André Holenstein: "Gute Policey" und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach) (= Frühneuzeit-Forschungen; Bd. 9), Epfendorf: bibliotheca academica 2003, 2 Bde., 938 S., 2 Karten, ISBN 978-3-928471-32-9, EUR 64,00
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Kaspar von Greyerz / André Holenstein / Andreas Würgler (Hgg.): Soldgeschäfte, Klientelismus, Korruption in der Frühen Neuzeit. Zum Soldunternehmertum der Familie Zurlauben im schweizerischen und europäischen Kontext, Göttingen: V&R unipress 2018
Wim Blockmans / André Holenstein / Jon Mathieu (eds.): Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300-1900, Aldershot: Ashgate 2009
Bei der hier vorzustellenden Publikation aus der Feder André Holensteins handelt es sich um die Berner Habilitationsschrift des Autors von 2000/2001. Das grundlegende Anliegen der Arbeit besteht in der Untersuchung des Zusammenhangs von "guter Policey" und lokaler Gesellschaft im Ancien Régime. Holenstein geht dabei von der Hypothese aus, dass Gesetzgebung und Verwaltung der absolutistisch geprägten Territorialstaaten des Reiches in der Frühen Neuzeit unter dem Vorzeichen "guter Policey" in zweifacher Weise lokale Bezüge aufwiesen: Erstens bildete die lokale Gesellschaft mit ihren konkreten Verhältnissen den empirischen Ausgangspunkt gesetzgeberischer Aktivitäten der jeweiligen Obrigkeit, und zweitens war die lokale Gesellschaft zugleich der entscheidende Bezugspunkt für den praktischen Vollzug jedweder Ordnung.
Insbesondere wird der Frage nachgegangen, welche tatsächlichen Ergebnisse die von der Obrigkeit intendierten Steuerungs- und Regulierungsabsichten bewirkten. Dabei wird das Problem bewusst nicht auf die zunächst nahe liegenden Antipoden Erfolg oder Misserfolg reduziert. Anknüpfend an Achim Landwehr untersucht Holenstein vielmehr das Verhältnis von normativem Anspruch und realer Praxis der Policeygesetzgebung als "Bestandteile eines zirkulären Prozesses" des Umgangs sozialer Gruppierungen mit normativen Vorgaben der Obrigkeit. In diesem Zusammenhang fragt Holenstein schließlich auch nach den realen Berührungspunkten "der Wirkungsgeschichte von Policey" mit der Verwaltungsgeschichte auf der lokalen, kommunalen Ebene.
Hauptanliegen und Kern des quellengestützten Teils der Arbeit ist die Untersuchung der lokalen Frevelgerichte in der Markgrafschaft Baden(-Durlach) im 18. Jahrhundert. Bei diesen Frevelgerichten handelt es sich um regionale Formen der nahezu in allen Territorien des Alten Reiches unter den unterschiedlichsten Bezeichnungen anzutreffenden lokalen Herren-, Jahr-, Land-, Frevel-, Vogtei- oder Rügegerichte.
Die Arbeit beginnt mit einer recht breit angelegten Einleitung. Hilfreich sind insbesondere die Informationen zur zeitgenössischen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verfassung des Untersuchungsgebietes (115-140) als reale Rahmenbedingungen für die praktische Tätigkeit der Frevelgerichte.
Bei der konzeptionellen Umsetzung seines Vorhabens gliedert Holenstein seine Studie in, wie er selbst angibt, "drei Großkapitel" (112). Diese Ankündigung des Autors ist insoweit missverständlich, als sie im Widerspruch zur Kapiteleinteilung der Arbeit steht. In der Sache handelt es sich gleichwohl um drei inhaltlich wie methodisch zu unterscheidende Perspektiven ("Bewegungen", wie sie Holenstein nennt) auf das Thema der Studie. Allerdings ist der dritte inhaltlich abgrenzbare Bereich gliederungsmäßig in zwei Kapiteln untergebracht, deren erstes überdies nicht, wie Holenstein angibt (114), am Beginn des zweiten, sondern vielmehr am Schluss des ersten Bandes zu finden ist.
Im Einzelnen geht es um folgende Problemfelder: Erstens werden im zweiten Kapitel (141-242) "Die Strukturen der Baden(-Durlachischen) Gesetzgebung (1648) 1690-1803" anhand des für diesen Bereich bereits vorliegenden "Repertoriums der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit" analysiert. Dieser methodische Ansatz beruht auf der wohlbegründeten Überlegung, dass Intensität und sachliche Schwerpunktsetzung der Policeygesetzgebung weithin nur die obrigkeitliche Wahrnehmung gesellschaftlicher Entwicklungen und Problemfelder reflektiert.
Zum Zweiten erfolgt im dritten Kapitel (243-402: Information und Inspektion als Voraussetzungen "guter Policey") unter zwei Gesichtspunkten eine systematische Auswertung der Gesetzessammlungen des 18. Jahrhunderts und der einschlägigen Verwaltungsakten. Dabei geht es zum einen um die Gewinnung von Informationen seitens der Obrigkeit und deren Verarbeitung in der legislatorischen Praxis und zum anderen um Kontroll- und Überwachungsmethoden (Inspektion und Visitation) hinsichtlich des Vollzuges policeyrechtlicher Ordnungen.
Drittens schließlich rückt Holenstein in zwei Kapiteln die lokale Ebene in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Dies erfolgt mittels einer präzisen systematischen Rekonstruktion von Funktion und Arbeitsweise der badischen Frevelgerichte. Holenstein sieht in ihnen ein wichtiges, wenn nicht das entscheidende Instrument bei der Vermittlung der obrigkeitlichen Ordnungsvorschriften "guter Policey" an die lokale Gesellschaft und deren Umsetzung. Diese Analyse der Frevelgerichte erfolgt aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln.
Zunächst wird im vierten Kapitel (403-533: Zwischen den Ordnungen im Dorf und der Ordnung der "guten Policey") deren institutionelle Seite untersucht. Im Mittelpunkt steht dabei insbesondere der sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts vollziehende inhaltliche Wandel dieser Einrichtung. Vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher Territorialstaatlichkeit verknüpft Holenstein dabei die Auswertung einschlägiger Verwaltungsakten mit den Aussagen des zeitgenössischen Schrifttums zur Rügegerichtsbarkeit.
Daran schließt sich in einem fünften Kapitel (545-825: "Gute Policey" als lokale Praxis. Lokale Problemfelder und ihre Behandlung durch die badischen Frevelgerichte) eine breite systematische Analyse der überlieferten Frevelgerichtsprotokolle aus den beiden größten Oberämtern der Markgrafschaft Baden(-Durlach) - Hochberg und Rötteln - an. In diesem umfangreichen Abschnitt werden insbesondere die sachlichen Schwerpunkte in der Tätigkeit dieser Gerichte und damit die zeitgenössischen Problemfelder policeyrechtlicher Normsetzung auf lokaler Ebene thematisiert. Im Einzelnen geht es dabei um Fragestellungen wie etwa: mangelnde Verfügbarkeit von Gesinde, wirtschaftliche Aufgaben im Zusammenhang mit Agrarreformen, lokale Armenfürsorge, Ordnung und Sicherheit in den Dörfern sowie Mechanismen der Konfliktlösung und Angelegenheiten der Gemeindefinanzen.
Das abschließende sechste Kapitel (827-852: "Gute Policey" und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime) fasst zunächst die unmittelbaren Ergebnisse der Studie zusammen (827-832). Holenstein stellt seine Ergebnisse aber auch in einen allgemeineren, letztlich mit Blick auf die Geschichte der Frühen Neuzeit universell gedachten Kontext. In enger Verzahnung mit zeitgenössischen Aussagen und modernem Schrifttum zum Konzept des frühneuzeitlichen Territorialstaates von "guter Policey" wird der regionale Befund für die Markgrafschaft Baden(-Durlach) auf paradigmatische Weise, aber gleichwohl in seinen Grundzügen auch in einem allgemein gültigen Sinn für die Forschung fruchtbar gemacht. Dabei wird zum einen die bekannte These von der Ambivalenz des Konzepts von der "guten Policey" bestätigt (832-836), zum anderen geht es um dessen tatsächliche Relevanz, insbesondere unter dem Aspekt seines Bezuges zur lokalen Gesellschaft (836-848) und davon ausgehend seiner konkreten funktionalen Ausprägung (848-852).
Für den an Einzelheiten der Frevelgerichtsbarkeit interessierten Leser stellt Holenstein einen umfassenden Anhang zur Tätigkeit der Vogt-, Rüge- beziehungsweise Frevelgerichte der Markgrafschaft Baden(-Durlach) im 17./18. Jahrhundert zur Verfügung (853-883). Ferner ergänzen zahlreiche in den Text integrierte Tabellen und Grafiken auf höchst instruktive Weise die Darstellung.
Die hier vorgestellte zweibändige Untersuchung von André Holenstein geht nicht nur vom Umfang, sondern auch inhaltlich weit über eine Fallstudie herkömmlicher Art hinaus. Sie reflektiert den aktuellen Forschungsstand zum Thema nicht nur deskriptiv, vielmehr geht es dem Verfasser durchgehend um eine auch kritische Auseinandersetzung mit dem Schrifttum und vor allem um eine Verknüpfung mit den eigenen, aus den lokalen Quellen der Markgrafschaft Baden(-Durlach) gewonnenen Erkenntnissen. Das wiederum führt einerseits zu neuen Einsichten in die Lebenswirklichkeit der lokalen Gesellschaft überhaupt und belegt andererseits die Stichhaltigkeit der These von der grundsätzlichen Bedeutung des Konzepts "guter Policey" für die Etablierung (früh-)moderner Territorialstaatlichkeit.
Der an einer knappen und auf das Wesentliche konzentrierten Darstellung interessierte Leser wird möglicherweise seine Schwierigkeiten mit der Arbeit André Holensteins haben; auch sprachlich handelt es sich nicht immer um eine "leicht verdauliche Kost".
Bernd Schildt