Renate Prochno: Die Kartause von Champmol. Grablege der burgundischen Herzöge (1364-1477), Berlin: Akademie Verlag 2002, 470 S., 140 Abb., ISBN 978-3-05-003595-6, EUR 99,80
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Die Geschichtsschreibung zur Kunst der burgundischen Niederlande, die sich um 1400 als eine eigenständige Größe konstituiert, kreuzt mehrfach die Kartause von Champmol, die Philipp der Kühne 1385 stiftete und die von ihm selbst und seinen Nachfolgern zur Grablege der Burgunderherzöge aus der französischen Dynastie der Valois ausgestattet wurde. Dennoch ist dieses bauliche Ensemble lückenhaft erforscht, trotz Mongets Monografie [1] mit ihrem Quellenanhang, auf den sich alle späteren Spezialstudien stützen, und obwohl eine Ausstellung 1960 ein Gesamtbild zu visualisieren suchte. [2]
Prochnos Studie ist die erste kunstgeschichtliche Monografie zu Champmol, die sich der immensen Aufgabe einer umfassenden Rekonstruktion stellt. Sie gilt der Kirche mit ihren Annexbauten (Kapellen, Sakristei, Schatzkammer, Kapitelsaal) und dem großen Kreuzgang mit seinem Brunnen. Neben dem Grabmal Philipps des Kühnen im Chor und den zahlreichen bekannten Relikten der Skulptur und Tafelmalerei berücksichtigt sie zum Beispiel auch die Wandmalerei und die Verglasung und trifft detaillierte Beobachtungen zu den Patrozinien und den Stiftungen von Messen, Altargeräten und Paramenten. Vielfach errichtet ihre Studie der Forschung neue Grundlagen, indem sie die Originalquellen heranzieht und teils unbekanntes Material zur Überlieferungsgeschichte zusammenträgt. Den notwendigen Zusammenhalt einer übergeordneten Fragestellung bietet das Problem der Bedeutung von Champmol als einer herrschaftlichen Klosterstiftung und Fürstengrablege. Damit führt Prochno ihren Stoff an die neuere Forschungsrichtung um den Problemkreis der Memoria heran. Ihrer zentraler These nach liegt die hauptsächliche Intention von Champmol indes in einer politischen Aussage. Nichts Geringeres als ein Gründungsdenkmal des burgundischen Staates sei intendiert, eine Manifestation des Anspruchs auf Einheit einer Herrschaft, die mit dem Herzogtum Burgund und der durch Heirat mit Margarete von Flandern erworbenen Grafschaft heterogene Territorien verband. Damit habe sich der Anspruch auf weitest gehende Autonomie vom Lehnsherrn Frankreich und auf dynastische Kontinuität verbunden, wie dies erst unter dem Enkel, Philipp dem Guten, erreicht werden sollte. Den sich hier auftuenden Spalt zwischen der machtpolitischen Dimension der Herrschaft und der Sorge um das Seelenheil versucht Prochno nicht aufzulösen, sondern verweist auf die zweifachen, nämlich politischen und religiösen Bedürfnisse Philipps des Kühnen. Auf dessen Person schließlich sei das Gesamtkonzept von Champmol voll und ganz zugeschnitten.
Im Hauptportal der Klosterkirche mit den Skulpturen Claus Sluters, darunter den Memorialbildern Philipps des Kühnen und Margaretes von Flandern, sieht Prochno einen Schlüssel zu diesem Programm. Ihre Deutung des Ganzen als eines Bildes der Allianz zweier Fürstenhäuser vermag zu überzeugen, zumal sie die Wahl der dargestellten Schutzpatrone, Johannes des Täufers und der hl. Katharina, als Reverenz an die Väter, Johann II., den Guten von Frankreich, und den Grafen von Flandern, Louis de Mâle, zu deuten vermag. Weniger stichhaltig erscheint die Erklärung von Sluters neuartigem Konzept des Stifterportals mit knienden Fürstenporträts als Anleihe an eine flandrische Tradition mit dem Ziel einer Abgrenzung von Frankreich. An den zuletzt von G. Schmidt gegebenen Hinweis sei erinnert, dass diese Bildformel wegen ihrer Geläufigkeit auf Epitaphien an die Funktion Champmols als Grablege erinnern mochte. [3] Die gestische Symmetrie der beiden Bildnisse bleibt indes das auffälligste Novum, gerade wenn man die Vorläufer berücksichtigt, so vor allem das Portal der von Karl V. errichteten Cölestinerkirche in Paris (1365-1370). Das Standfigurenpaar Karls V. und der Jeanne de Bourbon im Louvre stammt allerdings sicher nicht von dort, sondern möglicherweise vom Louvre-Neubau Karls V..[4] Die in Champmol durch den gemeinsamen Gebetsgestus hergestellte Symmetrie, unter Verzicht auf das Kirchenmodell als Attribut des Stifters, mag Frömmigkeit als Motivation des Stiftens betonen. Mit Blick auf das Gesamtkonzept der Stiftung stellt sich jedoch überdies die Frage nach einer visuellen Kompensation jener bemerkenswerten Asymmetrie, die darin liegt, dass die Herzogin ihre Grabstätte nicht in Champmol, sondern bei der ihres Vaters in Lille errichten ließ. Man wird dies schwerlich als eine Stärke des Stiftungskonzeptes im Sinne von Prochnos These auslegen dürfen. Eine alternative Sicht gegenüber der über die Kunst geknüpften Achse Flandern - Burgund wird von ihr nicht erörtert, nämlich die mögliche Herleitung von Sluters Stil - bei aller Originalität - aus dem französisch-höfischen Kunstmilieu. [5] Prochnos Bestätigung der Zuschreibung der Trumeaumadonna in Champmol an Sluter sichert dieser These immerhin eine ihrer Grundlagen.
In den folgenden Passagen wird nichts Geringeres unternommen als die Rekonstruktion einer der künstlerisch anspruchsvollsten sakralen Architekturkomplexe des späten Mittelalters, dies vor allem aus den Rechnungstexten und nach späteren Beschreibungen. Die Gelegenheit zu einer genaueren architekturgeschichtlichen Einordnung lässt sich Prochno leider entgehen. Neben den hinsichtlich der Funktion vergleichbaren, aber meist eher später entstandenen Kapellenbauten der Valois-Prinzen wäre vor allem an das von Karl V. zwischen 1361 und 1380 erbaute Chateau von Vincennes zu erinnern. Hier haben sich Raumfolgen nahezu intakt erhalten, die manches zur Veranschaulichung der von Prochno rekonstruierten Dekorationssysteme beitragen können, Eichenholzverschalungen etwa oder eine Architekturfassung in den auch für das Herzogsoratorium in Champmol überlieferten Techniken, auf Kreidegrund, mit Lapislazuli, Blattgold und in Pressbrokattechnik ausgeführten heraldischen Lilien.
Mehrfach finden in der Forschung diskutierte Fragen eine abschließende Lösung wie zum Beispiel das Problem des Aufstellungsortes des von Jean de Marville rechtzeitig zur Weihe der Kirche am 24.5.1388 erstellten Bildwerks der Trinität: Es befand sich in einem steinernen Tabernakel von 3,60 m Höhe hinter dem Hauptaltar mit seinem (gleichfalls nicht erhaltenen) Flügelretabel. Die angeblichen Gipsmodelle Sluters für die Skulpturen des so genannten "Mosesbrunnens" werden als Fehlinterpretation entlarvt. Tatsächlich entstand 1399 lediglich ein Riss auf einer Gipsunterlage zur Vorbereitung der Montage der verschiedenen Teile. Bemerkenswert mit Blick auf die Frage der Aussageintention des Brunnens erscheint die Tatsache, dass dank der umsichtigen Planung die Hauptansichtsseite, wo als Hinweis auf das christliche Königtum der König David und der Gekreuzigte in einer Achse übereinander platziert waren, bereits ab Sommer 1402 vor Augen stand. Die letzten drei Prophetenfiguren (Zacharias, Daniel, Jesaja) wurden nicht erst Ende 1405, sondern schon im Laufe des Jahres 1403 fertig gestellt.
Nicht anzuzweifeln ist die Rolle Philipps des Kühnen als "Spiritus Rector" des Projekts von Champmol. Obwohl eine ganze Reihe von Mitstiftern sowohl aus dem Kreis der Valois-Prinzen (Jean de Berry, Ludwig von Orléans) wie aus dem der höchsten Würdenträger am herzoglichen Hof ihre Namen mit bestimmten Kapellen und Altären verbanden, war die Ausgestaltung der Stiftung eine Angelegenheit, die weitgehend zwischen dem Herzog und seinen Künstlern verhandelt wurde. Spielräume künstlerischer Originalität manifestieren sich unter anderem in den vielfältigen Interpretationen der im Zentrum der Kartäuser-Frömmigkeit stehenden Passion Christi. In diese Richtung weist auch Prochnos Deutung der Pleurants, die von einem Exkurs über die Exequien der Burgunderherzöge flankiert wird, nicht als Porträts von Höflingen, sondern als exemplarische Darstellungen des Trauergestus.
Wenn Prochnos Schlussfolgerungen nicht vollständig überzeugen, so liegt dies in Teilen gewiss an einer detailgenauen Darstellungsweise, die das Material über weite Strecken der Systematik eines nach Gattungen geordneten Kataloges unterwirft. Die Frage des Stiftungsgedankens und seiner Inszenierung gerät dabei mitunter ins Hintertreffen. In der Tat wünschte man sich mit Blick auf das methodische Gerüst der Arbeit die Frage nach dem "missing link" zwischen machtpolitischen und religiösen Zielen der Herrschermemoria präziser gestellt. Zu fragen wäre nicht allein nach der Rolle des Stifters als natürlicher Person respektive nicht nur nach dem Herzogtum Burgund in seiner geschichtlichen Dimension, sondern nach einem neuen Fürstentum auf der Suche nach seiner Idealgestalt. Nicht nur die verwandtschaftliche Nähe zum französischen König, durch den Mythos von der himmlischen Salbung überhöht, der im Obergeschoss des Herzogsoratoriums von Champmol offenbar durch eine Taube mit Phiole repräsentiert war, ließe den Anspruch auf einen zweiten, quasi-sakralen "Körper" des Fürsten berechtigt erscheinen.
Prochnos Ausführungen zur Ausstattung der Kapellen mit Bildern von Ritterheiligen und zum Kreis der Ritter aus altem französischem Adel, die sich durch ihre Stiftungen und Gräber um den Herzog versammelten, scheinen dem Gedanken Vorschub zu leisten, dass ein Idealbild des Fürsten als eines christlichen Ritters das eigentliche Äquivalent zum monastischen Ideal des Kartäuserordens gebildet haben könnte. Von hier aus wäre freilich weniger auf eine Distanzierung vom französischen Königreich als auf die Involviertheit des Herzogs in dessen Angelegenheiten zu schließen. Seine Stellung als erster Pair von Frankreich sowie die für Philipps Selbstverständnis wesentliche Rolle des Ritters und ersten Verteidigers des Reiches, der in vielen Schlachten des Hundertjährigen Krieges persönlich für den König im Feld stand, wären stärker zu gewichten. Als Erzieher des jungen Karls VI. von 1380 bis 1388 mit großem Einfluss ausgestattet und unterstützt von Theoretikern wie Philippe de Mézières, vermittelte er das neue Ritterideal an den König. Im Hinblick auf die neue, zukünftige Größe Burgunds verdiente der Anspruch, den Kreuzzug anzuführen, stärkere Beachtung. Dieser verdichtete sich in Champmol möglicherweise erstmals zu einem Denkmal, wo die meisten der im liturgischen Gedenken präsenten Ritter, Johann Ohnefurcht an der Spitze, Veteranen des Türkenkreuzzugs und Gefallene oder Verwundete der Schlacht von Nikopolis (1396) waren.
Die angeführten Ergänzungen und Monita vermögen die hervorragende Leistung dieser Studie nicht zu schmälern. Wenn hier einige der "losen Enden" ansatzweise anders verknüpft wurden, so sollte dies doch vor allem beweisen, wie wegweisend Prochnos Arbeit ist, die einen berühmten und doch zu wenig bekannten Baukomplex in ein völlig neues Licht stellt.
Anmerkungen:
[1] Cyprien Monget, La Chartreuse de Dijon, 3 Bde., Montreuil-sur-Mer / Tournai 1898-1905.
[2] Ausstellungskatalog, La Chartreuse de Champmol, foyer d'art au temps des Ducs Valois, Dijon, Musée des Beaux-Arts, 1960.
[3] Gerhard Schmidt, Rezension zu: Kathleen Morand, Claus Sluter: Artist at the Court of Burgundy. London u. Austin/Texas 1991, in: Kunstchronik, 1993-3, 139-159, hier: 143.
[4] Jean-René Gaborit, Les statues de Charles V et de Jeanne de Bourbon du Louvre: une nouvelle hypothèse, in: Revue du Louvre et des musées de France, 1981-4, 237-245.
[5] Ulrike Heinrichs-Schreiber, Vincennes und die höfische Skulptur, Berlin 1997.
Ulrike Heinrichs-Schreiber