Christopher Browning: Die Entfesselung der "Endlösung". Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942. Mit einem Beitrag von Jürgen Matthäus, Berlin / München: Propyläen 2003, 832 S., ISBN 978-3-549-07187-8, EUR 35,00
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Seit mehreren Jahren arbeitet die israelische Gedenk- und Forschungsstätte zur Shoah, Yad Vashem in Jerusalem, an einer modernen, mehrere Bände umfassenden Comprehensive History of the Holocaust. Im Rahmen dieser Reihe ist nun die lang erwartete Studie von Christopher Browning unter Mitarbeit von Jürgen Matthäus zu den Origins of the Final Solution, wie der Originaltitel heißt, erschienen. Im Fokus des Bandes steht "nicht die Geschichte der Täter und Opfer in einer Darstellung" (10), sondern die Perspektive der Planer und Vollstrecker der "Endlösung".
Der Bogen der Darstellung spannt sich vom Überfall auf Polen im Herbst 1939 bis zum März 1942, wobei die beiden Autoren deutlich machen, dass es kein festes Datum für den Übergang von der Planung der Vernichtungspolitik zu ihrer Durchführung gibt. Browning und Matthäus haben sich dennoch für das Frühjahr 1942 als Zäsur und zugleich Abschluss ihres Bandes entschieden, weil zu jenem Zeitpunkt die Deutschen anfingen, die polnischen Ghettos aufzulösen und im ersten Vernichtungslager der "Aktion Reinhard" Belzec der Massenmord mit Gas begann, die ersten Transporte mit Juden aus Frankreich und der Slowakei zusammengestellt und die Deportationen aus dem Deutschen Reich wieder aufgenommen wurden sowie die zweite Mordwelle in den besetzten sowjetischen Gebieten einsetzte.
Für die Wahl dieses Datum sprechen ohne Zweifel gute Gründe und doch ist damit ein Problem markiert, und zwar nicht nur, weil sich auch andere Datierungen rechtfertigen ließen, sondern weil die festgelegte Trennlinie zwischen den Ursprüngen und der Durchführung bereits ein Konzept über die Entstehung und den Verlauf des Holocaust beziehungsweise der Shoah voraussetzt. Nur wenn man die nationalsozialistische Politik gegen die Juden als ein geschlossenes, planvolles Geschehen ansieht, dessen Akteure von Anfang an sowohl eine bestimmte Handlungsintention bis hin zur vollständigen Ermordung im Auge hatten, wird man den Plan von der Durchführung analytisch trennen können.
Anders als in seiner Studie zum Polizeibataillon 101, in der Browning in erster Linie den Gruppendruck und die situativen Momente untersuchte, eröffnet er nun im ersten Kapitel einen weiten Bogen antijüdischer Einstellungen in Europa seit der Antike. Der christliche Judenhass, der in Modernisierungskrisen gesellschaftlicher Entwicklung immer wieder zum Ausbruch gekommen sei, habe seit zwei Jahrtausenden die europäische Szenerie beherrscht. Die Frage, warum dann gerade in Deutschland eine "Endlösung der Judenfrage" nicht nur ersonnen, sondern verwirklicht worden ist, beantwortet Browning mit dem mittlerweile verblassten Konzept des deutschen Sonderwegs und macht damit mit diesem Kapitel, das keinen Vergleich mit Frankreich, Italien oder Polen unternimmt, zugleich deutlich, wie sehr es an komparativen Forschungen zum Antisemitismus in Europa des 19. und 20. Jahrhunderts mangelt. Für Browning stellt der Antisemitismus das zentrale Antriebsmoment für die "Endlösung" dar.
Zu Recht gibt das Buch der deutschen Besatzungspolitik in Polen im Herbst 1939 breiten Raum, denn dort wurden wesentliche Weichen für die Politik auch in den künftigen besetzten Gebieten gestellt. "Polen - Laboratorium der Rassenpolitik" ist dieses Kapitel treffend überschrieben. Die anschließende Phase der antijüdischen Politik von 1939 bis 1941 kennzeichnet Browning mit den Begriffen Vertreibung und Ghettoisierung. Beide Strategien waren eng miteinander verbunden, da die geplanten gigantischen Deportationen von Polen und Juden aus den annektierten westpolnischen Gebieten angesichts zahlreicher realer Probleme immer wieder reduziert oder aufgeschoben werden mussten. Als Ausweg aus der Improvisation blieb nur die Ghettoisierung der vertriebenen Juden, während die Polen zu einem großen Teil zur Zwangsarbeit im Deutschen Reich eingesetzt wurden. Im Unterschied zu Peter Longerich, der bereits zu diesem Zeitpunkt eine genozidale Intention der deutschen Politik ausmacht, betont Browning, dass, obgleich die mörderischen Konsequenzen der Deportationen deutlich seien, es sich dennoch noch nicht um die "Endlösung" gehandelt habe.
Mit Hitlers Entschluss im Sommer 1940, nicht England, sondern zuerst die Sowjetunion anzugreifen, erreichten auch die Vertreibungspläne eine neue Dimension. In der unbezweifelten Annahme eines raschen Sieges über die Rote Armee entwickelte die SS-Führung monströse Pläne zur Germanisierung der neu zu erobernden Gebiete und zur Deportation aller europäischen Juden in den Osten. Ungeachtet dieser Planungen standen die Besatzungsverwaltungen in Polen vor den selbst geschaffenen Problemen in den jüdischen Ghettos. Zwar galten sie den Deutschen nur als Zwischenlösung für eine zukünftige Weiterdeportation nach Osten, aber das löste nicht die Versorgungsprobleme der Gegenwart. Vor die Alternative gestellt, entweder die in den Ghettos zusammengepferchte jüdische Bevölkerung verhungern oder durch Zwangsarbeit selbst für die Versorgung aufkommen zu lassen, entschieden sich die Deutschen für die Zwangsarbeit. Damit jedoch war der Grundstein gelegt für die kurze Zeit später ins Werk gesetzte mörderische Selektion der Juden in "Arbeitsfähige", die noch ernährt, und "Nicht Arbeitsfähige", die getötet wurden.
In Deutschland war es neben der Politik der erzwungenen Auswanderung, Enteignung und Isolierung der zurückgebliebenen Juden in einem hohen Maß die erbbiologische Politik der Nationalsozialisten gegen Behinderte und Kranke, die auch die Verfolgung der Juden radikalisierte. Browning weist zu Recht darauf hin, dass noch in Hilbergs Standardwerk die Mordpolitik der Euthanasie kaum Erwähnung findet, obwohl der ideologische Zusammenhang einer umfassenden Rassenutopie wie der Transfer von Tätern und Tötungstechnologie evident ist, wie seither insbesondere Ernst Klee, Götz Aly und vor allem Henry Friedlander herausgearbeitet haben. Anders als Friedlander, der auch die Verfolgung der 'Zigeuner' als Teil der Genozidpolitik auffasst, hält Browning allerdings daran fest, dass - so mörderisch die Politik gegenüber den 'Zigeunern' gewesen ist - sie doch nicht als Genozid gekennzeichnet werden könne.
Die zentralen Kapitel behandeln erwartungsgemäß den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. In ihnen lässt sich der immense Fortschritt der Forschung in den letzten beiden Jahrzehnten ermessen. Es ist keine Rede mehr von dem "Führerbefehl", mit dem Hitler den Mord an allen Juden angeordnet habe. Statt eines starren Kontinuums der deutschen antisemitischen Politik stehen heute eher die Diskontinuität, die Radikalisierungssprünge im Mittelpunkt der Forschung. Nicht nur die SS- und Polizeieinheiten, auch die Wehrmacht und die zivile Besatzungsadministration sind als Teil der Vernichtungspolitik in den wissenschaftlichen Fokus gerückt. Der Massenmord an den sowjetischen Juden bildete demnach einen Teil des gigantischen Eroberungsplans von "Lebensraum im Osten", der nicht nur die Vorstellungen der NS-Führung beherrschte, sondern, wie Browning und Matthäus hervorheben, auch den gewöhnlichen Deutschen eine Art Goldrausch versprach.
Es bleibt die Auseinandersetzung um die bestimmenden Motive der deutschen Besatzungspolitik. Lagen sie in eher "rationalen", aber deshalb keineswegs weniger mörderischen Absichten, wie sie zum Beispiel Christian Gerlach vor allem in der Ernährungssicherung sieht, die bewusst den Hungertod an Millionen Menschen in die Planungen einbezog, oder in "ideologischen" wie Antibolschewismus und vor allem Antisemitismus begründet? "Das 'Unternehmen Barbarossa'", so resümieren Browning und Matthäus ihre Position, "war primär kein ökonomisches, sondern ein ideologisch motivierter Feldzug." (431) So hält Browning auch an seiner alten These fest, dass es die deutsche Siegeseuphorie war, die im Sommer/Herbst 1941 sowohl zur Entscheidung, noch vor Kriegsende auch die deutschen und österreichischen Juden zu deportieren, als auch zum Entschluss zur "Endlösung" führte, also nach den sowjetischen nun sämtliche europäischen Juden zu töten. Dass Browning an dieser Stelle seinen alten Blickwinkel, der stark auf den "Führer" und "die Entscheidung" gerichtet ist, trotz der neueren Forschungsergebnisse beibehält, ist nicht recht nachzuvollziehen. Nicht die Wiederauflage einer überkommenen Debatte hätte man hier erwartet, sondern deren umsichtige Revision.
Denn womöglich ist diese Kontroverse um "rationale" und "ideologische" Momente eine ähnlich irreführende wie seinerzeit die zwischen "Intentionalisten" und "Strukturalisten". Es kennzeichnet alle "rationalen" Begründungen der Täter, dass in der Praxis die Mordentscheidungen nicht Opfer allgemein, sondern in erster Linie jüdische Menschen trafen, ebenso wie antisemitische Argumentationen stets von sich behaupten, "rational" zu sein. Bevor also erneut die Gräben zwischen den wissenschaftlichen Kontrahenten aufgerissen werden, sollte gründlicher als bisher über Antisemitismus als Handlungskonzept nachgedacht werden. Denn gerade in der zweiten Jahreshälfte 1941 zeigt sich die Diversität der "Endlösung". Überall waren deutsche Entscheidungsträger, ob innerhalb der SS, der Wehrmacht oder der zivilen Verwaltung, mittlerweile bereit, als "Lösung" ihrer Probleme Mord nicht nur zu denken oder vorzuschlagen, sondern auch auszuführen. In einem ungemein dichten Kapitel mit dem Titel "Die Erfindung des Vernichtungslagers" schildert Browning, wie zahlreiche deutsche Stellen mit den Möglichkeiten, das "Judenproblem" durch Massenmord zu "lösen", experimentierten. Ob man vor Versorgungsschwierigkeiten oder Wohnraummangel stand, der Partisanengefahr oder den unbeabsichtigten Folgen der Siedlungspolitik begegnen musste, stets war die Ermordung der Juden die zentrale Handlungsoption.
Während Browning und Matthäus indes erneut die herausragende Bedeutung der Zentrale in Berlin, der Absprachen zwischen Hitler und Himmler, unterstreichen, werfen ihre Befunde im Grunde noch einmal die Frage nach dem Verhältnis von Zentrale und Peripherie, von Befehl von oben und Initiative von unten, von zentraler Planung und situativer Mordentscheidung auf. Vielleicht wird dieses Buch das letzte sein, das Hitlers Intention und die nationalsozialistische Herrschaftsstruktur zu verbinden sucht und die "Endlösung" als kohärentes, in sich auf schreckliche Weise sinnvolles Geschehen darstellt, in dem gewissermaßen jeder Faden kausal mit dem Ganzen verknüpft ist. Epistemologisch hängt ein solch zentrierter und zentrierender Blick mit der retrospektiven Konstituierung des Geschehens als Holocaust zusammen, der als ein Ganzes erscheint und als solcher erforscht werden soll. Nimmt man hingegen die empirischen Befunde des Buches, so lässt sich durchaus auch eine Dezentrierung der Perspektive rechtfertigen. Das hieße, auf der empirischen Ebene die Erwartungshorizonte, die Handlungsoptionen und -entscheidungen wie Interaktionen der Akteure vor Ort zu untersuchen und auf der theoretischen Ebene die Ex-Post-Perspektive, die im Rückblick Strukturen wie Dynamiken ordnet, zu reflektieren und stattdessen von der Offenheit der historischen Situation auszugehen. Wer diese Perspektive wählt, ist bereit, Diskontinuitäten, Aporien, ja auch Kontingenzen zu akzeptieren, und erklärt die Genozidpolitik des NS-Regimes nicht mehr aus sich selbst heraus, sondern stellt sie in einen Zusammenhang mit den Gewaltregimen des 20. Jahrhunderts. Das Buch von Christopher Browning und Jürgen Matthäus markiert daher auf eine souveräne Weise einen Abschluss in der Holocaust-Forschung und zugleich den Punkt eines Aufbruchs.
Michael Wildt