Richard Overy: Russlands Krieg. 1941-1945. Übersetzt von Hainer Kober, Reinbek: Rowohlt Verlag 2003, 560 S., ISBN 978-3-498-05032-0, EUR 24,90
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Es gibt nicht wenige zeitgeschichtliche Arbeiten, denen wir Erkenntnisse und Einsichten verdanken, ein tieferes Verständnis unserer nahen Vergangenheit und damit unserer Gegenwart. Aber Bücher, die uns, wie "Russlands Krieg" von Richard Overy, zugleich bewegen, ja erschüttern, sind selten. In kraftvoller, doch unaufgeregter Sprache lässt der Autor vor uns das Meer von Leid entstehen, das die doch schon bis zum deutschen Überfall genügend leidgeprüfte Bevölkerung der sowjetischen Republiken zwischen 1941 und 1945 durchschreiten musste. Dabei sagt er deutlich und wohlbegründet, dass ein nicht geringer Teil der Opfer nur mittelbar auf das Konto der Eindringlinge kam, sondern den organisatorischen Schwächen des stalinistischen Systems, der diesem Regime inhärenten Brutalität und nicht zuletzt zahllosen Fehlern der politischen und militärischen Führer - einschließlich Stalins - zuzuschreiben war. Auch wird keineswegs verschwiegen, dass die abnorm hohen Verluste der Roten Armee mit einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben des Einzelnen zusammenhingen, wie sie schon dem zaristischen Heer eigentümlich gewesen ist. Die in dem Bild des Leidens sichtbar werdende ungeheure Leistung der sowjetischen Gesellschaft verführt Overy ebenfalls nicht dazu, ein simples Heldenlied zu singen, vielmehr zeigt und erklärt er, bei aller spürbaren Anteilnahme, nüchtern und realistisch die Faktoren und Umstände, die jene Leistung ermöglicht haben. Mit anderen Worten: Richard Overy verlässt nie den Boden der Wissenschaftlichkeit. So farbig er malt, so eindringlich er schildert, so mitreißend er erzählt - stets bleibt sein Blick auf Ursachen und Gründe gerichtet, auf die tiefere Schicht des Geschehens. Die Verbindung von darstellerischer Kraft mit Problembewusstsein und analytischem Vermögen macht die besondere historiografische Qualität des Buches aus, das Richard Overy geschrieben hat.
Anders als so mancher deutsche Forscher, der sich heutzutage mit Kriegen beschäftigt, weiß Overy, dass militärische Konflikte in der Regel vor allem aus Kampfhandlungen bestehen. So bringt er uns nicht nur die sowjetische Gesellschaft im Kriege nahe, sondern widmet auch dem rein militärischen Aspekt der deutsch-sowjetischen Auseinandersetzung gebührende Aufmerksamkeit, von Rüstungsfragen über operatives Handeln bis zu taktischem Verhalten. Für den deutschen Leser ist es höchst reizvoll, Stalingrad oder die Schlacht bei Kursk, auf bestechende Weise präsentiert, erstmals aus der sowjetischen Perspektive zu sehen. Die Rote Armee wird verstehbar, und zwar wiederum in ihren besonderen Qualitäten wie in ihren spezifischen Mängeln. So zeichnet Overy knappe, aber überzeugende Skizzen der militärischen sowjetischen Elite, die sich zwischen 1941 und 1943 herausbildete, etwa von Konjew, Schukow, Watutin, Tschuikow, Rokossowski, die durchaus das fachliche Niveau ihrer deutschen Gegenspieler erreichten, wogegen andererseits ein scharfes Licht auf die mit viel Blut bezahlten Unzulänglichkeiten der unteren und mittleren Führung fällt. Interessant ist es auch zu beobachten, wie sich Stalin - zum Wohle der Roten Armee - mehr und mehr vom militärischen Kommando zurückzog, während Hitler - nicht zum Heile des deutschen Heeres - genau das Gegenteil tat.
Indes kann selbst Overys Buch beckmesserischen Anmerkungen nicht entkommen. Bei der Darstellung der deutsch-sowjetischen Annäherung im Jahre 1939 etwa schreibt Overy der deutschen Führung die aktivere und der sowjetischen Führung eine passive Rolle zu; das entspricht zwar der dokumentarisch ungestützten Tendenz einer der heutigen historischen Denkschulen in Moskau, ist aber mit dem Bild, das sich aus den deutschen Akten zwingend ergibt, schlechterdings nicht zu vereinbaren. Bei der Behandlung der militärischen Ereignisse wiederum folgt der Autor, wenn es um Stärkeverhältnisse geht, allzu unbedenklich sowjetischen Quellen, das heißt er überschätzt konstant die deutschen und unterschätzt ebenso konstant die sowjetischen Kräfte. In welchem Zustand sich zum Beispiel die Panzer- und Infanteriedivisionen der deutschen 6. Armee zu Beginn der bis Stalingrad führenden Offensive tatsächlich befanden, ist den an den ehemaligen Generalstabschef Beck gerichteten Briefen des in Stalingrad vermissten Obersten Helmuth Groscurth zu entnehmen, damals Chef des XI. Armeekorps. Doch sind das in der Tat nur winzige Schönheitsfehler in einem rundum gelungenen und bedeutenden historiografischen Werk, das im Übrigen auch ausgezeichnet übersetzt ist.
Hermann Graml