Willy Brandt: Die Partei der Freiheit. Willy Brandt und die SPD 1972-1992. Bearb. von Karsten Rudolph (= Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Berliner Ausgabe; Bd. 5), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2002, 632 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8012-0305-4, EUR 27,60
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Roger Chickering / Stig Förster / Bernd Greiner (eds.): A World at Total War. Global Conflict and the Politics of Destruction, 19371945, Cambridge: Cambridge University Press 2005
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In der Mitte des Fotos steht er, Willy Brandt, der alte Mann und Ehrenvorsitzende der deutschen Sozialdemokratie, die Hände auf der Vereinigungsurkunde von West- und Ost-SPD. Es ist der 27. September 1990 in Berlin. Brandt lächelt nicht, schaut aber doch glücklich und zufrieden. Links neben ihm: Hans Jochen Vogel, Brandts Nachfolger im Amt des Parteivorsitzenden, rechts von ihm: Wolfgang Thierse, Vorsitzender der Ost-SPD, und leicht abgesetzt und ohne die Hand auf der Urkunde: Oskar Lafontaine, Brandts "Lieblings-Enkel" und Kanzlerkandidat. Die Vereinigung beider Sozialdemokratien und der Fall der Mauer bedeuteten für Brandt die Erfüllung eines lang gehegten Traumes. Früher als andere in seiner Partei hatte er die Risse innerhalb des Eisernen Vorgangs wahrgenommen. Doch während Brandt schon von der Chance der Einheit und dem Selbstbestimmungsrecht der Deutschen redete, betonte die "Enkel-Generation" - und hier vor allem Oskar Lafontaine - die ökonomischen und sozialen Probleme der Wiedervereinigung, ihre Kosten und Gefahren. Die für die Presse gemachte Aufnahme verwies so ungewollt auf jene grundsätzlichen programmatischen und generationellen Dissonanzen, die zwischen Brandt und Teilen der durch die Studentenbewegung geprägten Partei in den Jahren nach 1989 bestanden, als sein beherzter Wiedervereinigungs-Kurs von vielen, die ihn einst hoch verehrten, kaum verstanden wurde.
Dem Verhältnis Willy Brandts zu seiner Partei von 1972 bis zu seinem Tod am 8. Oktober 1992 ist der Band 5 der "Berliner Ausgabe" der Bundeskanzler Willy-Brandt-Stiftung gewidmet. Es sind dies die Jahre seines größten politischen Erfolges: des überragenden Wahlsieges der sozial-liberalen Koalition, der Guillaume-Affaire, von Brandts erstaunlichem "Come back" seit Mitte der Siebzigerjahre, als er befreit von der täglichen Regierungslast und getragen von seinem Amt als SPD-Parteivorsitzender auf die Bühne der Weltpolitik zurückkehrte, schließlich die Jahre wachsender innerparteilicher Konflikte, um die Öffnung der SPD zu den neuen sozialen Bewegungen, des Machtverlusts 1982 und seines Rücktritts vom Parteivorsitz nach einem bizarren Streit um die Ernennung einer neuen parteilosen Pressesprecherin.
Zu diesem Zeitpunkt, 1987, empfanden vor allem Vertreter des rechten Parteiflügels ihren charismatischen Vorsitzenden zunehmend als Belastung. Die verlorene Bundestagwahl von 1986, als Brandt den Eindruck entstehen ließ, er verhalte sich gegenüber dem Kanzlerkandidaten Johannes Rau illoyal und traue dem Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen keinen Sieg zu, hatte Brandts innerparteilichem Ansehen deutlich geschadet. Hinzu kam die schwelende Führungskrise, die sich um die Frage drehte, wer nach Brandt die Partei führen sollte: Vogel oder Lafontaine. Brandt, so konnte man den Eindruck gewinnen, hatte die Zügel nicht mehr in der Hand. "BMW - Brandt muss weg" (63), lautete deshalb die Forderung des ehemaligen SPD-Finanz- und Verteidigungsministers Hans Apel.
Kernstück der von Karsten Rudolph abgewogen und klug eingeleiteten Dokumente ist der Schriftwechsel zwischen Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt. Die 35 Briefe, die aus dem Nachlass Brandt, dem Depositum Schmidt und dem Nachlass Wehner stammen, geben einen Einblick in das schwierige persönliche Verhältnis, die unterschiedlichen Stilformen und Politikkonzepte von drei tragenden Säulen sozialdemokratischer Politik. Schmidt war, wie Rudolph überzeugend zeigt, der "energische und ungeduldige Antreiber" und "nüchtern-pragmatische Politikmanager" (28 f.), während Wehner, persönlich empfindsamer als man das in der Öffentlichkeit und der Fraktion bisweilen spüren konnte, vor allem der Machtpolitiker und Mann der Organisation war. Brandt dagegen verkörperte in diesem eigenwilligen und erfolgreichen Triumvirat den "modernen" Parteivorsitzenden, den Mann mit dem Gespür für Zwischentöne, für Dialog und für die Notwendigkeit, die unterschiedlichen Intereressen zu integrieren. Meinungsverschiedenheiten versuchten die drei zunächst nicht in den Gremien der Partei auszutragen, sondern verlagerten Absprachen und Gespräche ins Vorfeld entscheidender Sitzungen. Trotz aller Verwerfungen, die vor allem das Verhältnis zwischen Brandt und Wehner betrafen, arbeitete das Führungsgespann aus Kanzler, Partei- und Fraktionsvorsitzendem bis Anfang der 1980er-Jahre, bis zum endgültigen Bruch des persönlichen Verhältnisses zwischen Brandt und Wehner, weitgehend sachlich zusammen. Brandt und Schmidt schafften es, trotz aller politischen Differenzen, immer wieder eine gemeinsame Gesprächsbasis zu finden und die Hochachtung vor einander nie zu verlieren. "Wir haben einander", fasste Schmidt es später zusammen, "nie den Respekt versagt, auch dann nicht, wenn wir wirklich verschiedener Meinung waren" (29). Konflikte gab es viele, allen voran der innerparteiliche Streit um den NATO-Doppelbeschluss und der Zwist um Brandts Sympathien für die Friedensbewegung, in der Schmidt eine Form von Illoyalität wähnte. So konsensorientiert Brandts Führungsstil in der Regel war, so konnte er doch, fühlte er sich in Bedrängnis, seine Position schneidend und kämpferisch vertreten. Und so wies er Schmidt im November 1982, nach dem Bruch der Koalition, darauf hin: "Meine eigene Bilanz sieht so aus, dass ich mich, wie es angesichts realer Gefahren des Auseinanderdriftens die Pflicht des Vorsitzenden ist - um den Zusammenhalt unserer Partei bemüht und mich zugleich dafür eingesetzt habe, dass der Bundeskanzler und die Arbeiter seiner Regierung angemessen unterstützt wurden. Und zwar auch in Situationen, die mir einiges abverlangten, und gelegentlich unter Bedingungen, die bis hart an die Grenze meiner Selbstachtung gingen. [...] In Wirklichkeit musst Du es selber wissen, dass Du ohne mich kaum länger wohl eher kürzer und vielleicht mit weniger Erfolg im Amt gewesen wärst" (391 f.).
Die Briefwechsel, Stellungnahmen und Reden zeigen zugleich einen Brandt, der sich in weitaus stärkerem Maße in das politische Alltagsgeschäft der sozial-liberalen Regierungskoalition einmischte, als dies in neuen biografischen Arbeiten bislang deutlich geworden ist. Das galt für Personalangelegenheiten in der Partei und den Ministerien, aber auch für Fragen der Sozial- und Gesellschaftspolitik, die ihm keineswegs gleichgültig waren. Der Band leistet mit seinem facettenreichen Blick auf die Politikpraxis des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der Bundesrepublik einen wichtigen Beitrag nicht nur für weitergehende biografische Arbeiten, sondern auch, allgemeiner, für die künftige Erforschung der Siebziger- und Achtzigerjahre, für die Geschichte der sozial-liberalen Koalition unter Helmut Schmidt und den schwierigen sozial-kulturellen, programmatischen und generationellen Wandlungsprozess der SPD im Zuge der Studentenbewegung. Viel mehr kann man von einer Edition, die zumal für ein breites Publikum gedacht ist, nicht erwarten.
Dietmar Süß