Henry Keazor: "Distruggere la maniera"? Die Carracci-Postille (= Rombach Wissenschaften. Quellen zur Kunst; Bd. 19), Freiburg/Brsg.: Rombach 2002, 147 S., 16 Abb., ISBN 978-3-7930-9307-7, EUR 15,30
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Paolo Coen: Il mercato dei quadri a Roma nel diciottesimo secolo. La domanda, l'offerta e la circolazione delle opere in un grande centro artistico europeo, Florenz: Leo S. Olschki 2010
Melissa Calaresu / Helen Hills (eds.): New Approaches to Naples c.1500 - c.1800. The Power of Place, Aldershot: Ashgate 2013
Henry Keazor / Fabienne Liptay / Susanne Marschall (Hgg.): FilmKunst. Studien an den Grenzen der Künste und Medien, Marburg: Schüren-Verlag GmbH 2011
Henry Keazor / Tina Öcal (Hgg.): Der Fall Beltracchi und die Folgen. Interdisziplinäre Fälschungsforschung heute, Berlin: De Gruyter 2014
Henry Keazor: Raffaels Schule von Athen. Von der Philosphenakademie zur Hall of Fame, Berlin: Wagenbach 2021
Die Aufmerksamkeit, die die römische Variante der Idea del Bello in den letzten Jahren gefunden hat - es sei etwa an die gleichnamige römische Ausstellung des Jahres 2000 erinnert - , ist auch der Diskussion um die genuinen kunsttheoretischen Positionen der Carracci zuteil geworden. Lange genug hatte die Kanonisierung des römischen Wirkens von Annibale und Agostino Carracci durch Giovanni Pietro Bellori und Carlo Cesare Malvasia einer kritischen Inspektion der authentischen Texte so im Wege gestanden, dass die kunsttheoretische Position der Carracci nur durch die Brille ihrer Apologeten und Historiographen gesehen wurde. Trotz Denis Mahons wegweisenden "Studies in Seicento Art and Theory" (1947) blieb der intellektuelle Anteil der Carracci an der Herausbildung des akademischen Ideals und seines Vokabulars lange unscharf.
Ein prominenter Bestandteil ihrer inhomogenen schriftlichen Hinterlassenschaft sind die Randbemerkungen zu Vasaris Künstler-Viten, deren Autorschaft seit dem 17. Jahrhundert umstritten ist, was mit der komplizierten Überlieferungsgeschichte dieser Texte zusammenhängt; sie liegen in vier variierenden Versionen vor. Bellori (1672) schrieb einzelne Glossen Annibale Carracci zu, Malvasia (1678) sah Agostino Carracci als ihren Urheber an, während eine andere Überlieferung Ludovico Carracci dafür verantwortlich machte, der das Original besessen hat. Nach übereinstimmender Ansicht ist dieses Original in dem erst 1972 entdeckten Exemplar der Bibliothek des Archiginnasio in Bologna zu erkennen, das 1979 von Mario Fanti erstmalig ediert und 1990 von Giovanna Perini für die Gesamtausgabe der Schriften der Carracci berücksichtigt wurde. Die für die hier vorgelegte Edition getroffene Auswahl beschränkt sich auf die 45 Randglossen, die auf Grund grafologischer Vergleiche für Annibale Carracci gesichert sind.
Als ihr Entstehungsdatum gelten die Jahre 1593-1594. Die Übersetzung ins Deutsche weicht teilweise erheblich von der sprachlich zwar veralteten, aber sorgfältigen Übersetzung durch Hubert Janitschek (1879) ab, die in den Fußnoten mitgeteilt wird, aber nicht alle der hier abgedruckten Postillen enthielt. Die Fehler der Transkription Heinrich Bodmers (1939) nach den Abschriften in Siena und in der Biblioteca Vaticana wurden korrigiert. Zugleich sind die durch diese Edition ermöglichten Ergänzungen der auf Grund des späteren Beschnitts fehlenden Partien des Originals kenntlich gemacht.
Abweichend von den italienischen Editionen sind die durch ihre aphoristische Kürze und ihre unverblümte Ausdrucksweise prägnanten Texte in der vorliegenden zweisprachigen Edition nach thematischen Kriterien sortiert: 1. Kritik an der manieristischen Malerei, 2. Künstlerische Ausbildung und Selbstkritik, 3. Kritik am toskanischen Hegemonie-Anspruch. Der letzte, in drei weitere Kategorien unterteilte Abschnitt ist der Menge der Glossen nach der umfangreichste. Hier geht es um die Verteidigung der lombardischen, emilianischen und venezianischen Schule und um die Kritik an Vasari. Schon früh haben sich die Postillen (die hier durchwegs in Entsprechung zum italienischen Plural als "Postille" bezeichnet werden, obwohl der deutsche Plural gebräuchlich ist) verselbstständigt. Dies wird daran deutlich, dass die Texte in den beiden Abschriften in Siena und der Biblioteca Vaticana aus ihrem Kontext gelöst sind. Als ihre gemeinsame Quelle vermutet man eine um 1627 entstandene und bislang nicht nachgewiesene Abschrift. Die dritte erhaltene Abschrift der Biblioteca Corsiniana in Rom findet sich dagegen in einem Exemplar der Edizione Giuntina , wobei die jeweiligen Textstellen markiert sind.
Es ist gerade vor diesem Hintergrund nicht einsichtig, warum hier auf die relevanten Textpassagen aus der für die Postillen benutzten Edition der Viten Vasaris verzichtet wurde. Abgesehen davon, dass nicht jedem Benutzer die als einzige Referenz angegebene Edition von Rossana Bettarini und Paola Barocchi (1967-1987) zur Verfügung stehen dürfte, sind die Postillen so kurz, dass weitere Texte auf den nur halb gefüllten Seiten Platz gehabt hätten. In einigen Fällen ist das Verständnis der Postille in der deutschen Übersetzung durch den Verzicht auf den Kontext deutlich erschwert. So wird in Postille 7 der Sinn von peccare missverstanden, da das Wort aus dem Zusammenhang, in dem es Vasari gebraucht, gelöst ist. Er würde deutlich machen, dass Vasari das Wort nicht im Sinne von "sündigen" verwendet (siehe Fußnote 7 auf Seite 17), sondern im Sinne von "irren" beziehungsweise "fehlen". Das Wortspiel der Postille, das darauf beruht, dass der Kommentator seinerseits Vasaris Aussage als irrig definiert, geht in der Übersetzung verloren. Außerdem verschiebt sich die inhaltliche Aussage in Richtung eines moralischen Verdikts, was jedoch nicht den Kern der Sache trifft.
Eine der Fragen, die die vorliegende Übertragung aufwirft, betrifft die kunsttheoretischen Vorgaben und den sprachlichen "Modus" der Übersetzung, an dem sich der Bearbeiter orientiert hat. Da der italienische Text mit umgangssprachlichen Worten gespickt ist, wäre es notwendig gewesen, die idiomatischen Brechungen in der Übersetzung zu berücksichtigen und sie zu kommentieren. Dafür ein Beispiel: Der kurze und nicht leicht verständliche Kommentar der 8. Postille lautet: "Il Vasari intende di se se stesso. Che bestia." Er bezieht sich auf den Passus in der Vita Tizians, in dem Vasari berichtet, dass Herzog Cosimo de' Medici nicht auf das Angebot des Venezianers eingegangen sei, ihn zu porträtieren: "forse per non far torto a tanti nobili artefici della sua città e dominio." Die Übersetzung ("Vasari meint zwangsläufig immer sich selbst. Was für ein Esel.") forciert diese Kritik. Korrekter wäre es, die Formulierung di se als "von selbst" (vergleichbar dem lateinischen per se = an sich, von selbst) zu verstehen, etwa: "Vasari meint an sich sich selbst". "Bestia" mit Esel zu übersetzen, ist schlichtweg falsch. Carraccis Kommentar apostrophiert nicht die Dummheit des Esels, sondern verbalisiert die Abscheu über Vasaris unverhohlenes Eigeninteresse. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff ignoranza, der durchwegs mit Dummheit übersetzt wird. Damit wird die Tragweite dieses Begriffes ausgeblendet, der zugleich auf sein positives Pendant verweist. Nach Cesare Ripa (1603) ist ignoranza ein Laster, das auf der Missachtung der Wissenschaften beruht. Insgesamt vermisst man ein zweisprachiges Glossar zu den kunsttheoretischen Begriffen, das den durch die Reihe apostrophierten Anspruch auf ein handliches Manual besser eingelöst hätte.
Der Gewinn der auf Annibale beschränkten Auswahl der Postillen und ihrer thematischen Anordnung besteht darin, dass sie eine verlässliche Grundlage für die Diskussion um die Ursprünge der Doktrin des Ideale classico bereitet, die nun mit den übrigen Schriften aus dem Umkreis und der Nachfolge der Carracci verglichen werden muss, um präzisere Aussagen über die Genese der kunsttheoretischen Konzepte des für die Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts so folgenreichen Konzeptes der Carracci zu ermöglichen. Der titelgebende Essay, der eine Formulierung von Andrea Emiliani (1989) aufgreift, um sie vor dem Hintergrund der Quellentexte in Frage zu stellen, macht damit einen Anfang, indem er einige der gängigen Topoi hinterfragt, mit denen die Carracci bis heute assoziiert werden. Dies gilt für das didaktische Programm ihrer zum Prototyp erhobenen, aber schwer fassbaren Akademie, und zwar beim Studium der Anatomie und nach dem lebenden Modell, sowie für die Einschätzung der Motivübernahmen im künstlerischen Werk. Gestützt auf die Untersuchungen von Carl Goldstein (1988), Charles Dempsey (1989) und Roberto Zapperi (1990) werden am Beispiel der "Metzgerei" (circa 1582/1583) bisherige Urteile über die mit diesem Bild bezweckten Aussagen revidiert. Die Natürlichkeit der körperlichen Erscheinung (naturalez[z]a) wird von Annibale Carracci eingesetzt, um die Metamorphose der entlehnten Motive zu einer aus der eigenen Anschauung gewonnenen Gestaltung zu bewirken und um sie von der maniera zu befreien. Mit diesem aus der Synthese entwickelten Fazit wird der Bogen zu den Postillen geschlagen, ohne dass dies noch einmal deutlich artikuliert wird. Dennoch ist der Zusammenhang der Randglossen mit dem künstlerischen Vorgehen der Carracci evident, das die maniera der Florentiner und ihre formalen Motive (etwa die figura serpentinata) gezielt aufgriff, um sie aus den Angeln zu heben. Die beißende Kritik der Postillen am toskanischen Hegemonie-Anspruch und an Vasari erweist sich somit als Teil der Strategie, mit der Annibale Carracci der Kunst eine neue Richtung gegeben hat.
Steffi Roettgen