Alois Kernbauer: Die "klinische Chemie" im Jahre 1850. Johann Florian Hellers Bericht über seine Studienreise in die deutschen Länder, in die Schweiz, nach Frankreich und Belgien im Jahre 1850. Geleitwort von Johannes Büttner (= Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte; Beiheft 49), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002, 192 S., ISBN 978-3-515-08122-1, EUR 34,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Andreas Frewer / Volker Roelcke (Hgg.): Die Institutionalisierung der Medizinhistoriographie. Entwicklungslinien vom 19. ins 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001
Francis R. Nicosia / Jonathan Huener (eds.): Medicine and Medical Ethics in Nazi Germany. Origins, Practices, Legacies, New York / Oxford: Berghahn Books 2004
Constantin Goschler: Rudolf Virchow. Mediziner - Anthropologe - Politiker, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002
Doris Schwarzmann-Schafhauser: Orthopädie im Wandel. Die Herausbildung von Disziplin und Berufsstand in Bund und Kaiserreich (1815-1914), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004
Winfried Süß: Der "Volkskörper" im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939-1945, München: Oldenbourg 2003
Der in Prag ausgebildete Apotheker und Doktor der Chemie Johann Florian Heller (1813-1871), bekannt für die von ihm entwickelten Harnuntersuchungsmethoden, gilt als einer der Pioniere der Klinischen Chemie. Seit 1838 in Wien, gelang es Heller nicht, eine Karriere als Universitätsprofessor einzuschlagen. Ab 1842 richtete er unter hohem persönlichen Einsatz am Wiener Allgemeinen Krankenhaus ein pathologisch-chemisches Laboratorium ein, wo er zur Unterstützung der Kliniker vor allem eine große Anzahl von Harn- und Blutanalysen durchführte. Heller hatte im Kreise der Wiener Medizinischen Schule anhaltende Schwierigkeiten, seinen Arbeitsbereich zu institutionalisieren und sich selbst in der Hierarchie der Medizinprofessoren am Allgemeinen Krankenhaus eine gefestigte Position zu verschaffen. Dennoch zeigte die übergeordnete Behörde Interesse an Hellers Projekt. 1850 erhielt er ein einjähriges, wenn auch mager dotiertes, Reisestipendium zum Zweck der Weiterbildung.
Alois Kernbauer, Wissenschaftshistoriker mit Arbeitsschwerpunkt im Bereich der österreichischen Medizin- und Pharmaziegeschichte, fand den lange verschollen geglaubten Reisebericht Hellers an das kaiserlich-königliche Kultusministerium im Österreichischen Staatsarchiv. Genauer gesagt handelt es sich um eine erste Fassung und eine zweite, aufgrund eines Gutachtens des Medizinalkollegiums wesentlich gekürzte Version.
Auf Basis bereits vorhandener Arbeiten entwirft Kernbauer in der Einleitung eine Kurzbiografie Hellers, zählt dessen wissenschaftliche Leistungen auf, beleuchtet die damaligen persönlichen und fachlichen Konflikte in Wien und stellt Heller in den Zusammenhang der erst in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts erfolgreichen Institutionalisierung der medizinischen Chemie an den Universitäten der Habsburgermonarchie. Der scheinbare Widerspruch zwischen dem Erfolg der Laboratoriumsmedizin und dem persönlichen Scheitern Hellers spiegelt sich auch in den angegebenen ambivalenten Beurteilungen Hellers aus der Sicht späterer Medizin- und Wissenschaftshistoriker wider.
Es folgt der kommentierte Reisebericht Hellers. Laut Editionskriterien (27) wurde der längere, erste Entwurf vollständig übernommen. Die darin enthaltene zweite, redigierte Version ist kenntlich gemacht, indem die gestrichenen Stellen durch kursiven Druck markiert sind. In dem umfangreichen, mehr als 120 Druckseiten umfassenden Bericht gibt Heller seine Beobachtungen und Erfahrungen während der Reise wieder und bewertet die vorgefundenen Verhältnisse an Universitäten, Hospitälern und Apotheken. Er beschreibt Forschungsrichtung, bauliche und instrumentelle Ausstattung, den Stand der Lehre und das akademische Leben. Die Reise führt nach Breslau, Dresden, Leipzig, Halle, Berlin, Göttingen, Marburg, Heidelberg, Basel, Zürich, Bern, Paris, Brüssel, Bonn und München. Abschließend stellt der Herausgeber ein Verzeichnis der verwendeten Literatur und jeweils ein Personen-, Orts- und Sachregister zur Verfügung.
Während Quellentext und Kommentar durch die Register sehr gut zugänglich gemacht sind, bleiben bei der Präsentation des Berichtes Fragen offen. Am Übergang zwischen normal und kursiv gedruckten Stellen ergibt sich bisweilen der Eindruck, als ob dort entgegen den Editionskriterien verschiedene Textvarianten kombiniert worden wären. So erscheint zum Beispiel folgende Passage erklärungsbedürftig: "Die Professoren betreffend fand ich, daß man jetzt fast überal[l] eifrig bemüht ist, durch jüngere Kräfte die älteren zu ersetzen, und dies gilt ganz besonders von der medizinischen Schule, namentlich kommt man jetzt mehr davon ab, davon abzukommen, den berufenen Lehrern aufzutragen, über mehrere Gegenstände zugleich zu lesen, sondern bestimmt sie für das Fach, worin sie bereits geleistet und wofür sie die meiste Vorliebe zeigen" (151 f.). Ein gesonderter textkritischer Apparat wäre der verwendeten Darstellungsweise vorzuziehen gewesen, zumal die Originaltexte in unterschiedlichen Handschriften vorliegen (27). Außerdem trüben Druckfehler relativ häufig das formale Erscheinungsbild.
Kommentar und Einleitung erläutern ausführlich die biografischen Hintergründe der genannten Personen. Detailliert wird auf den damaligen Zustand der besuchten Einrichtungen, wie bauliche Gegebenheiten und instrumentelle Ausstattung, eingegangen. Die fachlichen Publikationen und Diskussionen, insbesondere natürlich der Situation in Wien, wird kenntnisreich behandelt. Einige Hinweise Johannes Büttners, eines Kenners der Geschichte der klinischen und physiologischen Chemie [1], von dem auch das einleitende Geleitwort stammt, liefern zusätzliche Hintergrundinformationen. Kernbauer weist zurecht auf die durch den Bericht verfolgte Absicht Hellers hin, sich selbst als anerkannten Experten eines fortschrittlichen Fachgebietes im besten Licht zu präsentieren, und betont, dass dessen Aussagen in diesem Sinne interpretiert werden müssen (28). Dies betrifft nicht nur die durch Heller weitergegebenen Urteile über seine Wiener Konkurrenten und Gegner. Auch die Bemerkung, Liebig habe in Gießen "gar keine Feinde" (92) wäre zum Beispiel eher als taktisch zu bewerten. [2]
Ein wesentlicher Kritikpunkt an Einleitung und Kommentar ist die fehlende Einordnung in breitere, über fachliche Grenzen hinausgehende Kontexte. Es fehlt ein Hinweis auf den in der Ära des Ministerpräsidenten Fürst Felix von Schwarzenberg (1800-1852) beginnenden Neoabsolutismus, begleitet von Versuchen, die ökonomische, technische und wissenschaftliche Entwicklung zu einem modernen, geschlossenen Staatswesen voranzutreiben und die Führungsposition im Deutschen Bund gegen die aufstrebende Großmacht Preußen zu verteidigen. Auch die Reformbestrebungen unter dem neuen Minister für Kultus und Unterricht Graf Leo Thun-Hohenstein (1811-1888) werden nicht erwähnt. Heller, der sich als treuer, gewissenhafter Staatsdiener präsentiert, beschreibt Verhalten und Verbindungswesen der Studenten in fast allen besuchten Städten, vergleicht häufig den vorgefundenen medizinischen Kenntnisstand mit den Verhältnissen in Wien und behandelt dabei das Ansehen der heimatlichen Gelehrten im Ausland. Das auch allgemeinhistorisch interessante Verhältnis zwischen Politik und Bildungsbürgertum, verbunden mit Funktion und Bedeutung des naturwissenschaftlichen 'Fortschritts', bleiben dennoch in Einleitung und Kommentar ausgespart. Der Blick verengt sich daher zu stark auf eine reine Personen- und Disziplinengeschichte.
Hellers Bericht an das kaiserlich-königliche Kultusministerium ist eine wertvolle Quelle zum Zustand der Medizin, Physiologie, Pharmazie und Chemie an den zeitgenössischen Universitäten und Hospitälern Mitteleuropas. Er ist ein interessantes Dokument, obwohl oder gerade weil Heller seinem anfänglichen Anspruch, eine pathologische Chemie in Wien zu gründen nicht gerecht werden konnte. Es zeigen sich eine Reihe von Faktoren in der Gründungsphase einer neuen, durch Methoden und Sichtweise der erfolgreichen modernen Naturwissenschaft Chemie geprägten Laboratoriumsmedizin, welche bald das Verständnis von Begriffen wie Krankheit und Leben nachhaltig mitverändern sollte. Engere, fachinterne Aspekte werden ausführlich in Einleitung und Kommentar der Edition behandelt. Leider fehlen Hinweise auf Verbindungen zu breiteren allgemeingeschichtlichen Zusammenhängen.
Anmerkungen:
[1] Johannes Büttner / Christa Habrich (Hg.): Roots of Clinical Chemistry (Katalog zur Ausstellung in Den Haag, 28. Juni - 3. Juli 1987), Darmstadt 1987.
[2] Zur Situation in Gießen: Irmgard Hort: Die Prüfungsordnung für Ärzte von 1847 an der Universität Gießen im Widerstreit der Meinungen, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Gießen, Neue Folge 84 (1999), 41-79.
Thomas Steinhauser