Rezension über:

Hans-Liudger Dienel: Die Linde AG. Geschichte eines Technologie-Konzerns 1879-2004, München: C.H.Beck 2004, 512 S., 28 Abb., 16 Tafeln, ISBN 978-3-406-51484-5, EUR 34,90
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Rezension von:
Christian Kleinschmidt
Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Michael C. Schneider
Empfohlene Zitierweise:
Christian Kleinschmidt: Rezension von: Hans-Liudger Dienel: Die Linde AG. Geschichte eines Technologie-Konzerns 1879-2004, München: C.H.Beck 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 9 [15.09.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/09/6217.html


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Hans-Liudger Dienel: Die Linde AG

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Die Festschriftenliteratur anlässlich von Firmenjubiläen hat spätestens seit den 1990er-Jahren eine erfreuliche Entwicklung genommen. Sie orientiert sich zunehmend an einer modernen, wissenschaftlichen Unternehmensgeschichte. Das ist nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen, dass die auftraggebenden Unternehmen sich ihre Geschichte von ausgewiesenen Fachhistorikern schreiben lassen. So auch im Fall der Linde AG, für die der Technikhistoriker Hans-Liudger Dienel die Jubiläumsschrift verfasste, wobei er an die Ergebnisse seiner vor 10 Jahren erschienen Dissertation zur Geschichte der Kältetechnik in Deutschland anschließen konnte. Diese Arbeit bildet gleichsam den Grundstock für die Linde-Jubiläumsschrift, die aus einer Mischung aus systematischer und chronologischer Gliederung besteht. Die beiden ersten, thematisch orientierten Kapitel über "Linde als Kältemaschinenbauer" und "Linde in der Tieftemperaturtechnik" decken sich mit dem Untersuchungszeitraum von Dienels Dissertation und setzen sich mit den entsprechenden Themenbereichen über die Gründungsphase von Linde, die Entwicklung des Kältemaschinenbaus, die frühe Unternehmensorganisation bis hin zu Fragen der Vermarktung von Linde-Produkten zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und der Weltwirtschaftskrise auseinander. Hier liegen die Schwerpunkte im Bereich der Technikgeschichte, die ausführlich, kompetent, informativ und gut lesbar dargestellt werden.

Doch das in der Einleitung skizzierte Programm geht weit darüber hinaus. Dienel formuliert dort den Anspruch einer "kritischen Unternehmensgeschichte", rekurriert auf neuere Diskussionen über den "Kern der Unternehmensgeschichte", auf Aspekte der "Neuen Institutionenökonomik", auf psychologische, ethische und ästhetische Zugänge der Unternehmensgeschichte sowie auf Fragen der Unternehmenskultur und auf "Arbeitsweisen der Mitarbeiter/innen" und andere, kurzum: es geht ihm darum, in Anlehnung an neueste Entwicklungen der wissenschaftlichen Unternehmensgeschichte im Rahmen einer Festschrift die Geschichte der Linde AG "umfassend"(19) und dazu auch noch vergleichend (16) darzustellen. Gleichzeitig warnt Dienel vor der möglichen Gefahr, den "Fokus auf den ökonomischen Unternehmenserfolg" (14) zu legen. An diesem Anspruch muss sich die Arbeit messen lassen.

Abgesehen davon, dass ein solch ambitioniertes Vorhaben selbst auf beeindruckenden 500 Seiten für einen Zeitraum von 125 Jahren kaum angemessen zu bewältigen ist: Hier zeigen sich die Grenzen der Arbeit hinsichtlich der Vereinbarkeit von wissenschaftlicher Unternehmensgeschichte und Jubiläumsliteratur. Denn je weiter die Darstellung sich der Gegenwart nähert, desto mehr ähnelt sie einer Festschrift traditionellen Stils, legt die Linde-Darstellung dann eben doch den Fokus auf den ökonomischen Unternehmenserfolg, was nicht nur plakative Überschriften und Zwischenüberschriften ("Cash Cow: Linde in den 1980er und 1990er Jahren", "Blick zurück nach vorn", "Linde im 21. Jahrhundert") sowie Fotos von Produktion und Vorstandsmitgliedern in "guter Stimmung" andeuten. Auch der Text liest sich bisweilen wie eine Zusammenstellung von Geschäftsberichten, die die weltweite Linde-Erfolgsgeschichte bis zur Gegenwart nachzeichnen.

Hier zeigen sich zum Teil Unterschiede zu den ersten Kapiteln des Buches, doch wird auch bereits in den technik- und wirtschaftshistorischen Kapiteln über die Linde-Gründerzeit deutlich, dass das ambitionierte Anliegen einer umfassenden, vergleichenden, theorieorientierten und methodisch avancierten Unternehmensgeschichte, die zugleich Jubiläumsschrift sein will, nicht konsequent umgesetzt wird. Dazu einige Beispiele: Die etwa im Klappentext hervorgehobene, im zweiten Kapitel dann wieder aufgeworfene Frage eines Zusammenhangs zwischen Lindes Arbeitshaltung und seiner protestantischen Prägung, für den hier im Sinne Max Webers ein klassisches Beispiel vorzuliegen scheint, wird auf wenigen Zeilen abgehandelt (41 f.). Dabei wäre diese in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung zunehmend strittige Frage nach einem Zusammenhang zwischen Protestantismus und Kapitalismus einer ausführlicheren theoretischen und empirischen Aufarbeitung wert gewesen. Der vergleichende Ansatz erschöpft sich in einigen wenigen Hinweisen auf Linde-Konkurrenten vor dem Ersten Weltkrieg. Das Konzept der Unternehmenskultur, welches ebenfalls laut Einleitung "im Vordergrund" der Studie stehen sollte und welches in der Wirtschaftsgeschichte der letzen Jahre zunehmend das Interesse auf sich zog, fristet im weiteren Verlauf der Linde-Geschichte ein ebenso marginales Dasein wie auch die in der Einleitung betonte "Neue Institutionenökonomik". Im Linde-Buch geht es mehr um Technik, Produktion, Investitionen und Wachstum denn um Institutionen und Transaktionskosten. Im Übrigen spielt die Geschichte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die für eine Unternehmensgeschichte wichtige Frage der industriellen Beziehungen im Vergleich zur ausführlichen Darstellung der Unternehmensleitung und deren Strategien ebenfalls nur eine untergeordnete Rolle.

Dies ist, zugegebenermaßen, selbst auf 500 Textseiten in Form einer "umfassenden Darstellung" auch kaum möglich, und theoretische Erörterungen sind in einer Jubiläumsschrift von Seiten der Auftraggeber möglicherweise auch nicht sehr gefragt. Dieser Eindruck entsteht jedenfalls auch im weiteren Verlauf der Darstellung, in der die Linde-Geschichte zwar in den jeweiligen wirtschaftshistorischen Kontext eingebettet wird, ohne jedoch die Linde-Spezifika im Vergleich zu anderen Unternehmen herauszuarbeiten und in aktuelle unternehmenshistorische Diskussionen einzuordnen. Auch dort, wo das Buch seine Stärken hat, wie etwa bei der Darstellung des Unternehmensumbaus in den 1970er-Jahren, den personellen Veränderungen und kontroversen Debatten eines Familienunternehmens, unterbleibt eine für eine theoriegeleitete Darstellung wünschenswerte Einordnung, in diesem Falle beispielsweise in organisationssoziologische beziehungsweise -theoretische Zusammenhänge.

So entwickelt sich Linde scheinbar wie fast jedes andere deutsche Großunternehmen auch: Es profitiert vom NS-Wirtschaftsaufschwung und Rüstungsboom, wobei sich die Familie Linde "dem NS-System insgesamt eher fern" (147) hält, im "großen Boom" der Bundesrepublik geht es bergauf, die 70er-Jahre bringen die Entspannungspolitik und gute Geschäfte mit Osteuropa sowie organisatorische Umstrukturierungen "vom techniker- zum manager-geleiteten Unternehmen" - aber vergleichende Aspekte spielen hier dann keine Rolle mehr. Und schließlich stellen auch die 1980er- und 1990er-Jahre "eine wirtschaftlich erfolgreiche Phase dar" (289), was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass "die Familienmitglieder bei zentralen Entscheidungen die Interessen des Unternehmens über ihre eigenen stellen" (364). So wird das Linde-Buch in den letzten Kapiteln vollends zur Erfolgsgeschichte klassischen Stils. Die Entwicklung einzelner Abteilungen und Sparten sowie das Auslandsgeschäft von Linde und sein Weg zum "global Player" wird detailliert nachgezeichnet. Dies alles ist, das sei noch einmal betont, kompetent und gut lesbar geschrieben, faktenreich und informativ. Aber die Darstellung bleibt, unterm Strich, ein Kompromiss zwischen klassischer Jubiläumsschrift und moderner wissenschaftlicher Unternehmensgeschichte - sie bietet deutlich mehr als Erstere, aber weniger als Letztere.

Christian Kleinschmidt