Klas-Göran Karlsson / Ulf Zander (eds.): Echoes of the Holocaust. Historical Cultures in Contemporary Europe, Lund: Nordic Academic Press 2003, 295 S., ISBN 978-91-89116-52-8, EUR 60,12
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der Band versammelt erste Ergebnisse eines ehrgeizigen schwedischen Forschungsprojekts über den "Holocaust in der europäischen Geschichtskultur", die zum Teil bereits 2002/03 in Zeitschriften auf schwedisch erschienen sind. Die theoretische Grundlage bildet eine Typologie des Gebrauchs von Geschichte, die der Mitherausgeber Klas-Göran Karlsson im ersten Beitrag skizziert. Demnach geht es hier um den Umgang mit Geschichte, wie er anhand ihrer Interpretation, Repräsentation und ihres aktuellen Gebrauchs deutlich wird, das heißt um eine "kulturelle Wirkungsgeschichte" (12). Nach Karlssons Definition ist das Geschichtsbewusstsein eines Kollektivs die Grundlage seiner Geschichtskultur; Erinnerung gehöre dagegen eher der "politischen Sphäre" (46 f.) an und stehe dem Mythos näher. Ziel des Projekts ist es, die Position des Holocaust in den jeweiligen nationalen Geschichtskulturen Europas zu bestimmen, und das heißt unter anderem darzulegen, wie er in das an die Nation gebundene Narrativ eingefügt wurde. Die verspätete, nun aber nicht abreißen wollende intensive Befassung mit dem Thema sieht Karlsson zum Teil in der Notwendigkeit begründet, das kulturelle Trauma zu überwinden, in das der Mord an den Juden Europa als ein dem Selbstverständnis nach "Hort höherer Werte" (26) gestürzt hat. Diese Verunsicherung ist wohl eine Ursache dafür, weshalb der Anstoß von den USA und deren vorherrschendem Holocaust-Diskurs ausging.
Der den Analysekriterien gewidmeten Einführung folgen je ein Beitrag über die Etablierung des Holocaust-Gedenktages in Israel von Mikael Tossavainen und über die "Präsenz des Holocaust" und Formen der Vergangenheitsbewältigung(en) in den drei Nachfolgestaaten des 'Dritten Reiches' von Pär Frohnert. Erstaunlich ist hier weniger, dass nach 1945 auch die Deutschen ihre Wunden leckten: Das eigentlich Interessante des Opferdiskurses sind vielmehr seine Wurzeln in der rechten und der NS-Propaganda der 1920er-Jahre. Nun gesellte sich zu dem wehleidigen Versailles-Komplex der alliierte Luftkrieg als ein neues Element zum Beleg eines vermeintlichen Barbarentums der Kriegsgegner Deutschlands. Wie aus Opferbewusstsein Aggression und exzessive Gewaltbereitschaft entstehen, könnte für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts freilich nicht nur mit Blick auf die deutsche, sondern auch auf die polnische Geschichte gezeigt werden. Für eine vergleichende Betrachtung böte sich zudem die Entwicklung des Opferdiskurses in Israel an.
Den geografischen Schwerpunkt des Bandes bilden Länder Ostmittel- und Osteuropas. In einem postmodernen Ansatz befasst sich Kristian Gerner, ausgehend von der Rauminstallation einer schwedischen Künstlerin über das Schicksal Küstrins, mit der Geschichtskultur in einem historischen Grenzraum, der von Preußen, Deutschen, Juden und Polen nachhaltig geprägt wurde. Gerner ist darum bemüht, den NS-Judenmord in enge Beziehung zu setzen zu den Verbrechen an der polnischen Bevölkerung unter der NS-Besatzung sowie zur Fluchtbewegung von Deutschen aus dem Osten und den Vertreibungsverbrechen an der deutschen Bevölkerung gegen und nach Kriegsende. Ein schönes Beispiel für vielschichtige Bedeutungsebenen erkennt der Verfasser im vor wenigen Jahren quasi "ergänzten" Warschauer Ghetto-Mahnmal, in dessen Sichtweite ein Denkmal zur Erinnerung an Willy Brandts Kniefall von 1970 aufgestellt wurde. Diese Konstellation trägt die Hoffnung in sich, vermittels gemeinsamen Gedenkens an die NS-Verbrechen zu nationaler Versöhnung zu gelangen. Indes muten Gerners etwas schönfärberische Äußerungen über eine angebliche deutsch-polnische Einträchtigkeit beim Blick auf die gemeinsame Zeitgeschichte mittlerweile überholt an. Problematisch sind auch seine allzu pauschalen Aussagen über das angebliche Fehlen einer zweiwertigen Identität, die deutsche und polnische (siehe Oberschlesien) oder polnische und jüdische Merkmale und Traditionen (siehe die Assimilierungsbewegung in der Zwischenkriegszeit) verband.
Barbara Törnquist-Plewa gibt einen Überblick zu den polnischen Pressereaktionen (andere 'modernere' Medien werden nicht berücksichtigt) auf das Buch von Jan Gross über den Judenpogrom in Jedwabne. Sie werden unterteilt in solche, die wissenschaftlichen, moralischen, existenziellen, politischen und ideologischen Gebrauch von (dieser) Geschichte machen. Tonangebend waren in der Jedwabne-Debatte die demokratischen und liberalen Blätter, wobei die Verfasserin auch Positionen der weiterhin in antijüdischen Phantasmen gefangenen rechten Szene referiert, ohne sie stets als wirre Verschwörungstheorien zu entlarven (166). Auch kann es heute kaum um eine "Rehabilitierung" der Jedwabne-Opfer gehen, sondern nur darum, des Leidens dieser im Juli 1941 wahllos hingemordeten Menschen zu gedenken. Insgesamt ist der Verfasserin Recht zu geben, wenn sie die Diskussion in den Kontext eines gesellschaftlichen Reifungsprozesses stellt, der mit dem Abschied von lieb gewordenen Mythen und einem unbefangeneren, kritischen Blick auf die Nationalgeschichte verbunden ist. Vorerst muss offen bleiben, ob die Debatte einen nachhaltigen Wandel in der polnischen Geschichtskultur und Kollektiverinnerung in Gang gesetzt hat.
Tomas Sniegon geht in seinem Kapitel auf die Stellung des Holocaust in beiden Landesteilen der Tschechoslowakei zwischen 1990 und 1992 ein. Während sie im tschechischen Identitätsdiskurs - ähnlich wie seinerzeit in Westeuropa - kaum eine Rolle spielte, war die Ausweisung und Deportation von 70.000 jüdischen Landsleuten aus der (faschistischen) Slowakei ein Faktum, das dem Streben rechter Nationalisten nach einer positiven Neubewertung des ersten slowakischen Staates zuwiderlief.
In weiteren Beiträgen skizziert Karlsson antisemitische Erscheinungen und die Ignorierung des Judenmordes in der sowjetischen und russischen Geschichtskultur, während Johan Öhman sich dem Bild vom großen Hungerelend in der Sowjetukraine 1932/33 zuwendet und Ulf Zander sich mit dem Widerhall auf Holocaust-Repräsentationen im Fernsehen auseinander setzt. Wenig gelungen erscheint die Einbindung der in den Text eingestreuten Fotos. Sie wirken teils allzu beliebig oder gar - entgegen der Textaussage - idyllisch (16).
Nach einigen fragwürdigen und eher künstlich konstruierten Ansätzen in den 1980er- und 1990er-Jahren, den Widerstand gegen Nationalsozialismus und nazideutsche Besatzungsregime als 'positiven' Ausgangspunkt (oder Gründungsmythos) einer europäischen Geschichtskultur zu verankern, verdient der anregende Versuch Aufmerksamkeit, einen solchen gemeinsamen Bezugspunkt gerade in jenem 'negativen' gemeineuropäischen Erbe des NS-Judenmordes zu finden. Der Anfang ist vielversprechend, doch werden erst die Erträge weiterer Bände zeigen, inwieweit diese mehr oder minder theoriegebundene Herangehensweise für eine Problematisierung und überzeugende Vergegenwärtigung geschichtskultureller und erinnerungspolitischer Bedingtheiten fruchtbar genutzt werden kann.
Klaus-Peter Friedrich