Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart: J.B. Metzler 2003, XIV + 583 S., ISBN 978-3-476-01705-5, EUR 49,95
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Walter Jaeschke, der Leiter des Bochumer Hegel-Archivs, ist unter den gegenwärtig führenden Fachwissenschaftlern derjenige, von dem man sich eine Gesamtdarstellung der Hegel'schen Philosophie wohl am meisten gewünscht hat. Seit Jahrzehnten treibt er als Editor, Kommentator und Interpret die Forschung voran. Die religionsphilosophische Konzeption ist durch seine Neuedition im Rahmen der "Ausgewählten Vorlesungsnachschriften und -manuskripte", einem Begleitprojekt der Gesammelten Werke, auf eine völlig neue Grundlage gestellt worden; mit seinem Buch "Die Vernunft in der Religion" von 1986 hat er ihr zudem eine vorzügliche Untersuchung gewidmet. Innerhalb der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegebenen Gesamtausgabe hat Jaeschke die "Logik" (zusammen mit Friedrich Hogemann) und die autografen Materialien zu den seit 1816 vorgetragenen Vorlesungen ediert. Das vierbändige Quellen- und Interpretationswerk "Philosophisch-literarische Streitsachen" (1990-1995), das gleichfalls von ihm konzipiert wurde, sowie zahlreiche kleinere Editionen aus der Rezeptionsgeschichte - etwa der sehr schöne Feuerbach-Band von 1996 in der "Philosophischen Bibliothek" - bereichern das Hegel-Verständnis um mindestens markante, wenn nicht entscheidende theoriegeschichtliche Aspekte.
Ein "Handbuch" nun hat andere Erwartungen zu erfüllen als ein übliches Lehrbuch oder gar eine Monografie. Man erwartet eine umfassende, geradezu lexikalische und möglichst die ganze Breite des Themas ausschreitende Erörterung, die nicht nur den Forschungsstand repräsentiert, sondern zugleich als Ansatzpunkt für weitere Studien dienen kann. Dies erfüllt Jaeschkes Buch in exzeptioneller Weise.
Die Lebensschilderung im ersten Teil ist detailliert und dennoch kompakt und knapp gehalten. Sie orientiert sich an Hegels eigenen Zeugnissen, weshalb es sich nicht um eine Biografie im engeren Sinne handelt. Jaeschke kann etliche Fehlinformationen der bisherigen Literatur richtig stellen, darunter manches Kuriosum; auch gibt er die an verschiedenen Stellen unzulängliche Überlieferung offen an, etwa im Falle der Tübinger Studentenjahre und hier vor allem der frühen Verbindung zu Schelling oder der zeitgenössischen Haltung Hegels zur Französischen Revolution. Als Produkt mythopoietischer Kraft erscheint dabei leider auch die Geschichte vom Tübinger Freiheitsbaum.
Im zweiten Teil, der 440 von insgesamt knapp 540 Textseiten einnimmt, steht Hegels "Werk" im Zentrum. Er ist seinerseits in zwei Sektionen untergliedert: Zunächst werden in chronologischer Anordnung sämtliche (!) Manuskripte und veröffentlichten Schriften behandelt, ausgehend von den religionsphilosophischen Aufzeichnungen im Umkreis der Kant'schen Theoriebildung bis hin zur Abhandlung "Über die englische Reformbill" vom Frühjahr 1831. Anschließend (319-500) gibt Jaeschke auf der Grundlage der Heidelberger und Berliner Vorlesungen eine überaus eingehende Darstellung des philosophischen Systems.
Thematisiert werden die Entstehungsumstände, die Textüberlieferung, der zeitgeschichtliche Kontext, die philosophische Problemstellung und der werkgeschichtliche Stellenwert der einzelnen Schriften. Neuere Forschungsbeiträge werden aufgegriffen und gegebenenfalls die Wirkungsgeschichte skizziert. In großer Klarheit lassen sich die Anfänge der Systembildung nachvollziehen, und sogar die in jeder Hinsicht komplizierte Situation der Jenenser Jahre erscheint hier einigermaßen durchsichtig. Als Meister seines Themas zeigt Jaeschke sich etwa auch bei der schwierigen werkgeschichtlichen Einordnung der "Phänomenologie des Geistes" sowie der systematischen Rekonstruktion des Gedankenganges. Besonders gelungen sind überdies die Ausführungen zu den Kontroversen, die sich im Einzelnen an Hegel'sche Publikationen angeknüpft haben, sodass schon an dieser Stelle nicht nur die enorme Wirkungskraft, sondern auch das theoretische Potenzial im Kontext der philosophischen Debatten deutlich wird. Die Literaturangaben am Ende der Kapitel geben jeweils die Erstdrucke, den Abdruck innerhalb der "Gesammelten Werke" und wichtige Sekundärliteratur an.
Die Darstellung erfasst die gesamte Breite des Werkes. Aus souveräner Kenntnis der Quellen und der Forschung heraus werden Hegels Argumentationsweise sowie die differenzierte, facettenreiche Entwicklungsgeschichte verlässlich nachgezeichnet. Der hohe Komplexitätsgrad der Hegel'schen Positionen wird nicht durch Banalisierungen unterlaufen oder die hochdifferenzierte Systematik eingeebnet. Gegeben wird nicht einfach ein Kommentar, sondern eine konzise, methodisch plausible und vergleichsweise leicht fassbare Rekonstruktion. Hierfür darf man angesichts der bekannten Schwierigkeiten bei der Hegel-Lektüre dankbar sein. Die Schilderung wächst aber auch sonst immer wieder über den eher prosaischen Gattungsrahmen von Handbuchliteratur hinaus. In strittigen Fragen der Forschung bezieht Jaeschke klar Stellung. So kann er etwa mit guten Gründen deutlich machen, inwiefern die Rechtsphilosophie - entgegen der immer wieder vorgetragenen Auffassung, sie sei sachlich vom System unabhängig - an die konzeptionellen Grundbestimmungen zurückgebunden ist.
Vielfach bewährt sich auch die kritische Infragestellung eingefahrener Sichtweisen. Bisweilen lässt Jaeschke den Leser dabei allerdings ratlos zurück. So bereichert er zum Beispiel die Diskussion der schwierigen Frage nach dem systematischen Status der so genannten "Schlüsse der Philosophie", die Hegel am Ende der ersten und der dritten "Enzyklopädie" exponiert und die zu den undurchsichtigsten Passagen seines Werkes überhaupt gehören, durch einen eigenen Interpretationsansatz (271 f.). Demzufolge sei Hegel hier, im Kulminationspunkt seiner Philosophie des Geistes, indem er den endlichen Geist allein als subjektiven, nicht aber auch als objektiven thematisiert, auf seine Jenenser Phase und damit zugleich auf die seinerzeitige Gegenüberstellung zur Schelling'schen Konzeption zurückgegangen. Weshalb er aber so eine schwere Inkompatibilität zur eigenen Theorieentwicklung in Kauf nahm und sogar 1830 noch einmal erneuerte, bleibt offen. Hier hätte man sich gewünscht, dass Jaeschke in eine Diskussion alternativer Deutungen eingetreten wäre, anstatt es bei der Aporie zu belassen.
Hervorragend ist auch der dritte, wirkungsgeschichtliche Teil, und zwar trotz der Beschränkung auf die Hegel-Schule im engeren Sinne. Dies ist insofern gerechtfertigt, als die unter den Kontrahenten geführten Debatten um die Religion, um Recht und Staat sowie um die Metaphysik noch selbst erheblichen Einfluss auf die Überlieferungsgestalt der Hegel'schen Philosophie genommen haben. Gezeigt wird außerdem, wie sehr sich diese Konfrontation jenseits der schulimmanenten Zusammenhänge als Folge der repressiven Gesamtsituation in der Vormärzzeit auffassen lässt. Das Buch schließt mit einer Zeittafel, thematisch angeordneten Literaturhinweisen sowie Werk-, Personen- und sehr umfangreichem Sachregister.
Jaeschke hat der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Hegels Philosophie einen großen Dienst erwiesen. Die Entscheidung des Verlages, die Aufgabe einem einzelnen Autor zu übertragen - die in anderen Fällen nur bedingt zu guten Ergebnissen geführt hat -, bewährt sich hier glänzend. Die Darstellung erwächst aus einer in sich konsequenten Materialgliederung und vereint alle Vorteile, die Werke aus der Feder eines Verfassers den heute so überhand nehmenden Sammelwerken voraus haben. Auch ist Jaeschke, bei aller Sympathie und mancher apologetischen Wendung, von einer Heroisierung Hegels weit entfernt. Stattdessen bringt er in der lebendigen Offenlegung der systematischen Strukturen und zeitgeschichtlichen Hintergründe ein erstaunliches Maß an Gegenwart in seinen Gegenstand hinein, auch wenn sein Zugangsweg vielfach die Auflösung vertrauter Perspektiven mit sich bringt. Nicht zuletzt deshalb wird sich das Buch im universitären Betrieb, aber auch in der Forschung als erstrangige Adresse des Hegel-Studiums etablieren.
Matthias Wolfes