Rezension über:

Christian Emden / David Midgley (eds.): Cultural Memory and Historical Consciousness in the German-Speaking World Since 1500. Papers from the Conference "The Fragile Tradition", Cambridge 2002 Vol. 1 (= Cultural History and Literary Imagination; Vol. 1), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 316 S., ISBN 978-3-03910-160-3, EUR 55,00
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Rezension von:
Silvia Serena Tschopp
Universität Augsburg
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Silvia Serena Tschopp: Rezension von: Christian Emden / David Midgley (eds.): Cultural Memory and Historical Consciousness in the German-Speaking World Since 1500. Papers from the Conference "The Fragile Tradition", Cambridge 2002 Vol. 1, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 4 [15.04.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/04/5237.html


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Christian Emden / David Midgley (eds.): Cultural Memory and Historical Consciousness in the German-Speaking World Since 1500

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Zu den zentralen Begriffen aktueller geisteswissenschaftlicher Debatten zählt derjenige des 'kulturellen Gedächtnisses', der sich in Deutschland vor allem mit den Namen Aleida und Jan Assmann verbindet. Einen Beitrag zu dessen weiterer Konturierung und Diskussion will der aus einer in Cambridge durchgeführten Tagung hervorgegangene vorliegende Band leisten, der eine Reihe größtenteils englischsprachiger Aufsätze versammelt. Angesichts der Tatsache, dass die Beiträge mehrheitlich von deutschen Autoren stammen und der Fokus, wie schon der Titel des Buches verrät, sich auf den deutschsprachigen Raum richtet, mag die Wahl des englischen Idioms zunächst überraschen. Sie erklärt sich aus der in der Einleitung bekundeten Absicht der Herausgeber, Perspektiven und methodische Ansätze der historischen Kulturwissenschaft, wie sie sich in Deutschland ausgebildet hat, in den wesentlich durch die anders geartete Wissenschaftstradition der Cultural Studies geprägten angelsächsischen Raum zu vermitteln. Ungeachtet seiner programmatischen Ausrichtung auf ein englischsprachiges Publikum bietet der Band auch deutschsprachigen Lesern eine erhellende Lektüre, gelingt es ihm doch, Ausformungen geschichtlichen Bewusstseins und die damit verbundenen Modi kollektiver Gedächtnisstiftung facettenreich darzustellen.

Der Band gliedert sich in vier Teile: Zielt der erste Teil auf eine systematischere Reflexion grundlegender Strategien der Konstruktion von geschichtlicher Kontinuität, enthalten die Teile zwei bis vier in der Regel chronologisch angeordnete Fallstudien.

Mit Blick auf die frühe Geschichtsschreibung der Reformation untersucht Susanne Rau im ersten Beitrag des zweiten Teils ('The Reformation and Ist Heritage'), auf welche Weise die konfessionellen Umbrüche in spezifische Traditionen und damit in ein historisches Kontinuum integriert wurden; ausgehend von der Erasmus- und insbesondere der Lutherrezeption in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, macht Wilhelm Ribhegge deutlich, in welchem Maße sich im Umgang mit Vergangenheit die spezifischen - in diesem Fall nationalen - Interessenlagen der jeweiligen Gegenwart spiegeln. Ins 18. Jahrhundert führt der dritte Teil ('Configurations of Enlightenment'). Anhand einer Textreihe, die von Lessings Minna von Barnhelm über Karl Philipp Moritz' Anton Reiser und Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon bis zu Johann Karl Wezels Belphegor sowie Bonaventuras Nachtwachen reicht, geht Stefan Busch der Frage nach, inwiefern es, angesichts der in der Spätaufklärung immer stärker ins Bewusstsein tretenden Kontingenz menschlicher Erfahrung möglich ist, an der Vorstellung einer durch göttliche Vorsehung gesteuerten Geschichte festzuhalten.

Die im späten 18. Jahrhundert einer Rangerhöhung des Lyrischen und damit einer Emotionalisierung von Dichtung dienenden poetologischen und poetischen Legitimationsstrategien stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Laura Benzi. Sie zeigt auf, wie ein im Gegensatz zu denjenigen Wissenssystemen, die den frühneuzeitlichen Diskurs über Kunst fundierten, verändertes Verständnis der Rhetorik und der Affektenlehre neue Dimensionen lyrischen Sprechens eröffnet. Der letzte Beitrag des dritten Teils setzt sich mit der (literarischen) Wahrnehmung Kaiser Josephs II. auseinander. Von den Zeitgenossen aufgrund seiner im Sinne der Aufklärung initiierten Reformen mehrheitlich abgelehnt, erfährt der Habsburger, so Ritchie Robertsons Befund, posthum eine vor allem poetisch bewerkstelligte Stilisierung zum idealen 'Volkskaiser'.

Gegenwärtigen Phänomenen widmen sich die Beiträge des vierten und letzten Teils ('Memory - Past and Present'): Die 'Gedächtnistopografien' Walter Benjamins und Daniel Libeskinds bilden den Gegenstand von Kristin Veels Überlegungen. So unterschiedlich der zeitliche Kontext und das Werk des deutschen Kulturphilosophen und des amerikanischen Architekten auch erscheinen mögen, verbindet sie, so die These, ein Geschichtsbewusstsein, das in spannungsreicher Auseinandersetzung mit dem jüdischen Messianismus seine besondere Ausformung gewinnt und, daraus resultierend, eine Vorgehensweise wählt, die einer als fragmentiert wahrgenommenen Vergangenheit Ruinen als deren materiale Relikte und damit eine bewusst prekäre, historische Evidenz entgegensetzt. Silke Arnold-de Simine geht von Manifestationen der deutschen 'Nachwendezeit' aus und fragt nach den institutionen- und medienspezifischen Modi kollektiver Gedächtnisstiftung. Museum (Haus der Geschichte, Berlin), Film (Sonnenallee von Thomas Brussig und Leander Haussmann) und Literatur (Friedrich Christian Delius' Die Birnen von Ribbeck) konvergieren, wenn es darum geht, eine noch junge Vergangenheit in erinnerungswürdige Bilder zu gießen, und machen zugleich deutlich, dass die Ausformung kulturellen Gedächtnisses sowohl Prozesse der Stereotypisierung als auch deren kritische Reflexion umfasst. Karin Leeder schließlich wirft die Frage auf, was zwei jüngere Autoren am Ende des 20. Jahrhunderts dazu bewegt, die Erfahrung des Ersten Weltkriegs literarisch zu gestalten. Raoul Schrotts "Gebirgsfront 1916-1918" und Thomas Klings "Der erste Weltkrieg" liest sie als lyrische Manifestationen, innerhalb derer die Sprache dadurch einen 'Resonanzraum' kollektiver Erinnerung bildet, dass sie die ihr eingeschriebenen kulturellen Gedächtnismuster zum Vorschein bringt.

Jene Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen historischer Kontinuitätsbildung und kultureller Gedächtnisstiftung, welche in den hier nur kurz umrissenen, durchaus heterogenen Fallstudien lediglich bedingt geleistet wird, findet sich in einigen Beiträgen des ersten Teils. In ihren programmatisch an den Anfang gesetzten Darlegungen zum Begriff des 'Gedächtnisses' verwirft Aleida Assmann einen opaken, dem 'individuellen Gedächtnis' gegenübergestellten Begriff des 'kollektiven Gedächtnisses' und plädiert für eine Differenzierung zwischen dem 'sozialen', dem 'politischen' und dem 'kulturellen' Gedächtnis (22). Auch individuelle Erinnerung ist sozial determiniert, als Einzelne sind wir zugleich, wie Assmann am Beispiel der Generationszugehörigkeit erörtert, Angehörige einer Gemeinschaft und damit beeinflusst von den diese Gemeinschaft charakterisierenden Wahrnehmungsmustern. Der Begriff des 'politischen Gedächtnisses' wiederum verweist auf politische Formationen wie Staaten und deren Institutionen, die im Rahmen intentionaler Akte eine spezifischen Interessen dienende Konstruktion kollektiven Gedächtnisses erzeugen, eine Konstruktion, die als 'große Erzählung' politische Einheit legitimiert. Die komplexeste Form kollektiver Bewahrung von Vergangenheit stellt das 'kulturelle Gedächtnis' dar. Es ist generationenübergreifend und lässt sich nur bedingt im Sinne politischer Macht beeinflussen. Kulturelles Gedächtnis konstituiert sich aus einer Fülle von - nicht nur künstlerischen - Artefakten, ermöglicht, wie Assmann am Beispiel von Günter Grass' Erzählung Im Krebsgang veranschaulicht, eine die Grenzen individueller, sozialer und politischer Gedächtnisbildung sprengende, vielschichtige Auseinandersetzung mit Vergangenem, die, so die These, gleichermaßen gemeinschaftsstiftend und selbstreflexiv ist.

Beginnt Aleida Assmann mit einer definitorischen Klärung, um dann die dadurch gewonnene Terminologie am Beispiel zu illustrieren, wählen Christian J. Emden und Ortrud Gutjahr den umgekehrten Weg. Ausgehend von konkreten Phänomenen zielen sie, anders als Marc Oliver Huber in seinem wenig prägnanten Beitrag zu Nietzsches Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, auf Einsichten größerer Reichweite. In seinen dichten Ausführungen rekonstruiert Emden die diskursgeschichtlichen 'Etappen' der Fundierung eines Konzepts von 'Klassizität', das seine besondere Ausformung gleichermaßen der Kunsttheorie, der Altertumswissenschaft und spezifischen politischen Intentionen im Kontext der europäischen Nationenbildung verdankt. Im Rückgriff auf Otto Gerhard Oexles Begriff der 'Epochen-Imagination' (40) erhellt Emden die Entstehungsbedingungen einer Auffassung der (griechischen) Antike, die im 19. Jahrhundert, bedingt durch neue szientifische Erkenntnisse, in die Krise gerät. Dabei bietet er nicht nur eine differenzierte Analyse der für das Konzept 'Klassische Antike' konstitutiven Diskursformationen, sondern stellt grundsätzliche Überlegungen an zum Verhältnis zwischen Gedächtnis, Tradition und Geschichte (40), zu den Mechanismen kultureller Gedächtnisstiftung (passim) oder zu den historischen Funktionen ideologisch verfestigter Konstruktionen vergangener Zeiträume (58 ff.).

In die emphatische Moderne führt der Beitrag von Ortrud Gutjahr, die mit Blick auf die literarische Avantgarde um 1900 untersucht, wie die Verfechter einer neuartigen literarischen Kunst den Bruch mit der Tradition beschwören und sich zugleich auf ein Konzept von Modernität berufen, das, wie der Exkurs über die historische Semantik des Begriffs 'modern' (75-81) deutlich macht, längst über eigene Traditionslinien verfügt. Traditionsbruch verbindet sich demnach immer mit Traditionsbildung (87); sie führt zu Kanonisierungsprozessen, deren Voraussetzungen und Funktionsweisen Gutjahr abschließend grundsätzlicher reflektiert. Die Bedeutung der Künstlergruppen und der programmatischen Kunstpublizistik (85), die 'epochale' Umbrüche begleitenden Mechanismen der 'Dekanonisierung' und 'Rekanonisierung' (90), das heißt der Verwerfung beziehungsweise Valorisierung spezifischer literarischer Kanones (89), und die Funktion des kulturellen Gedächtnisses als Instrument der Selbstvergewisserung und Selbstlegitimation (88) werden dabei in den Blick genommen.

Die Kategorie 'kulturelles Gedächtnis' und die damit verbundene Vorstellung eines Geschichtsbewusstseins, das spezifischen Momenten historischer Überlieferung Relevanz auch für die Gegenwart zuweist, erfahren, so das Fazit, im hier interessierenden Band nicht nur eine Reihe exemplarischer Veranschaulichungen, sondern bilden, zumindest punktuell, den Ausgangspunkt für eine systematischere Darstellung ihrer Signifikanz. Für eine interdisziplinär angelegte Sammelpublikation, die sowohl hinsichtlich der thematischen und methodischen Ausrichtung als auch des Erkenntniswerts der einzelnen Beiträge naturgemäß durch Heterogenität gekennzeichnet ist, sicher eine beachtliche Leistung.

Silvia Serena Tschopp