Rezension über:

Dierk Walter: Preußische Heeresreformen 1807-1870. Militärische Innovation und der Mythos der "Roonschen Reform" (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 16), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003, 654 S., ISBN 978-3-506-74484-5, EUR 88,00
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Rezension von:
Matthias Reiss
Deutsches Historisches Institut, London
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Reiss: Rezension von: Dierk Walter: Preußische Heeresreformen 1807-1870. Militärische Innovation und der Mythos der "Roonschen Reform", Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 5 [15.05.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/05/4484.html


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Dierk Walter: Preußische Heeresreformen 1807-1870

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Dierk Walters Buch beendet ein Kuriosum. Ungeachtet der Bedeutung der preußischen Militärreformen der 1860er-Jahre hat bisher lediglich Hermann Witte 1910 eine Monografie über dieses Thema veröffentlicht. Vieles, was über die Heeresreorganisation geschrieben wurde, basiert zudem auf offiziellen Schriften oder den Darstellungen der beteiligten Hauptakteure. Walter argumentiert jedoch, "dass der massive Zäsurcharakter der 1860er-Jahre, speziell der Reorganisation von 1859/60, für das preußische Militärwesen des 19. Jahrhunderts ein in der Historiographie fälschlich entstandenes Bild ist, dass der Wandel mit anderen Worten wesentlich flacher und kontinuierlicher verlaufen ist" (52). Von einer vierzigjährigen Stagnation der preußischen Armee zwischen den Befreiungskriegen und dem Beginn der Regentschaft Wilhelms I. könne keine Rede sein. Diese These belegt er eindrucksvoll und überzeugend.

Der Autor beginnt mit den Siegen des reorganisierten Heeres 1866 und 1870/71, bevor er sich dem Verhältnis von Krieg, Militär und Gesellschaft zuwendet. Im 19. Jahrhundert, so Walter, standen archaische und moderne Elemente der Kriegführung nebeneinander, sodass dieses Jahrhundert über weite Strecken eine "Grauzone" (167) darstelle. Dies gilt dem Autor zufolge auch für die technische und organisatorische Entwicklung von bewaffneter Macht und Krieg sowie für das jeweilige Wechselverhältnis zwischen Militär und Staat, Militär und Zivilgesellschaft sowie Militär und Industrie.

Die Militärreformen nach der Niederlage von 1806/07 zielten nach Walter darauf ab, eine nationale Armee zu schaffen. Das Bürgertum wurde über die Landwehr in die preußischen Wehranstrengungen integriert, die jedoch im Frieden kaum präsent war und sich daher ideal zur Projektion verschiedenster wehrpolitischer Positionen eignete. Die bürgerliche Politik verklärte die Landwehr realitätsfern als Nationalmiliz, während konservative Militärs sie als ineffizient und unzuverlässig ablehnten. Jedoch gewöhnte die Institution der Landwehr die bürgerliche Bevölkerung sukzessive an das Instrument der allgemeinen Wehrpflicht, womit sie eine "unersetzliche Scharnierfunktion" (194) erfüllte. Als es die verbesserte Finanzlage des Staates erlaubte, konnte sie daher relativ problemlos durch Linientruppen mit Wehrpflichtigen ersetzt werden. Für Adel und Bauern änderte sich hingegen nach Walter im 19. Jahrhundert, was die Armee betraf, wenig. Die Armee fungierte in politischen Krisen als entscheidender Machtfaktor und mischte sich, entgegen dem offiziellen Bild, erfolgreich in die äußere und innere Politik des Staates ein.

Nach der Vorstellung der führenden Militärs beim Beginn des Verfassungskonflikts und einem kurzen Ausblick auf das gesellschaftliche Umfeld der Armee in Preußen wendet sich der Autor in den Kapiteln fünf bis acht dem Kernteil seiner Arbeit zu.

Walter unternimmt zunächst eine idealtypische Kategorisierung der verschiedenen Wehrsysteme in seinem Untersuchungszeitraum und zeichnet dann die zahlreichen Reformvorschläge und Reformen nach, die bis 1815 in Preußen diskutiert, umgesetzt und wieder aufgehoben wurden. Die geschaffene duale Wehrverfassung von Linie und Landwehr stieß in Preußen weitgehend auf pragmatische Zustimmung und wird vom Autor als Erfolg betrachtet. Sie ermöglichte es dem ausgelaugten Land über Jahrzehnte, seine Großmachtrolle zu bewahren, und definierte die Armee "dauerhaft als eine nationale, dem ganzen Volk in allen seinen Ständen verbundene Wehreinrichtung" (319).

Zwar stand die konservative Kritik der Landwehr skeptisch bis völlig ablehnend gegenüber, jedoch wurde die Reorganisation der Armee für viele Jahrzehnte durch finanzpolitische Zwänge verhindert. Vor dem Hintergrund der desolaten Finanzlage Preußens trugen Abgeordnetenhaus und Regierung den Streit um die Heeresreform schließlich über zwei unvereinbare, jedoch dogmatisierte Grundpositionen aus: die dreijährige Dienstzeit der Linieninfanterie und die Beibehaltung der Kriegsstärke der Bataillone von 1.000 Mann, laut Walter eine "heilige Kuh der Hohenzollern" (336).

Wilhelm I. sträubte sich mit aller Macht gegen eine Verkürzung der Dienstzeit, da sie seiner Ansicht nach nötig war, um den Mannschaften den richtigen Soldatengeist einzuimpfen und so ihre Zuverlässigkeit in inneren und äußeren Konflikten sicherzustellen. Dies erklärt die Bedeutung, die dieser Frage in der Debatte um die Heeresreform schließlich zugemessen wurde. De facto war die dreijährige Friedenspräsenzzeit der Linieninfanterie durch den Zwang zu finanziellen Einsparungen 1820 ohnehin schon reduziert und erst im Mai 1858 wieder gesetzlich festgelegt worden. Walter schildert detailliert die Debatte innerhalb der militärischen und politischen Führung Preußens um diese Fragen. Anschließend wendet er sich der allmählichen Aushöhlung und Demontage der Landwehr zu, die sukzessive in das stehende Heer integriert wurde, bis von ihrer eigenständigen Identität Anfang der 1850er-Jahre praktisch nichts mehr übrig war. Der preußischen Armee stellt Walter dabei ein überraschend positives Zeugnis aus. Für die später verbreitete Auffassung, sie sei 1850 oder 1859 zur Führung eines Krieges nicht fähig gewesen, gebe es praktisch keine zeitgenössischen Belege.

Dass sich der Verfassungskonflikt in der "Neuen Ära" zwischen 1858 und 1862 an Militärfragen entzündete, führt Walter auf die besondere Bedeutung der Kommandogewalt für das preußische Heerkönigtum zurück. Besonders für Wilhelm I. diente die Armee als letzter Bezugspunkt seines Selbstverständnisses. Beide Seiten unterstellten der jeweils anderen Partei Absichten, die vor allem ihre eigenen Ängste widerspiegelten. Einmal entstanden, sei die Eskalation des Konflikts daher beinahe unvermeidlich gewesen. Walter urteilt kritisch über die in der Forschungsliteratur dominierende These, die Reorganisation des Heeres sei nicht primär militärfachlich, sondern politisch motiviert gewesen. In dieser Interpretation sieht er die Rhetorik des Verfassungskonfliktes oder idealisierte Vorstellungen von der Landwehr gespiegelt.

Der Autor befasst sich im Anschluss mit den Akteuren des Verfassungskonfliktes, den materiellen Streitpunkten in der Heeresvorlage sowie den verfassungs- und wehrrechtlichen Wurzeln des Konflikts. Die Verlierer der Auseinandersetzung seien die radikalen Flügel auf beiden Seiten gewesen, während sich die kooperationsbereiten Kräfte schließlich durchgesetzt hätten. Als den eigentlichen Sieger, außen- wie innenpolitisch, betrachtet Walter das preußische Heerkönigtum.

In Bezug auf die Dauerhaftigkeit der Reformen sowie die Frage, inwieweit die angestrebten Ziele erreicht wurden, fällt sein Urteil jedoch überwiegend negativ aus. Preußen schöpfte sein Wehrpotenzial auch nach der Heeresreform nicht voll aus. Zwar erreichte es eine relativ hohe Rekrutierungsquote, doch verfügten die anderen Mächte dessen ungeachtet immer noch über größere Armeen, die sie zudem mit weit weniger Aufwand ergänzen konnten. Preußens Vorsprung war relativ und zeitlich begrenzt. Ebenso wenig führte die Heeresreform zur angestrebten Verjüngung und Vereinheitlichung des Feldheeres oder zur angestrebten Schonung der bürgerlichen Lebens- und Erwerbsverhältnisse während einer Mobilmachung. Auch die so heiß umkämpfte dreijährige Friedenspräsenz der Linieninfanterie wurde ironischerweise fast von Beginn an nicht realisiert.

Die Heeresstruktur Preußens blieb von den Befreiungskriegen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges relativ konstant. Im Gegensatz zu den anderen Mächten verfügte es jedoch in den 1860er-Jahren über einen modernen Generalstab, der bereits in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts entstand und dessen stetige Entwicklung, Konsolidierung und Professionalisierung ausführlich geschildert wird. Der ältere Moltke konnte als Chef dieser Institution auf den Arbeiten seiner Vorgänger aufbauen und sein späteres Prestige wiederum für weitere Reformen nutzen, die nach Walter "weit mehr eine Folge als eine Ursache der Siege von 1864 bis 1871" (553) waren. Auch das preußische Offizierskorps erlebte einen stetigen, wenn auch manchmal nur partiellen Professionalisierungsprozess, der sich in anderen Armeen bis zu den Einigungskriegen so nicht vollzog. Im Bereich der Technikaneignung war die preußische Armee dagegen, mit Ausnahme des Militäreisenbahnwesens, ausgesprochen vorsichtig, zeitweilig geradezu gleichgültig. Auch die Anpassung der Ausbildung und Taktik an neue Gegebenheiten verlief eher schleppend.

Walters Buch wird ohne Zweifel zu einem Standardwerk auf seinem Gebiet werden. In seiner Bewältigung der Quellen sowie der umfangreichen Literatur ist es vorbildlich, und die nüchterne und kritische Einstellung des Autors zu seinem Thema kann einfach nur als wohltuend bezeichnet werden. Die immer wieder kolportierte "Wer ist aber der General Moltke?"-Anekdote von Königgrätz wird zum Beispiel auf drei ganzen Seiten zerlegt (85-87). Auch sonst ist Walter nicht zögerlich, kritisch mit Darstellungen und Thesen der existierenden Literatur umzugehen, wobei er gelegentlich aber zu etwas heftigen Ausfällen neigt. Auch die Grenze zwischen Bonmot und Polemik ist manchmal fließend, etwa wenn Wilhelm I. "militärfachlicher Autismus" (340) zugeschrieben wird. Ungeachtet dessen sowie vereinzelter Längen ist "Preußische Heeresreformen" ohne Vorbehalte zu empfehlen. Es ist zu hoffen, dass es trotz seines hohen Preises eine möglichst weite Leserschaft im In- und Ausland finden wird.

Matthias Reiss