Helene Albers: Zwischen Hof, Haushalt und Familie. Bäuerinnen in Westfalen-Lippe (1920-1960) (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 39), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2001, 530 S., ISBN 978-3-506-79612-7, EUR 46,40
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Der tiefgreifende Wandel, den die ländliche Gesellschaft nicht nur in Deutschland im Zuge vielschichtiger Modernisierungs- und Technisierungsprozesse durchlaufen hat, zählt zu den wenig beachteten Signaturen des "kurzen 20. Jahrhunderts". Durch die verbesserten Verkehrsanbindungen, die Elektrifizierung des ländlichen Raumes, die Technisierung der Landwirtschaft und neue Kommunikationsmöglichkeiten, um nur einige Faktoren zu nennen, hielt die Moderne nun auch in den Dörfern Einzug. Dadurch lockerten sich die traditionell engen wechselseitigen Bindungen der Dorfbewohner, wandelten sich mentale Einstellungen und Lebensentwürfe, verringerte sich das zuvor drastische Gefälle zwischen Stadt und Land und veränderten sich die Geschlechterverhältnisse in der bäuerlichen Bevölkerung.
Insbesondere mit dem letztgenannten Aspekt beschäftigt sich die Studie von Helene Albers, eine Dissertation an der FU Berlin, die aus dem Projekt "Gesellschaft in Westfalen. Kontinuität und Wandel 1930-1960" des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte in Münster hervorgegangen ist. Ihre Leitfrage lautet, "wie sich der landwirtschaftliche Strukturwandel [...] auf das Alltagsleben der Bäuerinnen auswirkte" (7). Albers untersucht dabei nicht nur die geschlechterspezifische Arbeitsteilung auf den Höfen sowie das Problem der Bäuerinnen, Familien-, Haus-, Hof- und Feldarbeit zu vereinbaren, sondern auch die sich verändernden Leitbilder der Agrarpolitik sowie die Versuche der Betroffenen, ihre Interessen eigenständig zu vertreten. Die Modernisierungstheorie dient dabei nicht als Paradigma, sondern wird geschickt "als ein heuristisches Instrument zur begrifflichen Systematisierung und Analyse gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse der Moderne" (8) verwendet.
Diese ambitionierte Verbindung von Agrar-, Alltags- und Geschlechtergeschichte lässt sich nur mit einem regionalhistorischen Zugriff bewältigen. Wenn Albers den Fokus auf Westfalen-Lippe als "'Musterbeispiel' der westdeutschen Landwirtschaft" (16) richtet, geht es ihr nicht um eine sich selbst genügende Regionalgeschichte, "sondern darum, das überregionale Allgemeine (und das vom Allgemeinen Abweichende) in der Region und anhand der Region herauszuarbeiten" (15). Um die aufgeworfenen Fragen zu beantworten, ist eine große Tiefenschärfe notwendig, die Albers durch die mikroskopische Untersuchung zweier Dörfer gewinnt. Die für die beiden Gemeinden Lienen und Schöppingen erarbeiteten Befunde werden durch statistische Daten und die umfassende Auswertung der Literatur für die Untersuchungsregion Westfalen hinreichend plausibilisiert.
Die Kombination qualitativer und quantifizierender Methoden, der wiederholte Perspektivenwechsel zwischen "oben" und "unten" machen eine Stärke der Arbeit aus. Eine andere liegt in der breiten Quellenbasis, die unter anderem Bestände des Bundesarchivs, des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf, der Staatsarchive Detmold und Münster sowie von Gemeinde- und Kirchenarchiven umfasst. Trotz des großen Rechercheaufwands bleibt manches im Dunkeln, denn in der ländlichen Gesellschaft wurde vieles nie schriftlich fixiert. Freilich macht Albers aus dieser Not eine Tugend, indem sie die Quellenprobleme thematisiert und den Leser gewissenhaft über Lücken der Überlieferung unterrichtet. Einige dieser Lücken konnte Albers durch Zeitzeugenbefragungen schließen, wobei sie die methodischen Fallstricke der oral history ebenfalls problematisiert.
Die Studie ist in zwei Teile gegliedert. Der erste beschäftigt sich mit den "Lebenswelten" der Bäuerinnen. Behandelt werden die Veränderungen der Frauenarbeit im Zuge des landwirtschaftlichen Strukturwandels, Heiratsstrategien, Geschlechter- und Generationenverhältnisse auf den Höfen sowie Frauen in der Dorföffentlichkeit. Der zweite, chronologisch aufgebaute Teil behandelt das Verhältnis von Staat und Bäuerinnen. Dabei geht es einerseits um die verschiedenen Versuche, die Interessen der Bäuerinnen in eigenständigen Vereinigungen zu vertreten, andererseits um die Rolle der Bäuerinnen in der Agrarpolitik der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der frühen Bundesrepublik. Vor allem im ersten Teil erweist sich der Ansatz von Albers als sehr ertragreich. En passant zeigt sie etwa die große Bedeutung der Erschließung des Landes mit moderner Infrastruktur für den Arbeitsalltag: So war der Einsatz von Waschmaschinen, durch den die Bäuerinnen von schwerster körperlicher Arbeit entlastet wurden, erst nach dem Anschluss der Dörfer an die zentrale Strom- und Wasserversorgung möglich. Das geschah freilich in ländlichen Regionen vielfach erst in den Sechzigerjahren.
Damit ist der einzige wesentliche Kritikpunkt an der Konzeption der Studie benannt: Weder das Jahr 1920 noch das Jahr 1960 markieren für den Untersuchungsgegenstand wesentliche Einschnitte, der Untersuchungszeitraum kann somit nicht überzeugen. Albers hält selbst fest, "daß der Erste Weltkrieg den Beginn einer neuen Phase der gesellschaftlich-politischen Mobilisierung für Staat und Nation markierte" (14) - eine Tatsache, der die neuere Forschung zur deutschen Gesellschaftsgeschichte Rechnung getragen hat. Die Endzäsur will Albers "nur als Fluchtpunkt der Untersuchung [...] und keineswegs als Ende oder Anfang einer genau zu datierenden Entwicklung" (15) verstanden wissen, doch damit entziehen sich wesentliche Teile des sozioökonomischen Strukturwandels ihrem Blick. Mit guten Gründen hat die neuere Forschung die Sechzigerjahre als Phase beschleunigter gesellschaftlicher und politischer Veränderungen ausgemacht. Daher muss Albers immer wieder konstatieren, dass die von ihr noch untersuchten Fünfzigerjahre nur die Inkubationszeit für Prozesse mit weitreichenden Konsequenzen darstellten, die erst im folgenden Jahrzehnt zum Durchbruch gelangten - etwa Verschiebungen zwischen den Wirtschaftssektoren, das Schwinden klerikaler Autorität, Umbrüche in den Geschlechterverhältnissen oder im Heiratsverhalten, um nur einige Beispiele zu nennen.
Dieser kritische Einwand soll freilich das große Verdienst der Studie von Helene Albers nicht schmälern. Sie bringt nicht nur den Forschungsstand sowohl hinsichtlich der veränderten Lebenswelten der Bäuerinnen als auch in Bezug auf das sich wandelnde Verhältnis von Staat und Bäuerinnen voran, sondern wird darüber hinaus zu weiteren Arbeiten zu diesem Themenkomplex anregen. Was kann man von einer Dissertation mehr erwarten?
Jaromír Balcar