Rezension über:

Eduard D. Frolov: Russkaja nauka ob anticnosti. Istoriograficeskie ocerki [Die russische Antikewissenschaft], Sankt-Petersburg: Izdat. S.-Petersburgskogo Univ. 1999, 541 S., ISBN 978-5-288-02285-2
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Rezension von:
Roman Lapyrjonok
Saratower Universität Irkutsk
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Roman Lapyrjonok: Rezension von: Eduard D. Frolov: Russkaja nauka ob anticnosti. Istoriograficeskie ocerki [Die russische Antikewissenschaft], Sankt-Petersburg: Izdat. S.-Petersburgskogo Univ. 1999, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/07/6600.html


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Eduard D. Frolov: Russkaja nauka ob anticnosti

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Der Verfasser des vorliegenden Buches lehrt an der Universität von Sankt-Petersburg und gilt als einer der bedeutendsten Gelehrten der Altertumswissenschaften in Russland. Hauptziel seines Werkes ist es, die wichtigsten Etappen der Entwicklung der russischen Altertumswissenschaft zu untersuchen. Um dem Leser, der des Russischen nicht kundig ist, die Orientierung zu erleichtern, soll der Inhalt des Werkes etwas ausführlicher vorgestellt werden.

Der erste Teil des Buches behandelt die Entstehung der historischen Kenntnisse über die Geschichte des antiken Griechenland und des antiken Rom während der Fürsten- beziehungsweise Zarenzeit in Russland (860-1917). Die Anfänge der Beschäftigung mit der Antike liegen in der Epoche der Regierung des Fürsten Wladimir (980-1015), der nicht nur eine große Rolle im Prozess der Formierung des altrussischen Staates, sondern auch des altrussischen Ausbildungssystems gespielt hat. In dieser Zeit beschäftigten sich die christlichen Priester mit der Übersetzung der altgriechischen und der lateinischen Quellen. Die Werke von antiken Autoren wurden damals zum ersten Mal ins Altrussische übersetzt. Zu den ersten Quellen, die im 11. Jahrhundert übersetzt wurden, gehörten "Die Geschichte des Jüdischen Krieges" von Flavius Iosephus und "Die Taten Alexanders des Großen" von Pseudo-Kallisthenes.

Während der Renaissance vergrößerte sich in Russland das Interesse für die Antike. Der Zar Iwan IV., genannt "der Schreckliche", (1538-1584) war ein großer Verehrer der griechischen und römischen Kultur. Er nutzte die schon weiter entwickelten kulturellen Beziehungen Russlands mit Europa, um neue Übersetzungen antiker Werke, die es in verschiedenen europäischen Sprachen bereits gab, zu erwerben. In den christlichen Schulen studierten die Priester die alten Sprachen und übersetzten die antiken Texte ins Russische. Im 16. Jahrhundert wurde Moskau das große Zentrum für die Untersuchungen der Kultur der alten Staaten des Mittelmeerraums.

Die besten Ergebnisse aber sind den Aktivitäten des Zaren Peter I. (des "Großen") zu verdanken. Im Jahre 1724 wurde die Russische Akademie der Wissenschaften gegründet. Dies war ein bedeutendes Ereignis im kulturellen und wissenschaftlichen Leben des Staates. Große Aufmerksamkeit lenkte man damals auch auf das Studium der alten Sprachen. Im Jahr 1700 gab I. F. Kopiewskij, ein Gelehrter auf dem Gebiet der Alten Geschichte und der Klassischen Sprachen, das erste russische Lehrbuch für die Grammatik der lateinischen Sprache heraus. Er hat zum ersten Mal die Fabeln Aesops und einige andere Werke altgriechischer Autoren ins Russische übersetzt. Im Jahre 1709 wurden auf Initiative von Peter I. "Die Taten Alexander des Großen" des Curtius Rufus in Moskau veröffentlicht. An der Akademischen Universität, die 1747 faktisch eröffnet wurde, hielten Fachleute aus verschiedenen europäischen Ländern, die von den russischen Imperatoren eingeladen wurden, Vorlesungen.

In dieser Zeit entstand auch die russische Schule für Klassische Philologie und Alte Geschichte. Eine große Rolle spielten in diesem Prozess die engen Beziehungen zur europäischen Altertumswissenschaft, die Peter I. möglich gemacht hatte. Die europäisch orientierte Außenpolitik der russischen Zaren im 18. Jahrhundert übte einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der Wissenschaft und der Kultur aus. Das zunehmende Interesse für die Geschichte des Altertums und die klassische Literatur in der Gesellschaft leistete auch einen großen Beitrag zur Entstehung der spezifischen russischen Dichtung. Die neue Generation der Dichter (A. Kantemir, W. K. Trediakowskij, M. W. Lomonosow) übersetzte in dieser Zeit die Werke von Homer, Anakreon, Terenz und Horaz.

Im zweiten Teil untersucht E. D. Frolow die Hauptetappen in der Entwicklung der russischen Universitätswissenschaft für Alte Geschichte bis zur Zeit der Oktoberrevolution. Im Jahre 1755 wurde in Moskau die erste russische Universität gegründet. Am Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte hielten die großen Kenner der Althistorie T. N. Granowski und P. N. Kudrjawtzew Vorlesungen. Den russischen Dichtern N. I. Gneditsch und W. A. Zhukowskij ist es zu verdanken, dass damals auch die Übersetzungen der Werke Homers erschienen, die bis heute als die besten russischen Übersetzungen der altgriechischen epischen Poesie gelten.

Im 19. Jahrhundert begannen russische und europäische Wissenschaftler sich mit der Archäologie der griechischen Kolonien, die sich auf dem Territorium der Krim befinden, zu beschäftigen. Als Ergebnis der Arbeit an den Inschriften, die bei den Ausgrabungen in diesem Gebiet gefunden wurden, wurden in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts die "Inscriptiones antiquae orae septentrionalis Ponti Euxini" vom russischen Historiker W. W. Latyschew ediert, der ein Schüler des angesehenen Fachmanns für Epigraphik F. F.Sokolow war. Dies war ein bedeutender Erfolg der russischen Altertumswissenschaft, der bei vielen europäischen Gelehrten (wie zum Beispiel Theodor Mommsen) Anerkennung fand.

Das größte Zentrum für Altertumswissenschaften wurde die Sankt-Petersburger Universität, an der die bekannten Althistoriker S. A. Zhebeljow, F. F. Zelinskij und M. I. Rostowtzew unterrichteten. Sie arbeiteten an verschiedenen Problemen der sozio-ökonomischen und politischen Entfaltung der Staaten des Mittelmeerraums. F. F. Zelinskij leistete einen großen Beitrag zum Verständnis der Entwicklung der griechischen Philosophie. M. I. Rostowtzew widmete seine wissenschaftliche Tätigkeit den Problemen der römischen Wirtschaft der Kaiserzeit und vielen anderen Fragen der Geschichte des Altertums.

Im letzten Teil des Buches stellt der Verfasser Ergebnisse der Arbeit der russischen Historiker vor, die nach der Oktoberrevolution erzielt wurden. Auch wird hier das Schicksal der Wissenschaftler einbezogen, die während der Zeit der Sowjetunion im Ausland lebten und arbeiteten.

Frolows Monografie ist der erste Versuch, die verschiedenen Etappen der Entwicklung der Altertumswissenschaft in Russland einzuordnen, und gleichzeitig die bisher ausführlichste Arbeit über die Geschichte der russischen Althistorie. Die große Bedeutung dieser Untersuchung besteht darin, dass in ihr zum ersten Mal die wissenschaftlichen Leistungen aus zwei verschiedenen Epochen der russischen Geschichte, der russischen und der sowjetischen, dargestellt werden. Vielleicht unterschätzt der Verfasser etwas den Einfluss, den europäische Gelehrte (im 18. Jahrhundert kamen fast alle aus deutschen Städten) bei der Entwicklung der russischen Altertumswissenschaften ausübten. Bei der Darstellung der Lage der modernen Wissenschaft konzentriert er sich zu sehr auf die Leningrader Universität. Doch sind diese Kritikpunkte nur marginal. Das Buch muss als Standardwerk der russischen Altertumswissenschaft gelten.

Roman Lapyrjonok