John Horne / Alan Kramer: Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit. Aus dem Englischen von Udo Rennert, Hamburg: Hamburger Edition 2004, 741 S., ISBN 978-3-930908-94-3, EUR 40,00
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Die Studie der beiden Dubliner Historiker wurde bei Ihrem Erscheinen 2001 euphorisch begrüßt, und auch nach der Publikation der deutschen Übersetzung meldeten sich zunächst begeisterte, vornehmlich journalistische Stimmen. Denn nach jahrelanger Recherche in belgischen, britischen, französischen und deutschen Archiven und der Heranziehung der internationalen Sekundärliteratur rekonstruieren die Autoren nicht nur die die deutsche Invasion in Belgien und Frankreich zwischen August und Oktober 1914 begleitenden Kriegsgräuel - übrigens ein zeitgenössischer Propagandabegriff der Alliierten. Horne und Kramer bieten darüber hinaus ein Erklärungsmodell für die Geschehnisse an und widmen sich intensiv dem Propagandakrieg und den Nachkriegsauseinandersetzungen sowie längerfristigen Auswirkungen und Kontinuitäten.
Trotz dieser Leistung möchte sich der Rezensent dem positiven Urteil nicht anschließen und den zuletzt geäußerten quellenkritischen Bedenken jüngerer Historiker gegen dieses Buch nachgehen. [1] Die Akten des deutschen Generalstabs und der preußischen Armee sind im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen. Zum Ausgleich, so heißt es in der Einleitung, wollen Horne und Kramer "verstreute Nachlässe deutscher Offiziere und Soldaten" (14) heranziehen. Diese Quellen sagen aber oft das Gegenteil der Hauptquellen aus, denen die Autoren durchgehend - und eben unkritisch - folgen: den Berichten der Ersten (1914/15) und Zweiten (1919) Belgischen Kommission sowie der entsprechenden Französischen Kommission (erster Bericht Januar 1915). Die deutschen Quellen dienen den beiden Historikern in erster Linie dazu, die Kriegsverbrechen den jeweiligen militärischen Einheiten zuzuordnen. Ansonsten hat Ihre Quellenauswertung etwas Zirkuläres: So erklären die Autoren, ihre "Analyse ergab eine Bestätigung der während des Krieges entstandenen amtlichen Schätzungen, denen zufolge zwischen August und Oktober 1914 etwa 6500 Zivilisten in Belgien und Frankreich getötet wurden" (618). Die Quellen dafür sind jedoch in der Hauptsache eben diese amtlichen Schätzungen beziehungsweise Untersuchungen. Und selbst Zeitungsmeldungen aus Le Matin oder Le Temps übernehmen die Autoren einfach als Abbild der Wirklichkeit. Alle deutschen Berichte von belgischen Gräueln, Franktireurs (der Begriff aus der Revolutionszeit, wörtlich "Frei-Schütze", wird mit Freischärler oder Heckenschütze wiedergegeben) und illegalen Kriegshandlungen werden dagegen auf ein aus dem deutsch-französischen Krieg gespeistes Wahnbild zurückgeführt. Dies ist auch die vom belgischen Soziologen Fernand van Langenhove aus den Jahren 1915/16 stammende Erklärung für die deutschen Gräueltaten, welche im zweiten Teil des Buches entfaltet wird: Sahen die Alliierten und viele neutrale Beobachter zeitgenössisch im deutschen Nationalcharakter oder im deutschen Militarismus den Grund für die Entgleisungen beim deutschen Vormarsch, so erblicken Horne und Kramer in einer aus den Franktireurerfahrungen von 1870/71 genährten, offenbar flächenbrandartig auf allen Ebenen um sich greifenden kollektiven Autosuggestion der Deutschen - vom Gefreiten bis zum Kaiser - den Grund für die deutschen Repressalien. Eine Wiederholung des wilden Volkskrieges von 1870/71 sollte durch Prävention, Strafe und Abschreckung unbedingt vermieden werden. Dies wurde von deutscher Seite als legitim empfunden, wenn sich auch zunehmend kritische Stimmen meldeten, besonders in den sozialistischen und katholischen, weniger in den intellektuellen Milieus, denen Horne und Kramer luzide vergleichende Kapitel widmen. In den Beschwerden militärischer Stellen ist jedoch nur von "Plünderungen und Mißachtung des Privateigentums" die Rede. Wenn in diesem Zusammenhang das Wort "barbarisch" auftaucht, schließen die Autoren flugs darauf, "daß tatsächlich die Tötung wehrloser Zivilisten verurteilt wurde" (256).
Dadurch dass die beiden Historiker den alliierten Quellen nicht dieselbe Quellenkritik wie etwa dem offiziellen deutschen Weißbuch "Die völkerrechtswidrige Führung des belgischen Volkskriegs" von 1915 oder auch den - erfundenen - Gräuelgeschichten über abgehackte Kinderhände, abgeschnittene Brüste und vergewaltigte Nonnen angedeihen lassen, werden die von den Autoren (im französischen Fall nur mittels einer durch Analogie gebildeten Hochrechnung) errechneten über 6.000 getöteten Zivilisten und die 20.000 zerstörten Häuser allesamt als Belege für deutsche Kriegsverbrechen gewertet. Dies erinnert an die von der ersten Wehrmachtsausstellung bekannte Methode - das vorliegende Buch ist im Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung erschienen -, jede Repressalie gegen die Zivilbevölkerung über einen Kamm zu scheren.
Und hier ergibt sich der zweite Einwand. Die Trennung zwischen Kombattanten und Zivilisten hat seinen guten Sinn, die Relativierung oder Aufhebung dieser Unterscheidung führt zur Entgrenzung des Krieges, wie man allenthalben bis heute beobachten kann. Hatte der von Horne und Kramer zitierte Militärtheoretiker Julius von Hartmann so Unrecht, als er sagte: "Wo der Volkskrieg ausbricht, da wird der Terrorismus zu einem militärisch notwendigen Prinzip"? (215). Um diese Trennung aufrechtzuerhalten, die ja auch eine Schutzfunktion für die Nichtkombattanten beinhaltet - nichtreguläre Kriegshandlungen müssen ebenso geahndet werden wie Übergriffe des Militärs auf Zivilisten -, bedarf es eines strikten Reglements. Genau hier müsste man nun ansetzen und das zeitgenössische (Gewohnheits-)Völkerrecht vergleichend in den Blick nehmen. Auch in den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Irregularität des Partisanen, der nicht die Rechte des Kombattanten genießt, im Grundsatz bekräftigt. Die Ausführungen zu diesem Komplex sind in der vorliegenden Studie jedoch genauso lückenhaft wie der spärliche Auszug aus der Haager Landkriegsordnung von 1907. Diese erlaubte zwar die Gegenwehr der Bevölkerung gegen Invasoren, allerdings nur, "wenn sie die Waffen offen führt und die Gesetze und Gebräuche des Krieges beobachtet" (Artikel 2 der Anlage zum Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges). [2] Diesen Zusatz des von den Deutschen ungeliebten und ihnen abgerungenen Artikels missachten Horne und Kramer bei der Würdigung der Ereignisse. Die belgische Garde Civique, welche das kleine stehende belgische Heer ergänzen sollte (es gab keine Wehrpflicht in Belgien), bestand aus einem dem Heer zugeordneten aktiven Teil und einem inaktiven auf dem Lande, der Sicherungsaufgaben wahrzunehmen hatte. Das Erscheinungsbild besonders der inaktiven Garde Civique war nun, wie die Fotos im Band zeigen, dem von Zivilisten deutlich näher als dem von Soldaten. Auch Horne und Kramer schließen "Widerstand von Zivilisten", "unkoordinierte Widerstandshandlungen" (189) sowie Fälle von "Selbstmobilisierung der Bevölkerung" (193), wie sie schwammig sagen, nicht aus. Die belgische Regierung und die örtlichen Magistrate warnten immer vor solchen Handlungen - ein zusätzlicher Beleg dafür, dass es sie tatsächlich gab? Doch in welchem Umfang fanden diese, fanden Aktionen der Bevölkerung und der (inaktiven) Garde Civique statt? Auf diese wichtige Frage geben die Autoren keine präzise Antwort. Sie wäre für die Unterscheidung von Wahn und Wirklichkeit allerdings entscheidend. Einen von den Deutschen behaupteten "Volkskrieg" wie 1870/71 oder 1792 gab es allerdings sicherlich nicht.
Artikel 50 der Haager Landkriegsordnung besagt, dass "keine Strafe in Geld oder anderer Art [...] über eine ganze Bevölkerung wegen der Handlungen einzelner verhängt werden [darf], für welche die Bevölkerung nicht als mitverantwortlich angesehen werden kann". [3] Dieser Artikel, von den Autoren im Hinblick auf seinen zweiten Teil ständig verstümmelt zitiert, lässt Raum für Interpretation und schließt die gewohnte Kollektivrepressalie des souveränen Staates nicht aus, wenngleich massenhafte Erschießungen sicherlich nicht dem Geist dieses Artikels gerecht werden. Und natürlich, dies soll auf keinen Fall in Abrede gestellt werden, führte die Bekämpfung eines "Volkskrieges" zu deutschen Kriegsverbrechen gegen Zivilisten. Daraus zu folgern, dass die "Doktrin von der Unrechtmäßigkeit feindlicher Kriegführung durch Irreguläre [...] ein Baustein auf dem Weg des Militärs in die Gesetzlosigkeit und Barbarei des 'Dritten Reiches'" (626) gewesen sei, ist angesichts eines schlichten Vergleichs der Kriegsführung seit dem Westfälischen Frieden und der Epoche der Weltkriege, mit den charakteristischen Ausnahmen der Revolutions- und Kolonialkriege (wie des Amerikanischen Bürgerkrieges), während dessen diese Doktrin der Regularität weithin anerkannt war, schlichtweg absurd, ja gefährlich. Ähnlich wie im Inneren das Gewaltmonopol des Staates, also der Polizei, dient die Beschränkung der militärischen Gewalt auf Armeen der Hegung des Krieges, das heißt seiner Eingrenzung auf das Schlachtfeld und auf die Kombattanten, eine Aufhebung dieses Prinzips führt zur Lynchjustiz einerseits, zum entfesselten Weltbürgerkrieg andererseits. Dass zur Eindämmung der Irregularität freilich nicht jedes Mittel den Zweck heiligt und dieser Zweck im Zweiten Weltkrieg teilweise nur einen Vorwand lieferte, versteht sich von selbst. Doch auf dieses Problem hatte das Haager Landkriegsrecht noch keine Antwort gefunden.
Die mangelnde völkerrechtliche Kenntnis, Würdigung und Einordnung von Horne und Kramer wird besonders bei der versuchten Ahndung von Kriegsverbrechen durch den Versailler Vertrag deutlich. Wie sehr dieser einen Bruch mit den in der europäischen Rechtsgeschichte entwickelten Friedensprinzipien von Amnestie und Indemnität bedeutete, denen letztlich die tiefe Einsicht von der friedensstiftenden Kraft des etwa nach dem englischen Bürgerkrieg 1660 regelrecht verordneten Vergessens ("oblivion", die griechische Wurzel des Wortes Amnestie besagt "in Vergessenheit geraten") zu Grunde lag, wird in diesen Passagen deutlich. Die Autoren stehen der deutschen Empörung über das alliierte Auslieferungsbegehren ratlos gegenüber, das neben Kaiser und Kronprinz Wilhelm, Hindenburg, Ludendorff und an die 900 mutmaßliche Kriegsverbrecher umfasste, die allein von Gerichten der Sieger, teilweise sogar nur von einem Staat beschickt, abgeurteilt werden sollten. Horne und Kramer begegnen der Erregung darüber, die letztlich auch die britische Regierung zu einem Verzicht auf dieses Ansinnen bewegte, mit Verschwörungstheorien über die Rollen des Auswärtigen Amtes und der Reichswehr, die Zerstörung des Ius publicum europaeum fangen sie nicht ein.
Thomas Nipperdey, den die Autoren für seine kurze Behandlung des Themas harsch kritisieren, hat sicherlich das Ausmaß der deutschen Kriegsverbrechen 1914 unterschätzt. Was die Autoren jedoch mit dem Etikett der "Einzigartigkeit" bezwecken, bleibt unklar. Sie selbst verweisen auf den Genozid in Armenien und den russischen Rückzug von 1915 sowie auf den russischen Bürgerkrieg, der mit seinen hunderttausenden von Toten übrigens ein weiterer Beleg für die verhängnisvollen Konsequenzen einer Aufhebung der Trennung von regulären und irregulären Kämpfern ist. Dass die Ereignisse in Belgien und Frankreich einen anderen Charakter und eine andere Voraussetzung hatten, ist keine Überraschung, diese Feststellung trifft auf jedes historisches Ereignis zu.
Hornes und Kramers Darstellung ist mit derart vielen Wendungen wie "unwahrscheinlich", "es ist möglich", "nicht völlig ausschließen", "die am wenigsten plausible Erklärung" belastet, dass man in ihrer Studie nun kaum die andere, definitive Wahrheit (sowieso eine problematische Denkfigur in der modernen Geschichtswissenschaft) über die Geschehnisse im Sommer 1914 erblicken kann. Ihr gut geschriebenes Buch bietet aber eine Grundlage für weitere Forschungen zum diffizilen Komplex von Kriegsrecht, zivilem Widerstand und Repressalien, welche die unbestreitbaren Plünderungen, Brandstiftungen, Erschießungen und auch Vergewaltigungen belgischer und französischer Zivilisten weiter in den Blick nehmen können. Dabei täte man gut daran, sich eines wissenschaftlichen Stils zu bedienen, wie ihn Horne und Kramer selbst pflegen, und die in der Geschichtswissenschaft zu inhaltsleeren Plastikwörtern verkommene Begriffe wie "Apologie" und "Anklage" beiseite zu lassen.
Anmerkungen:
[1] Vergleiche die Rezensionen von Markus Pöhlmann, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 64 (2002) und Christian Hartmann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 135, 14.6.2004.
[2] Anlage zum Abkommen. Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (Übersetzung), in: Die Haager Landkriegsordnung. Das Übereinkommen über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs. Textausgabe mit einer Einführung von Dr. Rudolf Laun, 4. Auflage, Wolfenbüttel / Hannover 1948, 77.
[3] Ebenda, 95.
Peter Hoeres