Martina Schattkowsky (Hg.): Witwenschaft in der Frühen Neuzeit. Fürstliche und adlige Witwen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; Bd. 6), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2003, 463 S., ISBN 978-3-936522-79-2, EUR 45,00
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Seit den 1990er-Jahren hat sich im Anschluss an internationale Trends auch in der deutschen Mediävistik und Frühneuzeitforschung ein Arbeitsgebiet herausgebildet, das den Lebensabschnitt "Witwenschaft" aus sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive untersucht. Entsprang die "historische Witwenforschung" zunächst dem Zusammenhang mit frauen- und geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen, so werden Lebensbedingungen und Existenzformen verwitweter Frauen inzwischen von vielen verschiedenen Richtungen her thematisiert.
Der vorliegende Band etwa verknüpft das Thema "Witwenschaft" unter anderem mit der Hof- und Residenzenforschung, einem ebenfalls jungen, interdisziplinär angelegten Zweig. Martina Schattkowsky präsentiert die Ergebnisse einer Tagung, die im Zusammenhang mit dem Ausstellungsprojekt "Schloß Rochlitz - Residenz und Witwensitz" 2001 auf dem Schloss selbst stattfand. Diese Ausstellung soll in Räumen des so genannten Fürstenhauses auf Rochlitz, das derzeit renoviert wird, die Funktion des Schlosses als (Witwen-)Residenz vor Augen führen, indem sie das Alltagsleben fürstlicher Witwen - vom Wohnumfeld über die Herrschaftsausübung bis zu Äußerungen fürstlichen Selbstverständnisses - dokumentiert.
Mit den fürstlichen und adligen Witwen wird hier eine soziale Gruppe erfasst, deren Umfang und Bedeutung im Zuge aktueller Forschungen zu Familie und Verwandtschaft im Adel, zu Dynastie und Herrschaftssicherung allmählich sichtbar wird. Stichwortartig sei hier die hohe Witwenzahl im Hochadel erwähnt, die unter anderem aus der gängigen (Wieder-)Verheiratung älterer Männer mit jüngeren Frauen resultierte (Karl-Heinz Spieß nennt im vorliegenden Band für die Reichsfürsten eine exemplarisch ermittelte "Witwenrate" von 75 % gegenüber 72 % im englischen Hochadel). Ebenso frappierend ist die manchmal jahrzehntelange Dauer des Witwenstandes und die damit einhergehende Chance, langfristig Politik mitzugestalten - bis hin zur Ausübung der faktischen Regierung anstelle der Enkel. Materieller Lebenszuschnitt und Handlungsspielräume von Witwen unterschieden sich dabei selbst innerhalb des Hochadels beträchtlich, wie die hier vorgelegten Studien zeigen.
Der Sammelband gliedert sich in fünf thematische Komplexe. Unter der Rubrik "Schloß Rochlitz als Residenz und Witwensitz" skizziert zunächst André Thieme den Ausbau des mittelalterlichen Schlosses zu einem modernen, komfortablen Wohnsitz (mit Fußbodenheizung im Fürstenhaus!) und bewertet die aus Rochlitz fließenden Einnahmen als ausreichend "zu standesgemäßem Residieren und Repräsentieren". Maike Günther erläutert die Konzeption der auf Rochlitz einzurichtenden Dauerausstellung. Bei dem Ausstellungsprojekt wird leider die wichtige Frage der architektonischen Binnengliederung und Raumnutzung ausgeklammert, sodass das Leben auf dem Schloss gewissermaßen ohne Gehäuse bleibt. Da Maike Günther zufolge zahlreiche Inventare des 15. und 16. Jahrhunderts vorhanden sind und erste Untersuchungen zur Baugeschichte vorliegen, ist zu hoffen, dass deren Auswertung noch in die Ausstellung einfließen kann.
Im Abschnitt "Rechtliche Rahmenbedingungen für die Lebenspraxis verwitweter Fürstinnen" untersuchen Karl-Heinz Spieß (vergleichend zum Hochadel) und Ute Essegern (zu Kursachsen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts) die Bestimmungen von Ehe- und Wittumsverträgen zur Witwenversorgung und fragen nach ihrer konkreten Umsetzung. Das "normative System" der Urkunden ließ offensichtlich den Regenten beträchtliche Gestaltungsspielräume. Ob eine fürstliche Witwe materiell gut gestellt war oder eher kümmerlich ihr Dasein fristete, ob sie auf ihrem Witwensitz in das Familiennetz integriert blieb oder an einen abgelegenen, womöglich baufälligen Ort abgeschoben wurde, hing unter anderem davon ab, welche familialen Konstellationen beim Zeitpunkt der Verwitwung gegeben waren und inwieweit der neue Regent die Regelungen des Ehevertrags erfüllen konnte oder wollte.
Der Abschnitt "Orte, Formen und Stile von Witwenschaft" versammelt einzelbiografische Studien im zeitlichen Rahmen vom späten 15. bis zum frühen 18. Jahrhundert (von Pauline Puppel, Günther Wartenberg, Ira Koch, Stephanie Marra, Silke Lesemann) sowie eine vergleichende Arbeit von Brigitte Streich über "Politische Gestaltungsmöglichkeiten fürstlicher Witwen in der Frühen Neuzeit". Anna von Nassau (um 1440-1514), Margarethe von Diepholz (um 1527-1593) und Elisabeth von Calenberg (1510-1558) werden hier als Vormundschaftsregentinnen, als Hof- und Haushaltsvorstand, als Organisatorinnen von sparsamer Wirtschaft und moderner Verwaltung charakterisiert, die in puncto Persönlichkeit, Antrieb und Handeln manche Gemeinsamkeit aufweisen.
Um "Selbstinszenierung und kulturelle Wahrnehmung von Witwen" geht es in den Beiträgen von Gesa Ingendahl, Beatrix Bastl, Jill Bepler und Allison Levy. Jill Beplers vergleichende Studie über drei belesene, schriftstellerisch aktive Fürstinnen, die sich "durch Publikationen von Erbauungsschriften in ihrer spezifischen Eigenart als Witwen an die Öffentlichkeit wandten", ist über die Figur der Elisabeth von Calenberg beziehungsweise von Braunschweig-Lüneburg mit den Aufsätzen von Brigitte Streich und Karl-Heinz Spieß verbunden. Das von Elisabeth verfasste Witwentrostbuch (1556 gedruckt, bis 1609 fünfmal neu aufgelegt!) wird hier als Ausdruck reformatorisch geprägter Frömmigkeit den Schriften zweier Fürstinnen von Hessen-Darmstadt aus dem 17. Jahrhundert gegenübergestellt. Sophia Eleonora und Magdalena Sibylla wollten das Gedenken an den verstorbenen Fürsten wahren und ein memento mori liefern. Die eine präsentierte sich in einem selbst entworfenen und gestalteten Funeralwerk ("Mausoleum") für ihren verstorbenen Mann in der Gestalt der Königin Artemisia, die das Grabmal des Königs Mausolos (eines der sieben Weltwunder) vollendete; die andere schuf zum Gedächtnis ihres Mannes eine künstliche Grotte, in die sie sich trauernd zurückzog und die sie in Wort und Bild ausführlich beschrieb. Allison Levy schließt nahtlos an die Gedächtnisthematik an, indem sie "Widow Portraiture as memorial strategy in early modern Florence" behandelt. Sie geht der Frage nach, warum männliche Mitglieder der Medici-Familie Portraits ihrer Ehefrauen und Mütter als Witwen in Auftrag gaben - und zwar manchmal Jahre vor dem Zeitpunkt der Verwitwung.
Im letzten Komplex über "Lebensalltag von Witwen zwischen Ökonomie, Politik und Kunst" markiert Anke Hufschmidt in ihren Beobachtungen zu Witwen im Niederadel an der Weser um 1600 einen wesentlichen Unterschied gegenüber der Witwenexistenz hochadliger Frauen: Die Witwe blieb meist auf dem Familiengut wohnen. Hufschmidts pointierte Aussage, "Witwenherrschaft" im niederen Adel sei eher "Herrschaft für und im Namen des Geschlechtes" denn "Herrschaft in einem eigenen Herrschaftsbezirk" gewesen, wird durch das angeführte Beispiel der Clara von Canstein relativiert, die 1603 eine evangelische Kirchenordnung für die Gemeinde Bruchhausen erließ - eine im Weserraum ungewöhnliche Aktion des Niederadels. Die weiteren Beiträge von Ernst Münch, Dirk Schleinert, Uta Löwenstein und Günter Scholz konzentrieren sich auf einzelne adlige Frauen, von denen zwei sich als Witwen unkonventionell verhielten beziehungsweise aus der Rolle fielen: Die mecklenburgische Adlige Elisabeth Moltke ließ im 16. Jahrhundert durch einen Notar Urkunden fälschen, um Besitz- und Herrschaftsansprüche ihres Familienzweigs gegenüber den Landesherren, der Stadt Rostock und anderen Familienzweigen zu untermauern, und wurde dafür des Landes verwiesen. Die verwitwete Gräfin Barbara von Württemberg-Mömpelgard, eine Tochter Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen, fühlte sich auf ihrem abgelegenen Witwensitz von ihren Verwandten vernachlässigt, verfiel in "Melancholie" und sorgte durch die Geburt zweier nichtehelicher Kinder für einen Skandal, der durch ihre Verheiratung mit einem "homo simplex" vertuscht wurde.
Unter den wesentlichen Ergebnissen der Sammlung ist festzuhalten, dass Witwen landesherrliche Rechte ausübten als Vormundschaftsregentinnen - manchmal ohne formal als Vormund eingesetzt zu sein - und auf diese Weise den frühmodernen Fürstenstaat mitformten. In ihrem Wittum hatten sie in unterschiedlichem Maß Herrschaftsbefugnisse inne bis hin zu uneingeschränkten obrigkeitlichen Rechten (dies ermöglichte zum Beispiel die Einführung der Reformation dort gegen den Willen des Landesherrn). Besonderes Geschick, ja geradezu unternehmerische Qualitäten zeigten viele Frauen bei der auf Effizienz und Sparsamkeit bedachten Neuordnung von Wirtschaft und Verwaltung, auch wenn nicht alle die unter Fürsten notorische Verschuldung abwenden konnten. Was den Herrschaftsstil angeht, so einte die Vorliebe für ein persönliches Regiment die Witwen mit den männlichen Landesherren.
Die Autorinnen und Autoren sind sich weitgehend einig darin, dass verschiedene Faktoren darüber entschieden, in welchem Maß und wie erfolgreich eine Witwe aktiv werden konnte: das Verhältnis zu den Landständen, familiale Konstellationen (insbesondere das Verhältnis zum regierenden Sohn), die Einbettung in verwandtschaftliche Netzwerke, ferner persönliche Eigenschaften, nämlich neben Beharrlichkeit und Energie insbesondere ein stark ausgeprägter Wille zur Macht, der auch Kaltblütigkeit und Skrupellosigkeit einschloss - Qualitäten, die durchaus vereinbar waren mit tiefer Religiosität und kirchenpolitischem Engagement.
Der Herausgeberin ist es gelungen, einen Band von großer Geschlossenheit zusammenzustellen. Die Beiträge greifen ineinander und arbeiten durchgehende Fragen ab wie etwa die nach der Bedeutung individueller Fähigkeiten. Zur Abrundung trägt auch die gut strukturierte Einführung bei, die die Ergebnisse vorab bündelt und Desiderate anspricht. Das aufwändig erstellte Personen- und Ortsregister ist eine Handreichung, die man sich in vielen Sammelbänden vergeblich wünscht. Die zum Teil farbigen Abbildungen in guter Qualität garantieren zusätzlich das Lesevergnügen.
Cordula Nolte