Rezension über:

Winfried Süß: Der "Volkskörper" im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939-1945 (= Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 65), München: Oldenbourg 2003, 513 S., ISBN 978-3-496-56719-6, EUR 69,80
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Rezension von:
Rüdiger Hachtmann
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Rüdiger Hachtmann: Rezension von: Winfried Süß: Der "Volkskörper" im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939-1945, München: Oldenbourg 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/02/4132.html


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Winfried Süß: Der "Volkskörper" im Krieg

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Kaum ein Aspekt des NS-"Sozialstaats" war ideologisch so aufgeladen, kaum einer ist bisher zugleich so schlecht erforscht wie die Gesundheitspolitik des Hitler-Regimes. Das "Bisher" ist besonders zu betonen. Denn mit der Dissertation von Winfried Süß liegt schon allein angesichts des umfassenden, in zahllosen Archiven recherchierten, zudem übersichtlich präsentierten empirischen Materials (fast möchte man sagen:) eine Art Handbuch vor, das alle zentralen Felder der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik für die besonders schlecht erforschte Zeit des Zweiten Weltkrieges überzeugend 'abdeckt'. Weitere große Vorzüge der Arbeit sind der souveräne Umgang mit der historischen Forschung zur NS-Medizingeschichte und ebenso zur (allgemeinen) Herrschafts- sowie Sozialgeschichte des Dritten Reiches, außerdem die Fähigkeit, präzise und dennoch anschaulich zu formulieren, sowie der sorgfältige und problemorientierte Umgang mit den entscheidenden Kategorien.

Die Arbeit ist in zwei große Teile gegliedert (und um einen umfangreichen tabellarischen und kurzbiografischen Anhang ergänzt). Im institutionsgeschichtlichen ersten Teil über "das gesundheitspolitische Machtgefüge" widerlegt Süß den Mythos vom NS-Gesundheitswesen als einem homogenen Block, der in seinem Handeln zudem stringenten politisch-ideologischen Kriterien gefolgt sei. Dem im August 1939 als Nachfolger Gerhard Wagners zum "Reichsgesundheitsführer" ernannten Leonardo Conti gelang es zu keinem Zeitpunkt, allen oder auch nur den wichtigsten Feldern der NS-Gesundheitspolitik seinen Stempel aufzudrücken. Conti beherrschte - und auch das nur zeitweilig - lediglich größere Teile des (klassisch) staatlichen Gesundheitswesens; gegenüber den neuen, parteinahen Säulen des NS-Gesundheitssystem, die vor allem im Bereich der Sozial- und der Betriebsmedizin erheblichen Einfluss gewannen, blieb er machtlos. Die seit 1933/34 implementierten Gesundheitsdienste der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und vor allem der Deutschen Arbeitsfront expandierten, wie Süß genau zeigen kann, von 1939 bis 1942/43 nahezu ungebremst weiter. Die NSV und das DAF-"Amt für Gesundheit und Volksschutz" kappten nach der Amtsübernahme Contis die enge Bindungen an das NSDAP-"Amt für Volksgesundheit", die bis zum Sommer 1939 (Tod Gerhard Wagners) bestanden hatten, rasch und vollständig. Dies war nicht zuletzt deshalb möglich, weil die gesundheitspolitischen Einrichtungen beider "teilautonomen politischen Einheiten" Defizite schlossen: Die NSV versorgte die medizinisch zuvor eher vernachlässigte ländliche Armutsbevölkerung in finanzschwachen Gemeinden recht effizient; die DAF verstand es wenigstens zeitweilig gleichfalls ziemlich erfolgreich, das betriebliche Gesundheitswesen zunehmend flächendeckend und flexibel den kriegswirtschaftlichen 'Erfordernissen' (Leistungssteigerung, Senkung der Krankenstände et cetera) anzupassen.

Erst dem "Quereinsteiger" Karl Brandt, dem 1942/43 von Hitler persönlich installierten "General- und Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen", gelang wenigstens zeitweilig eine Zentralisierung der gesundheitspolitischen Entscheidungsstrukturen. Sein großer Vorteil war, dass nur er den entscheidenden unmittelbaren Zutritt zum "Führer" besaß, nicht dagegen Conti, Hilgenfeldt und Ley (dem Bormann seit 1942 den Weg verstellte). Brandt begnügte sich, ähnlich wie Todt und Speer, mit einem kleinen, die vorhandenen Institutionen lediglich koordinierenden "Führerstab"; er verfügte nicht über einen bürokratischen Unterbau wie die traditionellen Ministerien oder über eine starke organisatorische und politische Machtbasis wie Himmler und Ley (87).

Anschließenden Ausführungen zur Sozialbiografie des akademischen (Führungs-)Personals in der staatlichen Medizinalverwaltung, das stärker gehoben-mittelständisch geprägt war und Berufserfahrungen zumeist im öffentlichen Gesundheitswesen gesammelt hatte, während die Führungskräfte im NSDAP-eigenen oder -nahen Gesundheitswesen in der eigenen freien Praxis beruflich sozialisiert worden waren und der Partei deutlich (früher) näher standen, folgen Ausführungen zu den bisher wenig erforschten Gründen für Abbruch der "Aktion T 4" ("Euthanasie"). Hitler habe, so Süß, diese Entscheidung in erster Linie "nach politischen Opportunitätserwägungen" getroffen. Unruhen und Proteste, vor allem die Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen, trafen das Hitler-Regime in einer prekären Situation: Schon bald nach Eröffnung des "Ostfeldzuges" gegen die Sowjetunion war abzusehen, dass dieser sich nicht mit einem raschen "Blitzsieg" beenden ließ und ein Stimmungsumschwung in der Bevölkerung des "Altreiches" drohte; zudem konnten die Krankenmorde nicht geheim gehalten werden. Überdies besaß für Hitler die Eroberung des "Ostraumes" ideologische Priorität gegenüber der "Euthanasie"-Aktion. "Die Absicherung der plebiszitären Legitimation der NS-Herrschaft schien angesichts des Weltanschauungskrieges gegen die Sowjetunion vordringlicher als die Verwirklichung rassenhygienischer Utopien" (151). Die zweite, "wilde" Phase der Euthanasie wiederum, dies führt Süß in einem späteren Kapitel aus, sei "nicht durch eine einheitliche Strategie und zentrale Planung", sondern durch regionale Initiativen geprägt gewesen, "bei denen die Geisteskranken zwischen den verschiedenenartigen Interessen" der Handlungsträger vor Ort "förmlich zerrieben" worden seien (369).

Im zweiten, stärker sozialgeschichtlich orientierten Teil seiner Arbeit zu den "gesundheitspolitischen Problemen der Kriegsgesellschaft" konkretisiert Süß den angesichts der lange vorher angelaufenen, sonstigen Kriegsvorbereitungen überraschenden Befund, dass im Gesundheitswesen der Krieg kaum vorbereitet worden war. Es wurden kaum Hilfskrankenhäuser eingerichtet; schon bald traten Engpässe in der Arzneimittelversorgung auf; von einer wirksamen Lenkung der ärztlichen Versorgung konnte nicht gesprochen werden. Die Folge dieser Situation war, dass in der zweiten Kriegshälfte ausländische Mediziner ins "Altreich" geholt wurden, in insgesamt begrenztem Umfang. Vor allem kam es zu einer partiellen Feminisierung der deutschen Ärzteschaft; bis 1944 verdreifachte sich die Zahl der Ärztinnen gegenüber den Vorkriegsjahren auf bemerkenswerte 23 Prozent der Gesamtheit der Ärzte (203). Das Problem der medizinischen Unterversorgung (auch) der reichsdeutschen Bevölkerung konnte auch durch - kurzfristig durchaus erfolgreiche - Eingriffe des Generalkommissars Brandt auf Dauer freilich nicht gelöst werden, zumal infolge der Bombenangriffe die Zahl der verfügbaren Betten rasch sank (auf schließlich 45% der Friedenskapazität) und sich der Ärztemangel trotz verstärkter Ausbildungsanstrengungen kontinuierlich verschärfte.

Schutzimpfungen, dies skizziert Süß am Beispiel der Diphterie-Bekämpfung, wurden zögerlich und, zumal im internationalen Vergleich, spät sowie lediglich regional 'flächendeckend' durchgeführt. Exemplarisch für die Fleckfieberbekämpfung thematisiert Süß ein anderes Spezifikum der NS-Gesundheitspolitik: "Traditionelle seuchenpolizeiliche Strategien" konnten sich mit rassistisch-ideologischen Ressentiments mischen: "Bärtige 'Ostjuden' mit läusebefallenem Kaftan", ein gängiges antisemitisches Stereotyp, wurden zum Auslöser des Fleckfiebers, die Grenze zum eroberten "Ostraum", "gleichermaßen rassisch wie epidemologisch definiert" (225 f., 232).

In einem weiteren Kapitel diskutiert Süß ausführlich, in welch totalem Maße die betriebliche Gesundheitspolitik der Arbeitseinsatz- und Leistungspolitik untergeordnet wurde. Die Entwicklungen in diesem Bereich hält Süß mit Blick auf die fundamentale Neuordnung des Gesundheitssystems durch das NS-Regime meines Erachtens zu Recht für "ähnlich bedeutend wie die erbbiologische Wende des Jahres 1933"; denn die systematische Aufwertung des "systemexternen Kriteriums der Produktivität" zum alles bestimmenden Faktor nicht nur der Betriebsmedizin - nach dem Motto: "entweder Leistungsfähigkeit oder natürliche Ausmerze" - und die Umschichtung der ärztlichen Arbeitskraft "von der kurativen zur kontrollierenden Tätigkeit" "strukturierten das gesundheitspolitische Bezugssystem zum zweiten Male seit der nationalsozialistischen Machteroberung in entscheidender Weise um" (262 ff., 294). Am Beispiel des Umgangs mit Tuberkulose und Diabetes sowie schließlich der Versorgung alter Menschen skizziert Süß, was dies praktisch hieß: "Das Recht auf Gesundheit" wurde, je länger der Krieg dauerte, desto offensichtlicher, "aus der gesellschaftlichen Nützlichkeit hergeleitet", die schließlich "auch das Sterben der Patienten billigend in Kauf nahm" (295). Ideologische Konzepte und nationalsozialistische Standesethik konnten sich im ärztlichen Alltag freilich häufig nicht durchsetzen: "Offenbar bildeten langfristig gewachsene Bindungen zwischen Ärzten und Patienten eine Barriere gegen das Eindringen nationalsozialistischer Maximen in das medizinische Alltagshandeln" (374).

Süß hat mit seiner Dissertation nicht nur das Standardwerk zur nationalsozialistischen Gesundheitspolitik während des Zweiten Weltkrieges vorgelegt. Ihm sind darüber hinaus grundlegende Einsichten in die Struktur des Herrschaftssystems gelungen. So dient Karl Brandt ihm meines Erachtens zu Recht als markantes Exemplum dafür, dass Sonder- und Generalbevollmächtigte "mehr [waren] als nur herrschaftstechnische Instrumente zur Überwindung bürokratischer Beharrungskräfte. Indem sie die Präsenz Hitlers virtuell vervielfachten, erlaubten sie es dem Diktator, Machtressourcen an bestehenden bürokratischen Strukturen und Kompetenzverteilungen vorbei auf ihm vordringlich erscheinende Problemfelder zu lenken und seinen Willen an beliebigen Orten zur Geltung zu bringen, ohne sich dabei mit den Mühen kontinuierlichen Regierungshandelns zu belasten. Als Elemente mittelbarer Führerherrschaft filterten sie die Informationsströme und den Entscheidungsbedarf einer hochdifferenzierten Industriegesellschaft und reduzierten so die Komplexität politischer Entscheidungssituationen, ohne die letztinstanzliche Entscheidungsgewalt des Diktators infrage zu stellen. Die Kommissare des 'Dritten Reiches' vermittelten den Absolutheitsanspruch der charismatischen Führerdiktatur mit den Notwendigkeiten alltäglicher Problembearbeitung und ermöglichten so eine ideologiekonforme Anpassung dieses archaischen Herrschaftstypus an die komplexen Funktionserfordernisse einer modernen Gesellschaft. Insofern waren Sonderbeauftragte ein geradezu notwendiger Bestandteil von Hitlers charismatischer Herrschaft" (77; vergleiche auch 175 ff., 414 f.). Diese wichtige Bemerkung zu zentralen Elementen der NS-Herrschaftsstruktur, die sich um weitere ergänzen ließe, muss hier genügen - als Appetithappen, der auch diejenigen zur Lektüre des Werkes von Süß anregen soll, die sich nur begrenzt für die speziellen Probleme nationalsozialistischer Gesundheitspolitik interessieren.

Rüdiger Hachtmann