Irmgard Fees: Eine Stadt lernt schreiben. Venedig vom 10. bis zum 12. Jahrhundert (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom; Bd. 103), Tübingen: Niemeyer 2002, 437 S., ISBN 978-3-484-82103-3, EUR 64,00
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Davide Scruzzi: Eine Stadt denkt sich die Welt. Wahrnehmung geographischer Räume und Globalisierung in Venedig von 1490 bis um 1600, Berlin: Akademie Verlag 2010
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Venezia! Kunst aus venezianischen Palästen. Sammlungsgeschichte Venedigs vom 13 bis 19. Jahrhundert. (Katalog zur Ausstellung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 27.9.2002 - 12.1.2003), Ostfildern: Hatje Cantz 2002
David Rosand: Myths of Venice. The Figuration of State, Chapel Hill, NC / London: University of North Carolina Press 2001
Carolin Wirtz: Köln und Venedig. Wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen im 15. und 16. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006
Ekkehard Eickhoff: Venedig - Spätes Feuerwerk. Glanz und Untergang der Republik (1700 bis 1797), Stuttgart: Klett-Cotta 2006
Im Mittelpunkt der Marburger Habilitationsschrift stehen "Schriftkenntnisse und Schreibfertigkeiten" (6) der venezianischen Bevölkerung vom 10. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, die Fees anhand von Aussteller- und Zeugenunterschriften in rund 4500 Urkunden untersucht. Eine solche Analyse ist für Venedig möglich, da in dieser Stadt - anders als im übrigen Oberitalien - die Carta nicht durch das Notariatsinstrument abgelöst wurde. In der Carta "schließt der Aussteller vor Zeugen mit Hilfe eines Schreibers, des Notars, durch eine subjektiv gefaßte, formelhafte Erklärung ein Rechtsgeschäft [...] ab oder läßt es beurkunden". Sie "wird von dem oder den Ausstellern und den Zeugen unterzeichnet und dem als Adressaten genannten Vertragspartner übergeben"(30). Im Notariatsinstrument wird der Text aus der Perspektive des Notars verfasst, der als Einziger das Dokument unterschreibt.
Von der Möglichkeit, den eigenen Namen vom Notar unter die Urkunde setzen zu lassen, was rechtlich denkbar gewesen wäre, machen in Venedig bis zum 12. Jahrhundert immer weniger Männer Gebrauch. Fees hebt hervor, dass "elementare Schreibkenntnisse" vor allem im Adel beziehungsweise in der politischen Führungsschicht nachzuweisen seien (103). Bis in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts sei hier die Alphabetisierung nahezu abgeschlossen gewesen. Fees bindet die Entwicklung zum einen an die sich intensivierende politische Partizipation dieser Gruppe und ferner an deren Engagement im Handel. Schriftkenntnisse haben für sie in all ihren Tätigkeitsfeldern eine zentrale Bedeutung besessen. Die unterschiedlichen Bereiche hätten den Gebrauch der Schrift wechselseitig gefördert und die Verbreitung von Schriftlichkeit folglich immer weiter vorangetrieben (197). Doch war die Fähigkeit zu schreiben nicht auf die Führungsschicht beschränkt, sondern mit einer zeitlichen Verzögerung auch bei zahlreichen nicht adligen Händlern und Kaufleuten zu finden. Bei den übrigen Einwohnern Venedigs "behielten die nicht Schreibkundigen das Übergewicht, obwohl durchaus auch Handwerker und Angehörige niedriger Schichten bezeugt sind, die etwa ihre Namen eigenhändig schreiben konnten" (196). Ohne Kenntnisse blieben die Frauen sowie diejenigen, die in ländlich strukturierten Regionen des Dogats lebten.
Die Ergebnisse von Fees provozieren weitere, von ihr nicht angestellte Überlegungen. Es bleibt beispielsweise offen, weshalb in Venedig die Urkundenform der Carta beibehalten wurde und den Unterschriften von Ausstellern und Zeugen ein wachsender Wert zukam. In anderen oberitalienischen Stadtgemeinden stellten die führenden Familien Richter, die, was in einigen Fällen nachzuweisen ist, im 12. Jahrhundert neben ihrer jurisdiktionellen Tätigkeit notarielle Funktionen ebenso übernahmen wie höchste kommunale Ämter. Sicherlich liegt in dem Ansehen und der daraus resultierenden Autorität der Schreiber ein Grund dafür, dass sie zu den alleinigen Unterzeichnern der Urkunden wurden. In Venedig hingegen ist ein geringeres Sozialprestige des Notaramts zu beobachten, das aus ungenannten Gründen bis ins 13. Jahrhundert ausschließlich, bis ins 14. Jahrhundert überwiegend von Angehörigen des Weltklerus, also von Diakonen, Presbytern und Pfarrern, ausgeübt wurde. Die Unterschriften von Ausstellern und Zeugen blieben Usus. Das führt zu der Frage, ob allein die Kombination aus "Großstadt, Fernhandelsstadt und einem auf breiter personeller Basis gegründeten Herrschaftssystem" (198) die Aneignung von Schreibfertigkeiten förderte. Nicht auszuschließen ist, dass es vor dem Hintergrund eines steigenden Bedürfnisses nach der schriftlichen Fixierung privater Übereinkommen auch und gerade die Urkundenform der Carta war, die immer weitere Bevölkerungskreise zwang, zumindest den eigenen Namen und einige, in der Regel abgekürzte Urkundenformeln schreiben zu lernen. Wie weit die Kenntnisse darüber hinausgingen bleibt im Bereich des Spekulativen und kann auch von Fees nicht überzeugend beantwortet werden. Doch kann wahrscheinlich eines festgehalten werden: Ausgehend von der Führungsschicht entstand innerhalb der Stadt ein hoher sozialer Druck, sich das Schreiben anzueignen und beim Abschluss von Rechtsgeschäften von dem Erlernten Gebrauch zu machen. Die selbst ausgeführte Unterschrift wurde so selbstverständlich, dass der Notar, wie Fees hervorhebt, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts verstärkt Erläuterungen hinzufügte, wenn er stellvertretend auf die Anwesenheit der betreffenden Person verweisen musste. Alter, Krankheit und andere wichtige Termine bildeten die meist genannten Gründe. Das eigenhändige Unterschreiben, so lässt sich schlussfolgern, wurde offensichtlich für die Glaubwürdigkeit der Urkunde zunehmend wichtig.
Dass Schreibkenntnisse nicht nur im Rechtsleben, sondern vor allem im kaufmännischen Alltag von Nutzen und vorhanden waren, verdeutlicht Fees anhand dreier Beispiele, die sie als "singulär innerhalb des überlieferten Materials, vermutlich aber keineswegs singulär in ihrer Zeit" (174) kennzeichnet. Graziano Gradenigo nahm auf Reisen nicht nur Aktenmappen und Urkundentaschen, sondern auch Schreibgeräte, Tintenfässer und Tinte, Schreibhefte, eine Schreibtafel und sogar einen Schreibtisch mit. Von Pietro Corner ist eine Mitteilung erhalten, in der die Empfänger, Waren, Gewichte sowie die Geschäfts- und Transportbedingen einer Handelsfahrt genannt werden. Und Romano Mairano machte sich kurze Vermerke auf die Rückseiten seiner über einhundert Dokumente, die deren Benutzung vereinfachten. Die drei Männer entstammten unterschiedlichen sozialen Schichten: dem hohen Adel, einem in den Adel aufgestiegenen Geschlecht sowie einer Familie von nicht adligen Freien. Ihre Handlungen spiegeln einzelne Facetten eines umfänglichen Schriftgebrauchs durch die Kaufleute wider.
Nach der Frage, ob die Schreib- auch Lesekenntnisse implizieren, was kaum nachgewiesen, aber "aufgrund logischer Folgerungen, allgemeiner Überlegungen und schließlich auch einiger positiver Zeugnisse aus gutem Grund" (182) vermutet werden kann, widmet sich Fees abschließend der Problematik, auf welche Weise man im Venedig des 11. und 12. Jahrhunderts die entsprechenden Fähigkeiten erwarb. Sie überbrückt das Schweigen der Quellen mit Literatur zu anderen Städten und Hinweisen aus späterer Zeit und nimmt die Existenz von Privatlehrern und ein Lernen in der Praxis an.
Eine chronologische Auflistung der Beglaubigungsformeln in 259 urkundlichen Kopien des 11. und 12. Jahrhunderts, ein Verzeichnis der 78 Dogenurkunden des 9. bis 12. Jahrhunderts, Materialien zu 90 nicht adligen Familien des 11. und 12. Jahrhunderts, fünf Karten und 20 Abbildungen unterschiedlicher Urkunden runden ihre Untersuchung ab.
Die Arbeit von Fees, anders vermag man es kaum auszudrücken, ruht in sich selbst. Die Leistung anderer anerkennend, sich des eigenen Wertes bewusst, verfolgt sie in einfachen, klaren Worten ihre Fragestellung. Sie konzentriert sich auf eine Quellengattung und eine Stadt. An keiner Stelle gibt sie der Versuchung nach abzuschweifen, einem Gedanken nachzugehen, der vom Thema wegführen könnte. Dies macht die Untersuchung, die aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel einen wichtigen Baustein zum Verständnis des Verschriftlichungsprozesses in Ober- und Mittelitalien bietet, außerordentlich gut lesbar. Wie Fees schreibt, bedürfen ihre Beobachtungen jedoch des Vergleichs. Den Blick über ihr direktes Forschungsfeld hinaus hätte sie an manchen Stellen sicherlich selbst leisten können, allein um die Besonderheit Venedigs besser erfassen zu können. Es bleibt also zu hoffen, dass Fees das Thema nicht als abgeschlossen betrachtet.
Petra Schulte