Rezension über:

Susanne Kuß / Bernd Martin (Hgg.): Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand (= Erfurter Reihe zur Geschichte Asiens; Bd. 2), München: Iudicium 2002, 298 S., ISBN 978-3-89129-781-0, EUR 29,80
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Rezension von:
Dierk Walter
Hamburger Institut für Sozialforschung
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Zimmerer
Empfohlene Zitierweise:
Dierk Walter: Rezension von: Susanne Kuß / Bernd Martin (Hgg.): Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand, München: Iudicium 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/02/4427.html


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Susanne Kuß / Bernd Martin (Hgg.): Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand

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Bei Sammel- und Tagungsbänden anlässlich historischer Jubiläen liegt nicht erst seit der allgemeinen Akzeptanz postmoderner Kaleidoskopblicke der Verdacht der Buchbindersynthese zu Recht nahe. Das gilt nicht zuletzt deswegen, weil bei der auf ein historisches Einzelereignis zentrierten Abhandlung verschiedener Aspekte oder Zugänge ein systematischer Ansatz und eine übergreifende Fragestellung beinahe per definitionem ausscheiden. Die Herausgeber dieses aus einer Freiburger Tagung (Juni 2000) zum "Gedenken" (so in der Tat auf Seite 9) an den Boxeraufstand 1900/01 hervorgegangenen Sammelbandes machen daher wohl auch folgerichtig noch nicht einmal den Versuch, ihrem Bändchen ein gesamthaftes Erkenntnisinteresse oder eine überwölbende These zuzuschreiben. Dies hätte angesichts der ausgesprochenen inhaltlichen (und qualitativen) Heterogenität der hier vereinten Beiträge auch gesucht gewirkt.

Nehmen wir das Werk also zum Nennwert, nämlich als mehr oder weniger zufällig zusammengestellten Überblick über ein zwar zeitlich eng abgegrenztes, aber aufgrund der Vielzahl der internationalen Akteure etwas unübersichtliches Forschungsgebiet, mit dem erklärten Interesse (9), als Anregung für weitere Forschungen zu dienen. Dieser Wunsch scheint spontan recht optimistisch. Allein schon, weil vermutlich nach dem Verebben der durch die hundertjährige Wiederkehr des Ereignisses angestoßenen Forschungswelle ein erhöhtes Interesse für den Boxerkrieg vor dem nächsten Jubiläum 2100/01 eher unwahrscheinlich ist. Inhaltlich ist richtig, dass eine überzeugende Interpretation der Ereignisse von 1900/01, als einem der wenigen Beispiele einer kollektiven europäischen Intervention in Außereuropa, unter vielen aktuellen Aspekten, speziell mit dem Blick auf die Rolle militärischer Gewalt in der internationalen Politik im 21. Jahrhundert, im Ansatz recht verdienstlich sein könnte. Ob dieses Bändchen da schon viel bringt, bleibt abzuwarten; der Rezensent ist skeptisch.

Das gilt nicht zuletzt deswegen, weil die Mehrheit der hier versammelten Beiträge vor allem für eines Zeugnis ablegen: für die im Bereich der Überseegeschichte besonders ausgeprägte Spezialisierung und Atomisierung der Forschung. Einige der Aufsätze scheinen nicht nur selbst als Ausfluss des Dranges entstanden zu sein, einen nun einmal vorhandenen Aktenbestand ungeachtet seiner fragwürdigen Relevanz lückenlos abzuarbeiten, sondern auch hauptsächlich deswegen in den Band Aufnahme gefunden zu haben, weil sie (wie der Mount Everest) eben da waren. Entsprechend dürfte selbst der wohl wollende Leser Mühe haben, einen Zusammenhang zwischen dem mangelnden Alkoholgehalt der für S.M.S. Kaiserin Elisabeth gelieferten Wein oder dem sicher beachtenswerten (und daher auch in epischer Breite geschilderten) Passieren der inneren Wusong-Barre durch S.M.S. Kaiserin und Königin Maria Theresia mit nur sechs Zoll Wasser unter dem Kiel (224-226) und der gesamthistorischen Bedeutung der europäischen Intervention in China herzustellen. Entsprechendes gilt für die Behandlung von Geschlechtskrankheiten österreichischer Matrosen in Japan (jawohl, nicht in China: 120), wie ja übrigens ohnehin nicht ganz ersichtlich ist, was gleich zwei Beiträge über Österreich in einem Buch über das Deutsche Reich und den Boxeraufstand verloren haben.

Insgesamt überwiegt bei den Beiträgen die quellennahe Aufarbeitung ereignisgeschichtlicher Details (aufschlussreicher Weise beklagt denn auch einer der beiden Herausgeber als Hauptdefizit der Forschung zum Boxerkrieg, dass die anscheinend reichlich vorhandenen Außenamts- und Heeresaktenbestände bislang kaum genutzt wurden: 78); die Reflexions- oder Synthese-Ebene wird eher selten angestrebt und noch seltener erreicht. Der selbst nicht mit dem Thema vertraute Leser weiß daher am Ende des Bandes viel über Seesoldaten, Matrosen, Diplomaten, Kaiserreden und Kaiserinnenbriefe, Gesandte, Boxer, Panzerschiffe und Pferdefutter, aber wenig über den Boxeraufstand insgesamt. Positiv hervorzuheben ist hinsichtlich einer durchdachten Gesamtinterpretation mit gewissem Erklärungsanspruch lediglich Thoralf Kleins Analyse von kulturellen Deutungsmustern und Niels P. Peterssons Interpretation des Boxerprotokolls in den Begriffen imperialer Intervention. Als abschreckendes Beispiel missglückter Reflexion muss hingegen der Beitrag von Susanne Kuß gelten, der den ohnehin im Kontext deplatzierten und dann auch noch gründlich missverstandenen Topos des Vernichtungskrieges zu einer eifernden Generalanklage gegen die deutsche Kolonialkriegführung missbraucht. Etwas mühsam ist ferner auch der Aufsatz von Bernd Martin über die Ermordung des deutschen Gesandten Ketteler, nicht zuletzt wegen einiger (eventuell allzu ausgeprägter Quellennähe geschuldeter) sprachlicher Entgleisungen; so etwa der Schilderung der Erstürmung der Taku-Forts, "bei der sich das deutsche Kanonenboot 'Iltis' mutig hervortat" (87); wie man sich ein mutiges Kanonenboot vorstellen darf, ist dem Rezensenten ein Rätsel geblieben. Ebenso bleibt fraglich, was Martin genau damit meint, dass sich "ein Boxer sogar auf der Gesandtschaftsstraße anmaßend zeigte" (86 f., kein Zitat!). "Wie Tontauben wurden sieben oder acht Boxer auf der Mauer abgeknallt" (86, erneut kein Zitat) sollte wohl besser überhaupt unkommentiert bleiben.

Die übrigen Beiträge des Bandes sind in der Regel solide und überwiegend auch gut lesbare Abhandlungen von Einzelaspekten, mit dem Schwerpunkt eindeutig auf dem militärhistorischen Aspekt (insgesamt vier Beiträge zum Einsatz deutscher und österreichisch-ungarischer Land- und Seestreitkräfte); hierbei hat dem Rezensenten besonders Wolfgang Petter zur deutschen Marine gefallen, auch sprachlich ein Höhepunkt. Beachtlich ist, zumal gemessen daran, dass es sich bei den beiden Autoren (immer noch?) um Studenten handelt, die Analyse der so genannten Hunnenbriefe von Ute Wielandt und Michael Kaschner. Interessant und weiterführend ist auch die Untersuchung der Nachgeschichte durch Klaus Mühlhahn, der nicht nur die kulturelle Bedeutung und protokollarische Inszenierung des Sühnegedankens, sondern auch die anhaltende Wichtigkeit des Erinnerns an die "Nationale Schande" von 1901 im modernen Rotchina erhellt.

Unerfreulich ist an dem Band wieder einmal die formale Gestaltung. Aus schwer nachvollziehbaren Gründen haben die Herausgeber oder der Verlag zwar begrüßenswerter Weise auf Fußnoten nicht verzichtet, aber dennoch den Text durch in Klammern nachgestellte Literaturnachweise in Soziologenmanier weithin unlesbar gemacht. Dass diese Verweise auch gleichzeitig wenig hilfreich sind, sei nur am Rande bemerkt: Hinter "Lepsius et al. [Hgg.] 1923-1927" die "Große Politik" zu vermuten, darauf muss man erst einmal kommen. Der Lesbarkeit ebenfalls nicht gerade förderlich ist ferner die Unsitte, alle Ortsnamen in moderner anstelle der dem deutschsprachigen Leser vertrauten zeitgenössischen Umschrift wiederzugeben. Hinter "Yangzi" den Fluss Jangtse und hinter den "Dagu-" die Takuforts auszumachen, fällt noch relativ leicht; "Qingdao" mit Tsingtau und "Jiaozhou" mit Kiautschou zu identifizieren, gelingt aus dem Kontext halbwegs, aber bei vielen anderen Orten hilft nicht einmal mehr Raten. Das ist alles ganz sicher sprachwissenschaftlich und vor allem politisch korrekt, aber erschwert die Lektüre selbst für den interessierten Leser ganz erheblich und unnötig. Wenn schließlich gar bei Quellenzitaten der zeitgenössischen Umschrift in Klammern die moderne nachgestellt, also das Übliche mit dem Unüblichen "erklärt" wird (214-226), dann wird das ganze zur Manier und gipfelt bei "Peking [Peking]" (218) im Albernen. Schließlich sind auch beinahe alle Autoren der zurzeit grassierenden Unsitte erlegen, im Zweifel aber auch alles in Anführungszeichen zu setzen und damit den Textfluss womöglich noch mehr zu unterbrechen (Speziell gehören Schiffs- und Zeitungsnamen nicht zwischen Gänsefüßchen.).

Fazit: An sich interessant, aber eben doch sehr disparat. Man wünscht sich für die vermutlich drohenden Bände der weiteren Gedenkkonferenzen (9) etwas mehr Kohärenz, sorgfältigere Auswahl und gegebenenfalls Kürzung der Beiträge nach Gesichtspunkten der Relevanz, und vor allem ein leserfreundlicheres Lektorat. Wenn man Forschungsanstöße geben will, sollte man den Leser einbeziehen, nicht abschrecken.

Dierk Walter