboten hat und sich seit langem dafür einsetzt, "zeitgenössische Bedeutungen von Frau-Sein und Mann-Sein" (Hoffmann, 122) ernst zu nehmen, war "Frauenforschung" fast von Beginn an nur als historische Geschlechterforschung und deshalb als unabdingbares Element einer Gesellschaftsgeschichte Alteuropas denkbar.
Dass Wunder immer wieder "neue Blicke" bravurös in die "Allgemeinen Geschichte" einbringt, tritt erneut im letzten, "Kernbereiche historischen Fragens" (Gleixner, 188) betreffenden Teil hervor. Sorgfältigster Begriffsbildung und -historisierung misst sie den ihnen zukommenden hohen Stellenwert zu: Ob sie 1974 über "Feudalismus" oder 1975 (!) über "Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Geschichtswissenschaft und Anthropologie" reflektiert, ob sie in den 90er-Jahren die "Krise des Spätmittelalters", den "Modernisierungsschub des historischen Denkens im 18. Jahrhundert" oder das "Modell ostelbische Gutsherrschaft" hinterfragt - immer ist das Ergebnis ein Innnovationsschub für die einschlägige Forschung! Die meisten hier wieder vorgestellten Arbeiten gehören denn auch heute zum unhintergehbaren Muss in den betreffenden Forschungsfelder und zum sine qua non jeder neueren einschlägigen Arbeit. Andere, wie etwa der Beitrag über "Gewirkte Geschichte", dürften in kommenden Diskussionen - in diesem Fall um Geschichtstheorie und Historiografiegeschichte - noch eine wichtige und ihrem Potenzial zur Entwicklung eines "neuen Blicks" angemessene Rolle spielen
Der mit großem Bedacht zusammengestellte Band entfaltet gut zwei Jahrzehnte historiografischer Arbeit als ein beeindruckendes, originelles und konzeptionell weit tragendes Werk - und zugleich als Vermittlungsleistung: Unangestrengt verbindet Wunder Geschichte mit Einsichten der Philosophie, Ökonomie, Literaturwissenschaft und Ethnologie; kenntnisreich und fair vermittelt sie zwischen mehreren Generationen und Kulturen von Geschichtswissenschaftlerinnen und Geschichtswissenschaftler; Mikro- und Makrogeschichte, Sozial- und Kulturgeschichte gehen in ihrem Werk eine so glückliche Verbindung ein, dass bekannte Familienzänkereien dagegen kleinlich anmuten. Ihre Verdienste um die Integration von Geschlechtergeschichte in andere Forschungsfelder treten in allen Teilen des Buches unverkennbar zu Tage. Gerne hätte ich mehr von den Auswahlkriterien der Herausgeberinnen erfahren (warum als Grenze der aufgenommenen Publikationen das Jahr 1995?), und mir fehlt eine Anerkennung von Wunders Leistungen für die Geschichtsdidaktik beziehungsweise ihrer Einführungswerke. Ihre an ein breiteres Publikum gerichteten Schriften (Gedanken zur Geschichte in den Medien, Ausstellungskommentare et cetera) hätten Erwähnung verdient, ebenso hätte man ihre Herausgeberinnentätigkeit etwas breiter würdigen können. Wenn allerdings mit diesem Band gezeigt werden sollte, wie erfrischend aktuell, wie dringend immer noch zur Lektüre zu empfehlen zahlreiche Schriften Wunders auch in Zukunft bleiben werden, dann ist dies den Herausgeberinnen aufs Beste gelungen!
Anmerkung:
[1] Wunder, Heide: "Er ist die Sonn, sie ist der Mond". Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992.
Monika Mommertz