Rezension über:

Friedhelm Jürgensmeier (Hg.): Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte. Band 3: Neuzeit und Moderne (= Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte; Bd. 6), Würzburg: Echter Verlag 2002, 2 Bde., 1792 S., ISBN 978-3-429-02425-3, EUR 128,00
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Rezension von:
Ulrich Helbach
Historisches Archiv des Erzbistums Köln
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Helbach: Rezension von: Friedhelm Jürgensmeier (Hg.): Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte. Band 3: Neuzeit und Moderne, Würzburg: Echter Verlag 2002, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 1 [15.01.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/01/5374.html


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Friedhelm Jürgensmeier (Hg.): Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte

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Mit Band 3 des Handbuchs der Mainzer Kirchengeschichte konnte der Herausgeber, Friedhelm Jürgensmeier, der 1988/1989 schon eine einbändige Bistumsgeschichte vorgelegt hatte, nun ein umfangreiches Werk von über 3.600 Seiten abschließen. Anzuzeigen ist hier der Band, der zeitlich vom Vorabend der Reformation, 1484, bis in die unmittelbare Vergangenheit, 2000, reicht.

Der äußerlichen Gliederung in zwei Halbbände entspricht auch eine innere Aufteilung in zwei Zeitabschnitte, die Frühe Neuzeit bis 1792/1797 und das 19./20. Jahrhundert. Für jeden dieser Abschnitte wird zunächst die allgemeine Entwicklung nachgezeichnet. Rolf Decot beschreibt das Zeitalter von Reichsreform und Reformation über die Konfessionalisierung bis zum Westfälischen Frieden (21-232), Friedhelm Jürgensmeier die Zeit von 1648 bis zum Ende von Erzstift und Erzbistum 1797/1801 (233-469). In der Fortsetzung handelt Karl Josef Rivinius über die Jahre bis zum Kulturkampf mit dem Wirken des weithin bekannten Bischofs Ketteler (907-1141), Hermann-Josef Braun über die Folgezeit bis zum Zweiten Weltkrieg (1142-1260) sowie Michael Figura über die Nachkriegsjahrzehnte (1261-1312).

Beide Teilbände enthalten vergleichbare Querschnittsthemen zu Orden, zur Theologie, zu Schule und Universität, zu Liturgie, Kult und Frömmigkeit sowie zur kirchlichen Kunst und Musik. Singulär für das 19./20. Jahrhundert handelt zudem ein Aufsatz über die kirchlichen Amtsstrukturen. Die weitaus umfangreichsten Beiträge stammen von Wolfgang Seibrich über das monastische Leben des 15./18. Jahrhunderts (470-615) und Anna Egler zu Gottesdienst, Sakramenten, Gebet und Prozessionen, zu Heiligen- und Reliquienverehrung, zu Wallfahrten, zu Konfraternitäten und Bruderschaften sowie zum religiösen Brauchtum, und zwar für die Zeit sowohl von 1500 bis 1800 (773-860) als auch von 1800 bis 2000 (1462-1532). Andere Beiträge sind zum Teil viel kürzer und ebenfalls wertvoll, zum Beispiel von Franz Körndle und Werner Pelz (882-895 beziehungsweise 1552-1568) oder - eindrucksvoll - Horst Reber über die kirchliche Kunst (861-881, 1533-1551).

Der weit über Mainz hinaus reichende Wert der fundierten Abhandlungen zur Frühen Neuzeit - von Erzbischof Berthold von Henneberg (1484-1504) bis zum Ende von Kurstaat und Erzbistum 1797 beziehungsweise 1801 - ergibt sich in mehrfacher Hinsicht: Die Stellung des Mainzer Erzbischofs als Erzkanzler des Reiches bedingt über die territoriale Entwicklung hinweg immer wieder eine Fokussierung der Reichsgeschichte. Die weitläufige Erstreckung des verstreut liegenden Mainzer Kurstaats vom Mittelrhein (Oberlahnstein) über Rheinhessen (Bingen, Rüdesheim, Mainz) in die Wetterau, an den unteren Main (Aschaffenburg), nach Thüringen (Erfurt) und ins Eichsfeld (Heiligenstadt, Duderstadt) tangiert unterschiedliche deutsche Landschaften. Kirchlich reichte der geschlossene und weit großflächigere Sprengel sogar von Nahe und Hunsrück bis zum Harz und an die Saale.

Nach der Franzosenzeit und dem Verlust der staatlichen Herrschaft der Erzbischöfe hingegen beschränkt sich die Bistumsgeschichte nur mehr auf die Kirchengeschichte des neuen Bistums Mainz, das seit 1821 mit dem Gebiet des Großherzogtums Hessen-Darmstadt beziehungsweise des Volksstaates Hessen identisch war. Es umfasst Rheinhessen, Südhessen, die Wetterau und das Vogelsberggebiet, jedoch nicht die Stadt Frankfurt. Daher nehmen vor allem im allgemeinen Teil bis 1945 neben den innerkirchlichen Aspekten die oft schwierigen Beziehungen zwischen Kirche und hessischem Staat einen breiten Raum ein.

Es versteht sich, dass hier nicht auf 24 Beiträge adäquat eingegangen werden kann. Stattdessen sei eher auf einige grundsätzliche und methodologische Beobachtungen zum Teilband 2 hingewiesen: Für die im Untertitel mit "Moderne" angesprochene Phase darf heute angesichts veränderter allgemeiner Forschungslage und gestützt auf ein seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil gewandeltes Kirchenbild eine Berücksichtigung neuerer Fragestellungen der Mentalitäts-, Alltags- und Sozialgeschichte erwartet werden, denen sich die Kirchengeschichte zunehmend zu stellen hat. Die tief greifenden Wandlungen des sozialen und gesellschaftlichen Fundaments der Kirche - parallel zur Entstehung säkularer und rationalistischer Weltsichten als Folge der Aufklärung - sind evident. Ihre Langzeitentwicklung ist ein Teil des Verständnisses der neueren Kirchengeschichte. Als Themenbereiche exemplarisch zu nennen sind zum Beispiel der Aufschwung des katholischen Vereinswesens, die politische Betätigung der Katholiken, die verschiedenen Laienaktivitäten des 20. Jahrhunderts, die soziografischen und mentalitätsmäßigen Veränderungen im Kirchenvolk. Eine moderne Bistumsgeschichte sollte heute mithin über die Ereignisse und Strukturen der verfassten Kirche hinausweisend sozusagen auf mehreren Ebenen handeln, ohne dabei die Sicht der Bischöfe beziehungsweise Bistumsleitung in ihrem inneren Gewicht grundsätzlich abzuwerten. [1]

Freilich werden derart differenzierte Erwartungen bei der ansonsten durchaus sehr ertragreichen Lektüre eher enttäuscht. Die allgemeine Darstellung orientiert sich für das 19. Jahrhundert bis zu Ketteler in traditioneller Weise an den Amtszeiten der Bischöfe, sodass Themen wie "kirchlich-religiöses Leben und sozial-karitatives Wirken" dort nicht zusammenhängend sowie weitgehend aus der Sicht der Bistumsleitung vorkommen. Das gilt mit Einschränkungen - trotz anders gearteter Binnengliederung - vielfach auch für die Jahre seit 1886. Es dominiert vor allem das institutionelle Amtshandeln, die Person der Bischöfe sowie die Kirchenpolitik. Die oben angerissenen Aspekte sind nur ansatzweise inhaltlich akzentuiert beziehungsweise methodisch adäquat einbezogen. Während Hermann-Josef Brauns dichter Beitrag zum Beispiel die Jugendarbeit und Jugendbewegung in der NS-Zeit noch stark fokussiert, fehlt dieses Thema im Folgebeitrag für die Zeit nach 1945 fast völlig, ebenso der Aufbau der Laienorganisation in den Bistümern und der politische Katholizismus.

Der zweite Teil von Band 3/2 bietet wie erwähnt im Längsschnitt einzelne Aspekte über den - so der Herausgeber in Vorwort (17) - "mehr innerkirchlichen Bereich" mit für sich gesehen jeweils fundierten und auch neuen Erkenntnissen zur Bistumsgeschichte. Das Kirchenvolk ist Gegenstand des wichtigen Beitrags von Anna Egler (1462-1532) und wird dort primär unter dem Aspekt der Frömmigkeit behandelt, und zwar der Genese der kanonischen Vorschriften wie des Vollzugs und seinen Ausdrucksformen. Abgesehen von diesem wichtigen Aspekt werden in dem Handbuch die längerfristigen Entwicklungen der Alltags- und Lebenswelten der Gläubigen zwischen verfasster Kirche und Gesellschaft vor allem im 20. Jahrhundert aber kaum behandelt. Üblicherweise nutzt die Forschung auch soziografische Statistikzahlen als Indikator. Sie werden hier nur von Egler (1466 mit Anmerkung 11), und zwar bezüglich des Gottesdienstes sehr punktuell verwertet, wobei aber die Zahlen aus dem "Kirchlichen Handbuch" unvollständig herangezogen sind: Kirchenbesucherzahlen zum Bistum Mainz sind entgegen der Aussage der Bearbeiterin nicht erst ab 1933, sondern mindestens bereits ab 1925 verfügbar (Handbuch, Bände 16, 167; 17, 362; 18, 288; 19, 298; 20, 250); seinerzeit noch nicht für die Bearbeiterin greifbar waren die Akten der Amtlichen Zentralstelle für kirchliche Statistik (nun im Historischen Archiv des Erzbistums Köln) mit "Zählbögen C" für 1941-1943, 1950 ff.

Die vorgetragene Kritik zum Teilband 3/2 ist ausdrücklich nicht primär den Autoren anzulasten, sondern eher der Konzeption, der sie zu folgen haben. Sie schmälert keinesfalls den grundlegenden Wert des eindrucksvollen, auf lange Zeit grundlegenden Opus, das sich im Aufbau an bewährten Vorbildern anderer Bistümer orientiert hat. Es bleibt aber der Eindruck, als sei hier für die "Moderne", vor allem das 20. Jahrhundert, eine Chance vertan worden, neue Blickrichtungen schon jetzt mit einzubeziehen.

Dass ein bis fast in die Gegenwart reichender Band die unmittelbare Vergangenheit nicht mit der selben historisch-kritischen Methodik anfassen kann wie die älteren Zeiten, ist evident. Doch hier bildet das Jahr 1945 einen auffallenden Schnittpunkt. Im Gegensatz zu dem quellennahen Beitrag von Braun, wird die allgemeine Darstellung von Figura (1261 ff.) für die Zeit ab 1945, wie oben angedeutet, stark auf den Diözesanbischof Stohr (gestorben 1961) fokussiert. Dabei zeigt sich, dass die Forschung hier noch erheblichen Nachholbedarf zu haben scheint. Neben den markanten Wirkbereichen Liturgische Bewegung und Ökumene vermisst man zum Beispiel Stohrs engagierten Einsatz - er war unter anderem Jugendreferent der Fuldaer Bischofskonferenz - für den Aufbau der katholischen Jugend seit 1945 oder seinen (vergeblichen) Kampf hinter den Kulissen um kirchliche Einflussnahme auf die junge CDU 1946. Dass die Zeit seit dem Konzil (1276-1312) sich der kritischen Aufarbeitung noch ein erhebliches Stück weit entzieht, ist dagegen zu akzeptieren.

Etwas unpraktisch, weil "zitierfeindlich", ist die Aufrasterung des Bandes 3 in 50 Paragrafen, die auch einzelne Beiträge durchschneiden. Sehr positiv sei nicht zuletzt das höchst eindrucksvolle Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur - 134 Seiten mit an die 3.000 Titeln - hervorgehoben. Durch die Zusammenziehung der Literatur auf den Seiten 1570 ff. wird der Text entlastet und das Buch insgesamt sehr gut lesbar.

In dem vorliegenden Kompendium zu 2000 Jahren und konkret im hier angezeigten 3. Band über 500 Jahre Bistumsgeschichte besitzt nun auch Mainz - trotz vorgebrachter Kritik bezüglich der Moderne - ein umfassendes wissenschaftliches Handbuch der Kirchengeschichte auf sehr beachtlichem Niveau, das nicht zuletzt den überregional vergleichenden Forschungen unterschiedlichster Art auf lange Zeit hin unentbehrlich sein wird.


Anmerkung:

[1] Vgl. dazu auch den Beitrag von Christoph Kösters: Kirchengeschichte im Wandel? Kritische Anmerkungen zur neueren Erforschung von Bistumsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Historisches Jahrbuch 123 (2003), 373-388.

Ulrich Helbach