Arnold Angenendt: Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter (= Enzyklopädie deutscher Geschichte; Bd. 68), München: Oldenbourg 2003, X + 158 S., ISBN 978-3-486-55703-9, EUR 19,80
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Martina Giese (Hg.): Die Annales Quedlinburgenses, Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2004
Hagen Keller: Ottonische Königsherrschaft. Organisation und Legitimation königlicher Macht, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002
Johannes Fried: Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin: Akademie Verlag 2012
Der bescheidene Titel des neuen Bandes aus der kompakten Studienbuch-Reihe "Enzyklopädie deutscher Geschichte" verbirgt einen hohen Anspruch: Mit dem Begriff "Frömmigkeit" ist offensichtlich nicht nur ein begrenzter Bereich religiöser Verhaltensweisen gemeint, sondern das Phänomen der Religiosität im Ganzen, das nicht nur praktische Vollzüge, sondern auch Vorstellungen und Normen umfasst. Weitgehend ausgespart bleiben dabei nur die organisatorischen und strukturellen Aspekte, also die klassische "Kirchengeschichte", die schon durch den Band 17 der Reihe (Michael Borgolte, 1992) abgedeckt ist. Noch weniger als dieser ist der vorliegende Band in den politisch-geografischen Horizont "deutscher" Geschichte eingepasst, denn "was im heute deutschsprachigen Mittelalter ablief, geschah, wenn auch nicht gleichzeitig, so doch im Wesentlichen gleichartig in der ganzen westlichen Christenheit" (XI). Es geht also um ein "westliches", das heißt europäisches Phänomen, nämlich um den Wandel von der Vielfalt indigener Religionen des Kontinents zur mittelalterlichen Einheitlichkeit der christlichen Religion.
Damit ist zugleich die Perspektive eröffnet, unter der die einzelnen Momente religiöser Vorstellungen und religiöser Praxis des mittelalterlichen Christentums dargestellt und gedeutet werden: Als elaborierte, im Horizont antiker Hochkultur entstandene Religion ist das Christentum in den von einfachreligiösen Vorstellungen geprägten europäischen Kulturraum eingepflanzt worden. Aus dieser grundlegenden Feststellung ergibt sich die Aufgabe, Entwicklung und Entfaltung des europäischen Christentums aus dem Gegen- und Miteinander von hoch- und einfachreligiösen Momenten zu verstehen. Schon in seiner großen "Geschichte der Religiosität im Mittelalter" (1997) hat Angenendt dieses Programm einer Deutung mittelalterlicher christlicher Religiosität mithilfe religionsgeschichtlicher Kategorien ausführlich begründet und ausgeführt. Im vorliegenden Band wird es im zweiten Teil, der gemäß dem Schema der Reihe den "Grundproblemen und Tendenzen der Forschung" gilt, als Plädoyer "für ein religionsgeschichtliches Mittelalter" (68-113) entfaltet, nach einem einleitenden prägnanten Überblick über die methodischen Ausrichtungen und zeitgebundenen Urteile der Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert (53-68). Zur Orientierung über die aktuelle Forschung werden in einem eigenen Abschnitt "Einzelprojekte" vorgestellt (91-112), darunter die immer größeres Interesse findenden Phänome der Wallfahrten, die verschiedenen Aspekte der Heiligenverehrung oder Jenseitsvorstellungen und Reliquienkult. Als Herzstück der Darstellung dürfte der Abschnitt "Grundzüge" (74-89) gelten, der die methodischen Implikationen der religionsgeschichtlichen Orientierung schon durch dialektische Kapitelüberschriften anzeigt, zum Beispiel "Hochreligion und Einfachreligion" (74), "Gentilismus und Universalismus" (80-84), "Religion und Ehik" (84-87), "Oralität und Buch" (87-89).
Gemäß dem Aufbau der Reihe dient der erste Teil der einführenden Orientierung und dem sachlichen Überblick. Nach einer kurzen Charakterisierung des neutestamentlichen und urkirchlichen Christentums und seiner spätantiken Ausgestaltung werden die früh- und hochmittelalterliche Christianisierung Europas sowie die Entwicklung der kirchlichen Strukturen und der allgemeinen religiösen Mentalität von der Merowingerzeit bis ins Spätmittelalter skizziert (7-18). Unter der Überschrift "Elemente der Religiosität" bietet der zweite Abschnitt Grundlageninformationen zum "Gottes-" und "Menschenbild" (18-27 beziehungsweise 27-33), zu "Glaube und Kultus" (33-40) und zu den "Sakramenten" (40-51), die geeignet sind, Lücken der religions- und kulturgeschichtlichen Allgemeinbildung zu schließen. Darüber hinaus geht es jeweils um die vergleichende Einordnung der besonderen Vorstellungen und der religiösen Praxis des mittelalterlichen Christentums in den Zusammenhang allgemeiner Erscheinungsformen und Funktionen von Religion.
Von anderen Studienbüchern unterscheidet sich das vorliegende nicht zuletzt dadurch, dass es seinen Gegenstand in methodischer Grundlegung und Durchführung weitgehend selbst definiert und entsprechend dem überragenden wissenschaftlichen Profil des Autors nicht nur dem Resümee aktueller Forschungsdiskussionen dient, sondern auch eine eigene, weiterführende Forschungsperspektive eröffnet. Damit sind zugleich Leistung und Grenzen des Unternehmens benannt: Der durchgehende systematische Zugriff verhindert trotz der Vielfalt des Darzustellenden ein Abgleiten in die aufzählende Detailbeschreibung, die leitende Fragestellung bleibt immer erkennbar. Entstanden ist ein Grundkurs zur Religionsgeschichte des Christentums, der allerdings in manchen Punkten deutlicher der allgemeinen religionsgeschichtlichen Würdigung christlicher Vorstellungen und Praxis als deren mittelalterlicher Konkretisierung verbunden ist. Bei den "Elementen mittelalterlicher Religiosität" etwa hätte man sich ausführlichere und konkretere Belege zum Gottesbild aus theologischem und nichttheologischem Schrifttum des frühen und hohen Mittelalters gewünscht. Der kurze Verweis auf eine theologisch konzipierte ikonografische Formel des Christusbildes lässt auch nur erahnen, welche spezifischen Erkenntnismöglichkeiten eine Quellengattung bietet, die ansonsten - trotz des Kapitels "Bild und Kunst" (101 f.) im Forschungsteil - unberücksichtigt bleibt: die Bilderzyklen liturgischer Handschriften mit ihren aussagekräftigen Wandlungen in der karolingischen, ottonischen und gotischen Stilepoche. Dieser Verzicht auf Konkretisierungen dürfte gerade für Studienanfänger manches unklar lassen, während etwa der dicht formulierte Forschungs- und Methodenüberblick nicht nur aufmerksamste Lektüre, sondern mitunter auch weitergehende Literaturkenntnisse verlangt. Dieser Wechsel der Anspruchshöhe entspricht allerdings nicht zuletzt dem erkennbaren Bemühen, den Überblick eines Studienbuches mit weiterführenden methodischen Perspektiven zu verbinden. Das gewährleistet über die Bereitstellung von Grundlageninformationen hinaus eine anregende und immer wieder (heraus-)fordernde Lektüre.
Ludger Körntgen