Andreas Pečar: Die Ökonomie der Ehre. Höfischer Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711-1740) (= Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, VIII + 432 S., ISBN 978-3-534-16725-8, EUR 65,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Stephanie Marra: Allianzen des Adels. Dynastisches Handeln im Grafenhaus Bentheim im 16. und 17. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006
Jan Hirschbiegel / Werner Paravicini / Jörg Wettlaufer (Hgg.): Städtisches Bürgertum und Hofgesellschaft. Kulturen integrativer und konkurrierender Beziehungen in Residenz- und Hauptstädten vom 14. bis ins 19. Jahrhundert, Ostfildern: Thorbecke 2012
Johanna Hellmann: Marie Antoinette in Versailles. Politik, Patronage und Projektionen, Münster: Aschendorff 2020
Michael Kaiser / Andreas Pečar (Hgg.): Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit, Berlin: Duncker & Humblot 2003
Hanspeter Marti / Karin Marti-Weissenbach (Hgg.): Traditionsbewusstsein und Aufbruch. Zu den Anfängen der Universität Halle, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019
Andreas Pečar: Macht der Schrift. Politischer Biblizismus in Schottland und England zwischen Reformation und Bürgerkrieg (1534-1642), München: Oldenbourg 2011
Andreas Pečars kundige Abhandlung über den Adel am Hof Kaiser Karls VI. stellt einen weiteren Baustein für ein neues Bild des Kaiserhofes dar, zugleich aber auch einen wichtigen Beitrag zur Hofforschung allgemein. Der Verfasser macht bereits auf den ersten Seiten in seinen Ausführungen zum Forschungsstand sowohl die anhaltende Relevanz des Elias'schen Ansatzes wie die Notwendigkeit deutlich, diesen anhand von Quellenstudien und mittels Einbeziehung weiterer Deutungsansätze weiterzuentwickeln (4 f.). Ungeachtet ihres zeitlich recht eng gesetzten Rahmens ist seine Studie gemeinsam mit der fast zeitgleich erschienenen, vergleichenden Untersuchung von Jeroen Duindam geeignet, den Rahmen für eine innovative Sicht des kaiserlichen Hofes in der Frühen Neuzeit abzugeben.
Dabei steht im Mittelpunkt der hier zu besprechenden Studie allerdings nicht der Hof insgesamt als soziales oder administratives Gebilde, sondern - wie schon der Titel anzeigt - eine Struktur- und Funktionsanalyse des Hofes und der höfischen Gesellschaft in Wien (4), die Frage nach spezifischen Strategien und Praktiken sozialer Distinktion, die der höfische Adel nutzte. Bewusst distanziert sich der Autor also von der lange einseitig dominierenden Sicht auf den Hof als fürstliches Machtinstrument und zielt auf ein differenziertes Bild der spezifischen Rationalität adligen Handelns innerhalb der höfischen Gesellschaft, versucht also eine Rekonstruktion milieuspezifischer Normenkonfigurationen, bei der er Pierre Bourdieus Überlegungen ebenso aufnimmt wie Aspekte der Systemtheorie (17 f.). Somit sind Begriffe wie "symbolisches Kapital" und "Interaktion" Leitbegriffe seiner Studie.
Gegliedert ist die Untersuchung im Anschluss an eine prägnante Einleitung zu Forschungsstand, Erkenntniszielen und Eingrenzung des Gegenstandes in drei große Teile:
Der Abschnitt unter der Überschrift "Ressourcen" (20-140) behandelt vorrangig die spezifische Rationalität adligen Hofdienstes, zeigt die Chancen des Hofdienstes ebenso wie seine Anforderungen an Familien wie einzelne Personen. Dabei wird durchaus plastisch dargestellt, in welchem Maße finanzielles Kapital bei Hof und über den Hof in symbolisches Kapital umgewandelt wurde. Der Autor stellt dar, wie pekuniäre Investition zu einem Zuwachs an sozialem (Patronage) respektive kulturellem Kapital (Bildung) führen und aus diesem Zusammenspiel eine Integration in die höfische Adelsgesellschaft resultieren konnte. Der nächste Teil unter der Überschrift "Explizite Normen höfischen Handelns: Das Zeremoniell am Kaiserhof" (141-252) zeichnet nach, dass und inwieweit Adlige als Teilnehmer höfischer Interaktion diese Normen für sich als gültige Regeln zu akzeptieren bereit waren. Dabei wird zunächst das Spektrum zeremoniell geregelter Abläufe abgeschritten, anschließend nach der Entstehung zeremonieller Normen gefragt und schließlich dem öffentlichen Stellenwert des Zeremoniells nachgegangen. Im abschließenden Kapitel "Selbstdarstellungspraxis von Kaiser und Hofadel" (253-296) behandelt der Verfasser am Beispiel der Bautätigkeit in Wien die Funktionalität adliger Repräsentationsbemühungen im kulturellen Bereich und skizziert zusammenfassend einen "kulturellen Code der höfischen Gesellschaft". Eine knappe und prägnante Zusammenfassung schließt die Darstellung ab.
Pečars Studie bewegt sich durchgehend auf einem hohen analytischen Niveau, kommt zu prägnanten Einschätzungen und kann über weite Strecken den Anspruch einlösen, eine Umsetzung moderner Fragestellungen auf das Beispiel des Kaiserhofes zu sein. Ohne hier auf das eine oder andere kritisierbare Detail einzugehen und ohne das positive Gesamtbild der Abhandlung infrage zu stellen, sollen doch drei Aspekte kritisch angesprochen werden:
Dabei geht es zum Ersten um den Begriff der "Patronage". In seinem Abschnitt "Soziales Kapital: Protektion, Patronage und Maklerpatronage" (92-103) beschreibt der Verfasser die in den Quellen fassbare Realität von Protektion und Fürsprache am Wiener Hof sehr treffend und verweist selbst auf deren Charakteristika: Relevanz von Familienbeziehungen, kaum ausgeprägte Hierarchien zwischen "Patron" und "Klient", die Instabilität derartiger Beziehungen und den großen Stellenwert von Maklern für kaiserliche Gunsterweise. Wenn jedoch Stabilität, Hierarchie beziehungsweise herrschaftliche Aspekte sowie Beziehungen jenseits verwandtschaftlicher Verbindungen als wichtigste Charakteristika der Sozialform "Patronage", wie sie allgemein in der historischen Forschung thematisiert werden, in der höfischen Gesellschaft gerade fehlen, dann bilden Pečars Beobachtungen geradezu einen Gegenbefund ab. Hier wäre also der Verzicht auf den eigentlich in die Irre führenden Begriff "Patronage" günstiger gewesen als die bloße Modifikation (nach Ronald Asch) zur "Benefizialpatronage", um nicht die eigenen, wichtigen Erkenntnisse in einem Widerspruch zwischen Begriff und Phänomen untergehen zu lassen.
Zum Zweiten ist auf Inkonsequenzen der Argumentation des Verfassers hinsichtlich der Relevanz des Zeremoniells als fürstliches Machtmittel hinzuweisen. Natürlich ist - gerade nach den Wiener Befunden bezüglich der zeremoniellen Regelungskompetenz einer Hofkonferenz (200-207) und des feststellbaren zeremoniellen "Beharrungsvermögens" Karls VI. - die Kritik an Norbert Elias' beziehungsweise Jürgen von Kruedeners Zuspitzung, das Zeremoniell sei ein Instrument zur gezielten Steuerung von Machtverhältnissen, völlig gerechtfertigt. Der Kaiser war in der Entscheidung über zeremonielle Abläufe eben nicht frei, sondern an Herkommen und zeremonielle Praxis auch anderer europäischer Höfe gebunden (so Pečar selbst, 207). Aber in seiner weiteren Argumentation entgeht der Autor seinerseits einer gewissen Einseitigkeit nicht, wenn er die herrschaftlichen Aspekte des Zeremoniells sehr reduziert zugunsten der Rangerhöhung der adligen Hofmitglieder (252). Sie waren bereit, die zeremoniellen Normen gerade deshalb zu akzeptieren, weil diese im Kontext adligen Normengefüges einen Sinn machten, aber es war und blieb der Kaiser (respektive Fürst), der durch die Verleihung von Ehrenämtern über die Zugehörigkeit zur Hofgesellschaft entschied, und von seiner Gunst blieb es auch abhängig, ob ein adliger Amtsträger Karriere machen oder gar den Hof verlassen musste (so Pečar zusammenfassend, 299). Damit verblieb dem Kaiser stets eine exklusive Regelungskompetenz hinsichtlich des Zugangs zur höfischen Gesellschaft, der man herrschaftliche Relevanz wohl nicht ganz absprechen sollte.
Bezogen sich die beiden vorherigen Punkte auf Aspekte des Textes direkt, so bezieht sich der dritte auf etwas, was im Text eben nicht beziehungsweise nur sehr marginal vorkommt. Gerade angesichts des generellen Ansatzes der Arbeit, den Hof als ein Interaktionssystem zu betrachten, welches sich durch persönliche Kommunikation unter Anwesenden konstituierte (17), fällt auf, dass dem Autor etwa die Hälfte seiner Akteure entgangen zu sein scheint: die Frauen der höfischen Gesellschaft. Zwar tauchen vereinzelt die Kaiserinnen und einige Frauen der Habsburger im Text auf (59, 88, 189), zwar wird die zeremonielle Relevanz der Eheschließung mit einer Hofdame erwähnt (239) und kurz das Obersthofmeisteramt in den Hofstäben von Frauen angesprochen (53). Aber Frauen als Amtsträgerinnen - also die Obersthofmeisterinnen, Fräuleinhofmeisterinnen, Ayas, Hofdamen - fehlen in den Ausführungen ebenso wie - bis auf eine Ausnahme (122) - Ehefrauen höfischer Amtsträger und ihre Aktivitäten im Kontext der Akkumulation von kulturellem oder sozialem Kapital. Dabei haben nicht nur Studien für den englischen Hof die Relevanz des Agierens von Frauen bereits herausgearbeitet. Auch für Wien hat jüngst Susanne Pils an einem konkreten Beispiel zeigen können, wie bedeutsam der Besuch bei Hof, der Kontakt zu Kaiserin und Kaiser seitens der Ehefrau für einen Adligen auf diplomatischer Mission sein konnte, um seine Beziehungen in die höfische Gesellschaft hinein auch in Zeiten der Abwesenheit zu pflegen; dies übrigens ein generelles Problem, welches Pečar mehrfach anspricht (41-53), ohne dabei an Ehefrauen, Schwestern oder Mütter überhaupt zu denken. In seiner umfangreichen Darstellung der Ressourcen des Hofes für die adlige Hofgesellschaft fehlt zudem jeder Hinweis auf den Hof als Heiratsmarkt, obwohl zeitgenössische Äußerungen dies sowohl für Männer mit Karriereambitionen wie für Töchter von Amtsträgern und natürlich die Hofdamen immer wieder formulieren. Diese Defizite, diese Beschränkung des Blickwinkels überraschen in einer dezidiert moderne Fragestellungen aufgreifenden Studie doch erheblich. Wenn auch die Quellensituation oder mangelnde Vorarbeiten hier vielleicht exemplarische Ausführungen rechtfertigen würden - eine völlige Ausklammerung, ein Fehlen jedes analytischen Bezuges auf Frauen als Angehörige der kaiserlichen Hofgesellschaft rechtfertigen sie sicher nicht.
Katrin Keller