Rezension über:

Eva Hahnová / Hans Henning Hahn: Sudetoněmecká vzpomínání a zapomínání, Prag: Votobia 2002, 234 S., ISBN 978-80-7220-117-4
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Christian Domnitz
Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Christian Domnitz: Rezension von: Eva Hahnová / Hans Henning Hahn: Sudetoněmecká vzpomínání a zapomínání, Prag: Votobia 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 4 [15.04.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/04/5768.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Eva Hahnová / Hans Henning Hahn: Sudetoněmecká vzpomínání a zapomínání

Textgröße: A A A

Wer das eine erinnert, verdrängt das andere: Unter diesem Motto steht die Kritik an der aktuellen Debatte um deutsches Leiden während und nach dem Zweiten Weltkrieg. [1] Ins gleiche Horn stößt eine in tschechischer Sprache verfasste Sammlung von Essays, mit der leidenschaftlich und herausfordernd eine deutsche Selbst- anstelle einer Rückbesinnung gefordert wird. Dabei handelt es sich um mehrere neue und einige bereits publizierte Aufsätze, die Eva Hahn, ehemals wissenschaftliche Mitarbeiterin am Collegium Carolinum und jetzt unabhängige Historikerin, und Hans-Henning Hahn, Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Oldenburg, nun in Buchform gebracht haben.

Konkret geht es um die sudetendeutschen "Mahn- und Verdrängungsmale verbaler Art". Diese "Reise auf sudetendeutschen Erinnerungswegen ist [...] eine spannende Entdeckungsfahrt in einem wenig bekannten Gebiet der deutsch-tschechischen Koexistenz" (35). Sie zu unternehmen, stellt für die Autoren die Voraussetzung für gegenseitiges Verständnis und einen fruchtbaren Dialog zwischen Tschechen und Deutschen dar.

Anknüpfend an die Konzeption Eva Hahns [2] sind die Texte in drei Kapitel gegliedert: "Vergangenheit, die nie zu Ende ging", "Vergangenheit in Wort-Bildern" und "Vergangenheit, über die gesprochen wird". Bisweilen ist der Inhalt nicht ganz so vorbildlich strukturiert, wie es die systematischen und paradigmatischen Überschriften der Kapitel vermuten lassen. Positiv hervorzuheben ist die Quellenarbeit, die so manches dokumentarische Kleinod sudetendeutscher Erinnerungswege zu Tage bringt. So werden zum Beispiel die manchmal schlingernden Wege sozialdemokratischen, böhmisch-deutschen Bewusstseins dokumentarisch nachgezeichnet oder die Erinnerungskultur vertriebener deutscher Literaten (Peter Härtling und "Der Monat", Siegfried Lenz, Horst Bienek, Johannes Bobrowsky) beschrieben, die sich von einer sudetendeutschen Bewusstseinskultur deutlich unterscheidet.

Die Autoren suchen nach Spuren und Traditionslinien sudetendeutscher Erinnerungskultur von der Entstehungszeit der Tschechoslowakei bis heute. Als Beispiele des Erinnerns dienen Erich Gierachs "Katechismus für das Deutsche Volk in Böhmen" aus dem Jahre 1919 und Wilhelm Turnwalds "Sudetendeutsches Bilderbuch" von 1949. Bei der Analyse dieser Text-Denkmale verweisen die Autoren konsequent auf die Verstrickungen vieler Träger sudetendeutschen Bewusstseins mit dem nationalsozialistischen Regime, etwa bei Emil Lehmann, einem Spezialisten für sudetendeutsche "Volks- und Stammeserziehung", und dem NSDAP-Reichstagsabgeordneten Hans Krebs, die 1937 gemeinsam die "Sudetendeutsche Landeskunde" verfassten, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder neu aufgelegt wurde, zuletzt im Jahr 1992.

Zur Illustration des "klassischen Falls" sudetendeutschen Verdrängens kommen die Autoren immer wieder auf das nationalsozialistische Regime zurück. Vor dem Hintergrund eines permanent wahrgenommenen "Volkstumskampfes" - welcher Geschichte zu einer "Geschichte natürlicher und schicksalhafter Kräfte" werden lasse - müsse der Nationalsozialismus sudetendeutschen Bewusstseinsträgern zwangläufig anders erschienen sein als anderen Deutschen oder Tschechen - und zwar als eine weitere Etappe eines "jahrhundertealten Kampfs", der sich in ihrem Bewusstsein manifestiert habe (110).

Ein gesonderter Abschnitt ist dem Wirken sudetendeutscher Wissenschaftler in der Nachkriegszeit gewidmet. Darunter fallen Vertreter der deutschen "Ostforschung" wie Theodor Mayer sowie Wegbereiter der heutigen Bohemistik wie Hans Neuwirth. Eingebettet ist dieser Teil des Buches in die wiederholte Kritik, deutsche Historiker ließen die Vergangenheit ihres Fachs unter den Tisch fallen: "Die Vorgänger der Professoren von heute brachten zu viele fehlerhafte Bilder der böhmischen Geschichte nach Deutschland, als dass darüber weiterhin schweigend hinweggegangen werden könne" (119). Einst sudetendeutsch geprägte Zweige einer ursprünglich von Begriffen wie "Deutschtum" und "Heimat" bestimmten Geschichtsschreibung müssten sich von ihrer Provenienz auf die gleiche Art distanzieren wie die tschechische Geschichtsschreibung von der kommunistischen Vergangenheit.

Die Autoren regen an, das bisher stete Neben- und Gegeneinander einer multiethnischen, vor allem deutschen Geschichtsschreibung und einer nationalen, tschechischen Historiografie mittels einer "Multiperspektivität" zu überwinden: Sie argumentieren, die "multikulturelle Geschichte" eines von ihren Schreibern als übernational betrachteten Raumes blende die Geschichte der tschechischen Nation aus. Daher rufen sie zur Anerkennung der Vielseitigkeit von Gedenken und Geschichte auf - einer Vielseitigkeit, die der tschechischen Perspektive mehr Platz einräumen müsse (176). Sie plädieren also für ein Nebeneinander eines multiethnischen und eines nationalen, tschechischen Ansatzes - wie dies konkret funktionieren soll, bleibt allerdings im Dunkeln. Zur Veranschaulichung dieses Bedarfs dient den Autoren das vom GWZO Leipzig und der tschechischen Akademie der Wissenschaften in Kooperation erarbeitete, 1998 erschienene Handbuch "Böhmen und Mähren. Historische Stätten" [3], in dem die tschechische Perspektive strukturell ausgeblendet sei.

Die Fixierung nur auf diejenigen böhmischen Deutschen, die sich in einem agitatorischen Selbstverständnis als "sudetendeutsch" sahen ("als Teilhaber einer Ideologie, einer kulturhistorischen Tradition und nicht zuletzt einer politischen Bewegung", 10), führt allerdings zu einer ungleichgewichtigen Wahrnehmung der Entwicklungswege eines böhmisch-deutschen kollektiven Bewusstseins. So bleiben manche Leerstellen: Böhmisch-deutsches Erinnern an tschechische Nachbarn, Ehemänner, Mütter, Briefträger und Vorgesetzte wird hier durch eine Quellenauswahl ausgeblendet, die eingegrenzt wurde auf die bewusste Weitergabe von Erinnerung durch überwiegend konservative sudetendeutsche Eliten, die sich einer Traditions-, Brauchtums- und Bewusstseinspflege verschrieben haben. Und: Muss selbst die Kritik an diesem, einseitigen Erinnern denn unbedingt entgegengesetzt, "anderseitig" sein? Neben der zuspitzenden Essayperspektive wäre ein durchweg erklärender Ansatz ebenso denkbar. Auch hier erweist sich: Wer das eine erinnert, verdrängt das andere.

Anmerkungen:

[1] Diese Rezension wurde freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Zeitschrift "Bohemia"; sie erscheint auch in Bohemia 44 (2003), Heft 2.

[2] Eva Hahnová: Sudetoněmecký problém: obtížné loučení s minulostí, Praha 1995.

[3] Joachim Bahlcke / Winfried Eberhard / Miloslav Polívka (Hg.): Historische Stätten. Böhmen und Mähren, Stuttgart 1998.

Christian Domnitz