Cornelia Hecht: Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik (= Historisches Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung. Reihe: Politik- und Gesellschaftsgeschichte; Bd. 62), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2003, 428 S., ISBN 978-3-8012-4137-7, EUR 32,00
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Der Blick von dem "gewaltigen Berg" der Shoah, der sich am Ende der deutsch-jüdischen Geschichte erhebt, hat - mit Michael M. Meyer zu reden - "die Perspektive derer verzerrt, die von seinem öden Gipfel aus auf die Landschaft unten gesehen haben". Mit gutem Grund also nimmt Cornelia Hecht in ihrer preisgekrönten Tübinger Dissertation die deutsch-jüdische Geschichte in der Weimarer Republik "von ihren Anfängen und nicht von ihrem Ende her in den Blick" (11). Denn: "Die deutschen Juden fühlten sich nicht nur so, sie waren Deutsche. Deutschland war ihre Heimat [...] und die Zukunft Deutschlands war ihre Zukunft." (12)
Obwohl die Forschung unisono von einer scharfen Radikalisierung des Antisemitismus nach 1918 ausgeht, wird die politische Bedeutung dieses bedrückenden Phänomens bis heute kontrovers gesehen. Ist der Antisemitismus - parallel zum Einflussverlust völkischer Verbände und Parteien - nach 1924 wirklich abgeebbt, und ist die NSDAP ab 1930 tatsächlich nicht wegen, sondern trotz ihres Antisemitismus' gewählt worden? Die Studie von Cornelia Hecht versucht, diese Fragen aus einer bislang erstaunlich vernachlässigten Perspektive zu beantworten, das heißt zu rekonstruieren, wie deutsche Juden selbst die verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus zwischen 1918 und 1933 wahrgenommen und gedeutet haben.
Als Quellengrundlage dient - neben einigen Archivbeständen in Moskau, Jerusalem und Berlin - vor allem eine Auswahl der wichtigsten beziehungsweise für einzelne Gruppen repräsentativsten deutsch-jüdischen Zeitungen und Zeitschriften: Von der traditionsreichen Allgemeinen Zeitung des Judentums über das viel gelesene Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens oder die Zeitung des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten bis hin zum Mitteilungsblatt des kleinen Verbandes nationaldeutscher Juden. Leider wird aber darauf verzichtet, die nicht nur, aber auch vom städtischen deutsch-jüdischen Bürgertum gehaltene liberale Tagespresse, wie vor allem das Berliner Tageblatt (Theodor Wolff !), die Vossische oder die Frankfurter Zeitung in den Quellenfundus mit einzubeziehen. So viel Mühsal die Auswertung publizistischer Quellen bereitet, der zusätzliche Aufwand hätte sich gelohnt und die Erklärungskraft der Arbeit nicht unbeträchtlich erhöht. Denn nach Aussage selbst eines Chefredakteurs der von Hecht untersuchten neun Zeitungen, spiegelten weniger diese "von Juden für Juden" geschriebenen Presseorgane das jüdische Leben in Deutschland wider, als die genannte allgemeine, auch auf einen breiteren nichtjüdischen Leserkreis ausgerichtete Publizistik.
Die Quellenauswahl hätte im Rahmen einer problemorientierten Presseanalyse zumindest gründlicher methodisch reflektiert werden sollen. Erfreulich dagegen, dass die Verfasserin einleitend darauf verzichtet, das gängig gewordene, aber nicht stets effiziente kulturalistische Gebläse einzuschalten, sondern gleich zur Sache kommt. Nach einem hinführenden Kapitel über die Zeit bis 1914 behandelt Hecht die "Wendezeiten" deutsch-jüdischer Geschichte während des Ersten Weltkriegs und der Gründerjahre der Weimarer Republik. Die bekannte Wucht der aufflammenden antisemitischen Propaganda gegen die "Judenrepublik" wird einem in der deutsch-jüdischen Gegenstrategie noch deutlicher. Sie zielte darauf ab, die nicht mehr vorhandenen Bindungen exponierter November-Revolutionäre an das Judentum zu unterstreichen; ja, das Organ des Centralvereins ging sogar soweit, die "arische Abstammung" des Spartakisten Karl Liebknecht urkundlich nachzuweisen (80). Und der Räterevolutionär Kurt Eisner wurde nach dem Rathenau-Mord 1922 im Mitteilungsblatt des Verbandes Nationaldeutscher Juden dafür verantwortlich gemacht, dass Bayern, "dasjenige Land, in dem noch vor wenigen Jahren der Antisemitismus eine Ausnahmeerscheinung war", zwischenzeitlich reichsweit an der Spitze der "Feindseligkeit gegen die Juden" stehe (81).
Im Hauptteil der Studie widmet sich Hecht dem "Antisemitismus im Alltag deutscher Juden", wobei sie zwischen gewalttätigen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erscheinungsformen unterscheidet. Instruktiv arbeitet sie heraus, wie unterschiedlich etwa die pogromartigen Ausschreitungen im Krisenjahr 1923 im deutschen Judentum bewertet wurden. Die zionistische Strömung, ohnehin skeptisch gegenüber der christlichen Mehrheit der Gesellschaft, fühlte sich von dem wachsenden Antisemitismus eher bestätigt. So sah die Jüdische Rundschau mit den Pogromen die "Schicksalsstunde" gekommen (180), während nationaldeutsche Juden dieser Auffassung massiv entgegentraten. An der Vielfalt der Meinungen sollte sich bis zum Ende der Weimarer Republik nichts ändern, wie 1931 nicht zuletzt die Reaktionen auf den blutigen Krawall am Kurfürstendamm zeigten, in jener so genannten "Hauptstraße des Judentums" im Berliner Westen, die den Völkischen als Inbegriff dekadenten Reichtums galt.
Die abschließend aufgeworfene Frage nach der "scheinbare(n) Ignoranz, mit der die deutschen Juden in ihrer Mehrheit der antisemitischen Bedrohung begegneten" (406) und die der deutsch-jüdischen Presse ein Ärgernis war, lässt sich wohl nur vor einem breiteren historischen Erfahrungshorizont der Betroffenen her beantworten. In den über 100 Jahren ihrer postemanzipatorischen Geschichte in Deutschland hatten die jüdischen Bürger mehrfach Hochphasen des Antisemitismus erlebt, aber dann immer wieder auch dessen Abflauen. Und was nach 1933 kam, konnte keiner sehen. So entschied sich der Centralverein, das "Bollwerk der deutschen Juden im Kampf gegen den Antisemitismus" (407), für die schwierige Gradwanderung, "bei den deutschen Juden weder Panik und Pessimismus zu schüren noch Ignoranz und Schönfärberei zu unterstützen"(406).
Das furchtbare Hin- und Hergerissensein der jüdischen Bevölkerung zwischen Integrationshoffnungen und Isolationsängsten hat Cornelia Hecht insgesamt differenziert analysiert. Zu den Verdiensten der Studie, die trotz allzu ausführlichen Referierens mancher Pressestimmen gut lesbar bleibt, zählt aber noch etwas anderes: Sie schärft den - in der Forschung stellenweise leicht getrübten - Blick dafür, dass Antisemitismus auch in den Mitte der 1920er-Jahre aus jüdischer Sicht nicht etwa eine Rand-, sondern eine Massenerscheinung war. Darüber hinaus wirft die fortschreitende Verankerung des Antisemitismus in den Wirtschafts- und Berufsverbänden oder in den Turn- und Gesangvereinen, die Hecht anhand ihrer publizistischen Materialien beleuchtet, die Frage auf, was sich über den Prozess der "gesellschaftlichen Segregation und der institutionalisierten Dissimilation" (403) der jüdischen Deutschen auf der Basis weiterer Quellen noch sagen ließe. Aber das wäre Stoff für eine weitere Untersuchung.
Manfred Kittel