Rezension über:

Thomas Küster (Hg.): Regionale Identitäten in Westfalen seit dem 18. Jahrhundert (= Westfälische Forschungen; 52/2002), Münster: Aschendorff 2002, XIV + 874 S., ISBN 978-3-402-09231-6, EUR 69,60
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Werner Freitag
Münster
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Werner Freitag: Rezension von: Thomas Küster (Hg.): Regionale Identitäten in Westfalen seit dem 18. Jahrhundert, Münster: Aschendorff 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 5 [15.05.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/05/2260.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Thomas Küster (Hg.): Regionale Identitäten in Westfalen seit dem 18. Jahrhundert

Textgröße: A A A

Die "Westfälischen Forschungen", renommiertes Organ des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, enthalten seit 1989 alljährlich einen Themenschwerpunkt. Mit dem Thema "Regionale Identitäten in Westfalen" bietet die Zeitschrift im Band 52 sowohl dem an westfälischer und vergleichender Landesgeschichte interessierten Leser als auch dem Kulturhistoriker viele erhellende Einblicke in das Gewordensein einer Geschichts- und Wahrnehmungsregion. Im Einzelnen werden Institutionen und Personen des 19. und 20. Jahrhunderts vorgestellt, die für das Identitätsmanagement verantwortlich waren und zu diesem Zwecke auch auf "Geschichte" zurückgriffen. Aber auch "Teil / Gegenidentitäten" (Ruhrgebiet, Hochstift Paderborn, Siegerland, Mark) werden im Hinblick auf ihre Ursprünge untersucht. Die Ausgangsüberlegung des Bandes findet sich in den beiden einleitenden, höchst instruktiven Beiträgen von Thomas Küster und Karl Ditt, die deutlich machen, dass es sich bei "Westfalen" um ein Produkt neuzeitlicher Identitätsbildung handelt. Es gab weder im Spätmittelalter noch in der Frühen Neuzeit ein Kernterritorium "Westfalen", und es gab auch keine westfälische Dynastie.

Thomas Küster geht von dem derzeit zu beobachtenden "modernen Regionalmarketing" aus, konstatiert aber, dass die Homogenität solcher Cluster immer mehr zurückgehe. Dies geschehe trotz aller Bemühungen seitens der Macher und Regionalitätsbefürworter, kulturelle, das heißt vor allem historische Erkennungsmerkmale herauszustellen. Demgegenüber prägten regionale Identitäten im 19. und frühen 20. Jahrhundert wesentlich das Miteinander, und zwar gebunden an historisch gewachsene Lebenswelten / Verwaltungsgrenzen und verankert im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung. Küster stellt im Folgenden die Zugriffe der Nachbarwissenschaften der Geschichtswissenschaft auf das Phänomen "Regionale Identität" vor (Geografie, Politikwissenschaft, Soziologie), um dann auf den Umgang der Historiker mit diesem Phänomen einzugehen. Offensichtlich bevorzugt Küster für die regionalen Fallstudien zu Westfalen die Überlegungen von Anderson und Hobsbawm zu den "invented traditions" und zum "Imaginieren der Nation", was für den Themenband die Konsequenz hat, dass die Betrachtung der Eliten, der "Transmitter" und der Identitätsmerkmale in den Vordergrund gestellt wird. Im Zentrum der Überlegungen steht also der "Konstrukt-Charakter" von Regionalität. Allerdings entwickelt Küster kein Forschungsdesign inklusive Heuristik und Operationalisierung, was im Hinblick auf die Heterogenität der Zugriffe der nachfolgenden Aufsätze auch von Nachteil gewesen wäre. Abschließend widmet sich Küster den "Identitäten" in Westfalen, die letztlich auf die Integrationsleistung der preußischen Provinz Westfalen, aber auch - dialektisch - auf oppositionelle Phänomene, etwa den Kulturkampf, zurückgehen.

Dieser gelungenen Begründung des Themenbandes folgen die Überlegungen von Karl Ditt zu Stereotypen als Ausdrucksformen und Stabilisatoren, aber auch Generatoren von Mentalitäten. Solche Zuschreibungen verleihen Sicherheit und haben für den Einzelnen die Eigenschaft, "in bequemer Weise" die benötigte Orientierung zu geben. Ditt beschreibt, wie sich die "den" Westfalen zugeschriebenen Wesensmerkmale herausbildeten (Was wird jeweils unter "westfälisch" verstanden?). Auf diese Weise wurde eine heterogene Bevölkerung zum Subjekt, dem durch das "Westfälische" eine Kollektivindividualität zugewiesen werden konnte. Allerdings blieb dieses Nachdenken über das "Westfälische" bis in das 19. Jahrhundert hinein ein Werk der Eliten (vergleiche Anmerkung 52 zur Dominanz des Konfessionsbewusstseins); erst in der preußischen Provinz Westfalen entfaltete das "Westfälische" seine propagandistische Verbreitung, angefangen bei Freiligrath und Schücking, dann wesentlich unterstützt durch den 1886 gegründeten Provinzialverband und schließlich einmündend in den Volkstumsansatz der 1920er-Jahre (Beispiel: Die Westfalencharakteristik Hermann Rotherts). Es folgen Ausführungen zu den Ansätzen der Kulturraumforschung, etwa Hermann Aubins Behauptung von der Beharrungskraft der Westfalen. Anschließend diskutiert Ditt den Rasseansatz (Westfalen als anthropologisch ausgeprägte Bevölkerungsgruppe). Der Beitrag schließt mit Betrachtungen zu den heutigen Stereotypen und ihren Machern ab. Ditt gelingt es, höchst aufschlussreiche Einblicke in zeittypische Konstruktionen zu geben, jedoch fehlen Aussagen über Aneignungsprozesse der Stereotypen.

Die folgenden Aufsätze vertiefen das Bild, wie Eliten über "Westfalen" und über "die Westfalen / das Westfälische" dachten. Zuvor aber findet sich ein Wiederabdruck eines Aufsatzes von Helmut Neuhaus zum "Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis". Neuhaus stellt klar, dass das Reich in keiner Weise zu einer irgendwie gearteten Identität Westfalens vor 1800 beitrug: Der Reichskreis war nicht genossenschaftlich gewachsen; ihm fehlte auch die institutionelle Stärke. Thomas Tippach schildert "Die Visualisierung einer Region - Westfalen im Kartenbild" und hebt insbesondere auf die erst nach 1815 erfolgte Abkehr von der Kreiseinteilung als Darstellungsprinzip ab. Allerdings erweckt der Beitrag den Eindruck, dass trotz der von Tippach geschilderten Bemühungen von Weddigen und anderen die Karten gerade nicht Vorreiter regionaler Identitätsbildung waren. Ganz im Unterschied dazu könnten die Geschichtsvereine und die professionellen Historiker des 19. Jahrhunderts "westfälische Identität" in den Grenzen der Provinz Westfalen imaginiert haben. Hier ist kritisch anzumerken, dass der Aufsatz von Gabriele B. Clemens zwar sechs Vereine vorstellt, aber leider keinen westfälischen Geschichtsverein einbezieht. Da ist Bernd Mütters Beitrag über die Anfänge der "Historische Kommission für Westfalen" mit größerem Gewinn heranzuziehen. Mütter betont als wesentliche Momente der 1896 gegründeten Kommission zum einen die Zuständigkeit analog zur Provinz Westfalen - also ohne das Niederstift Münster und ohne das Fürstbistum Osnabrück - und zum Zweiten den Ansatz, überkonfessionell die Vergangenheit Westfalens, das ja konfessionell gespalten war, zu erforschen. Für das 20. Jahrhundert ist der Beitrag von Willi Oberkrome beachtenswert, der die "Westfalentage" von 1920 bis 1933 thematisiert. Der "Westfälische Heimatbund", Veranstalter dieser groß angelegten Zusammenkünfte, war unter Karl Wagenfeld eine höchst erfolgreiche Organisation im Hinblick auf Kulturpflege und Verbreitung bestimmter Ideen von Westfalen, etwa des Heimatgedankens gegen vermeintliche Gefahren durch die Moderne (Industrie, Zerfall der Familie und so weiter). Dabei wurde ein rückwartsgewandtes Westfalenbild entwickelt, das im Einklang mit den damaligen Raumkonzepten stand und auch das "Westfälische" mit Volkstumsgedanken und Deutschtum verband. Der Beitrag von Thomas Schaarschmidt setzt die Chronologie des Themenbandes fort, ist aber ausschließlich auf Sachsen im Nationalsozialismus und in der Zeit der frühen DDR bezogen; ein Vergleich mit Westfalen bleibt aus.

Insgesamt zeigt der Themenband also für "Westfalen" die zeittypischen Konstruktionen von Stereotypen und Geschichtsbildern auf. Es waren Eliten, "kleinwestfälische Geschichts-Baumeister" (so die Anlehnung des Rezensenten an Onno Klopp), die Westfalen und "das Westfälische" in den Grenzen der Provinz Westfalen (mit Lippe) konturierten. Offen bleibt, was von diesen Bildern / Geschichtsbauten tatsächlich zum Patchwork "Regionale Identität" der Vielen beitrug. Es fehlen dem Band Fallstudien, die in die "Tiefen der Provinz" eintauchen und die Aneignungen thematisieren. Zu denken ist etwa an die "Transmitter" vor Ort: Feste und Denkmäler (spannende Hinweise aber in den Artikeln zu den Teilregionen Mark - Eckhard Trox, Hochstift Paderborn - Barbara Stambolis), Pflege der niederdeutschen Sprache, Geschichts- und Heimatvereine, Heimatzeitschriften und so weiter. Diese Kritik ändert aber nichts daran, dass der Band 52 der Westfälischen Forschungen einen für die Landes- und Regionalgeschichte wichtigen und neuen Themenbereich erschließt. Den Landeshistoriker lädt der Band zur Reflexion über seinen Sprengel ein, der sich - zumindest teilweise - als Produkt des "langen" 19. Jahrhunderts entpuppt; dem Regionalhistoriker eröffnet der Band das weite Feld einer Geschichte des Regionalismus. Beiden aber wird durch die Lektüre deutlich, dass im Bundesland Nordrhein-Westfalen (!) das Spannungsverhältnis von "regionaler Identität" und politisch gewollten Modell- und Verwaltungsregionen fachwissenschaftlich disziplinierte Stellungnahmen einfordert.

Dass die "Westfälischen Forschungen" darüber hinaus in bewährter Weise Berichte aus den landeskundlichen Kommissionen und einen umfassenden, höchst lesenswerten Besprechungsteil enthalten, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Werner Freitag