Carsten Claußen: Versammlung, Gemeinde, Synagoge. Das hellenistisch-jüdische Umfeld der frühchristlichen Gemeinden (= Studien zur Umwelt des Neuen Testaments; Bd. 27), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 368 S., 4 Tafeln, ISBN 978-3-525-53381-9, EUR 82,00
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Die im Sommersemester 1999 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität angenommene und nun in überarbeiteter Form vorliegende Untersuchung soll die These begründen, dass die "jüdische Haussynagoge [...] das wahrscheinlichste Modell der frühchristlichen Gemeinden" gewesen sei: "Auf diesem genealogischen Weg lassen sich im historischen Kontext die weitaus meisten die Organisation der frühchristlichen Gemeinden betreffenden Entwicklungen vom antiken Judentum hin zum frühen Christentum nachvollziehen" (310).
Der umfangreiche Teil I "Einleitung" (15-81) zerfällt in vier Kapitel, in denen auf die Einführung (15-20) eine Forschungsgeschichte (21-48) und die Präsentation der Quellen (49-81) folgen. Er hätte leicht und ohne Schaden um 90% gekürzt werden können, handelt es sich doch weithin um einen Katalog von wie Lemmata aus Lexika wirkenden - und hauptsächlich aus solchen Nachschlagewerken und Überblicksdarstellungen geschöpften - Artikeln und hilfswissenschaftlichen Progymnasmata bis hin zur Darstellung des Leidener Klammernsystems (55), die man eher in Handreichungen für Studienanfänger als in einer wissenschaftlichen Untersuchung erwartet. Ganz in diesem Stil oszilliert die Bahn durch die Forschungsgeschichte zwischen "grundlegenden", gar "monumentalen Standardwerken" und "Hilfsmitteln von unschätzbarem Wert" (vergleiche 23-25). Pedanterie suggeriert Akribie, an die zu glauben man aber zu zweifeln anfängt, wenn man sieht, dass Géza Alföldys "Römische Sozialgeschichte" in der Fassung von 1975 zitiert - es gibt seit 1984 eine gründlich überarbeitete dritte Auflage - und ohne jede Differenzierung neben dem doch deutlich anders konzipierten Abriss Friedrich Vittinghoffs im "Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte" aufgezählt wird (43). Im Materialschutt verlieren sich hier wie oft eine über scharf akzentuierte Gesichtspunkte geführte Linie und im Sinne der Sache notwendige begriffliche Präzisierungen. Freilich ist man gewarnt, wenn man gleich anfangs liest, dass das Ziel der Arbeit nicht eine "Darstellung der neutestamentlichen Ekklesiologie" sei, sondern sie sich als "Hintergrundbeitrag in deren Vorfeld" verstehe (15). In solchen Intermundien geht auch Philon als Historiker (48) durch, verwischen sich die Unterschiede zwischen Wortstatistik, Wort- sowie Begriffsgeschichte und werden Epitheta wie "erstrangig" oder "exemplarisch" großzügig verteilt, wobei die Kriterien unklar bleiben. Könnte man auf vieles davon verzichten, vermisst man umgekehrt eine systematische Vorstellung des Untersuchungsgegenstandes: Was bedeutet es, dass "Synagoge" sowohl eine soziale Einheit als auch ein Gebäude bezeichnet? Wie ist es gerechtfertigt, etwa eine "Proseuche" als Synagoge zu rubrizieren? Ist jedes als "Synagoge" bezeichnete Gebäude eo ipso eine Synagoge?
Auch der zweite Teil "Die antiken Synagogen" (83-304 - im Inhaltsverzeichnis freilich bis 309) bewährt sich in erster Linie als ein Repertorium. In sieben Kapiteln geht Claußen der geografischen Verbreitung der Synagogen nach (83-112), stellt dann - und unverständlicherweise erst an dieser Stelle - die Terminologie vor (113-150), deutet die "Ursprünge der Synagoge" funktional als Substitut für Stadttor und Markt einerseits sowie als Ausweitung häuslicher Frömmigkeitspraxis und Schriftlesung und -auslegung andererseits (151-165), bestätigt den letztgenannten Befund durch architekturgeschichtliche Beobachtungen zur Ausdifferenzierung von Synagogengebäuden aus Privatgebäuden (166-208), breitet anschließend noch einmal die verschiedenen "Funktionen der Synagoge" als eine Art "Gemeindezentrum" aus (209-223), wendet sich im Folgenden sehr summarisch und im Einzelnen in oft unzureichender Kenntnis der komplexen juristischen Kategorien, aber auch der Strukturen der römischen Ordnung der "Rechtslage und Rechtspraxis" der Juden im Imperium zu (224-255) und endet mit einem Dodekalog der "Ämter der Synagoge" (256-293), wo Bezeichnungen von Rollen im Zusammenhang mit der Synagoge danach geschieden werden, ob es sich um Ehrentitel, Verwaltungsämter, kultische Funktionen oder Hilfsdienste gehandelt hat. Ein Resümee (294-304) leitet zum analog gegliederten Teil III "Ausblick auf die frühchristlichen Gemeinden" über (305-310 - im Inhaltsverzeichnis nur als Überschrift). Unvermittelt folgen als "Tafeln" bezeichnete Skizzen früher Synagogen in Palästina und der Diaspora sowie in Jericho und Qumran, die hundert Seiten früher besprochen worden sind (166-208). Das Literaturverzeichnis, ein Stellen- und ein Auswahlregister zu Sachen und Orten ergänzen den Band. Exkurse, in denen nichts weiter zu finden ist als die Zusammenfassung bekannter Forschungspositionen, schaffen den Raum dafür, jeden Zettelkasten auszuleeren (239-242 zum "politeuma").
Trotz häufiger Zusammenfassungen und zahlreicher Wiederholungen fällt es insgesamt schwer, den Überblick zu behalten. Die Disposition erweist sich als Spiegel unklarer Argumentationsführungen. Manche Fehler sind ein Ärgernis: Pilatus steht etwa einer "prokuratorischen Provinz" vor (248), obwohl eine inzwischen seit Jahrzehnten bekannte Inschrift sein Amt als das eines "Praefectus" ausweist. [1] "Grammateus" soll in der "üblichen griechischen Bedeutung" mit "(Ab-)Schreibern" gleichzusetzen sein (281), obwohl doch auch der Nur-Bibelleser einen einflussreichen Amtsträger unter diesem Namen kennen lernen kann (Acta. 19,35). [2]
Gleichwohl liest man das Buch nicht ohne Gewinn. So wird man etwa in Zukunft viel vorsichtiger sein müssen, wenn man etwa das Amt christlicher "presbyteroi" stracks aus einem nämlichen Gremium der Synagoge ableiten will: Die für die Synagogen bezeugten Presbyter bekleiden keineswegs jeweils ein Amt, sondern erscheinen eher als "Honoratioren". Leider macht Claußen fast nichts aus solchen Befunden, um Licht ins Dunkel der Lebenswelt Synagoge zu bringen. Ein Vergleich mit den von der Forschung gut aufgearbeiteten und leicht auch im Überblick zugänglichen Verhältnissen in den Städten des Kaiserreiches hätte doch nahe gelegen. [3] Ebenso wenig wertet er das insgesamt sicher richtige Ergebnis hinreichend aus, dass insbesondere in der Diaspora Häuser der Ausgangspunkt der Entwicklung zur Synagoge gewesen sind. Die jüngere Forschung zum Haus als sozialer Einheit im griechisch-römischen Altertum hätte hier faszinierende Perspektiven eröffnen können. Stattdessen anachronistische Kurzschlüsse: Kleinheit der Verhältnisse und umlaufende Sitzbänke sollen auf kommunikativ ausgerichtete, gar (wenn auch in Anführungszeichen) "demokratische" Gemeindepraxis verweisen, wenn auch "gewisse herausgehobene Persönlichkeiten oder Leiter" zu berücksichtigen seien (299). Da war schon Aristoteles weiter.
Die wichtigste Quelle für Claußens Argumentation ist eine 1913 gefundene griechische Inschrift aus Jerusalem, die von den Stiftungen eines gewissen Theodotos spricht (CIJ 1404). Sie wird bald und ausführlich angeführt und für die Argumentation benutzt: 29, 31 (Hinweise zur Datierung Anm. 51 u. 52), 33 f. (Hinweise zur Datierung Anm. 60 u. 66), 50 (mit Datierung), 53 f. (Hinweise zur Datierung Anm. 11), 85 mit Anm. 17, 93 f. (mit der Vermutung, die in späteren Quellen bezeugte Synagoge der Alexandriner sei mit der von Theodotos gestifteten identisch, Anm. 75, und einer sachlichen Auswertung des "berühmten" Textes), 98, 120 (Beleg für die Üblichkeit von Schriftlesungen Anm. 54), 122 (Hinweis auf Inhalt und bibliografische Notizen, Anm. 65), 128 (Vermutung dazu, warum nicht vom Gebet die Rede ist), 131 (Synagoge als Lehrgebäude, Anm. 131), 142, 151 (Hinweis zur Datierung mit Anm. 4), 167 (Charakteristik der Theodotos-Synagoge als "Diaspora-Synagoge"). Aber erst etwa in der Mitte des Buches wird die Inschrift zitiert und ausführlicher vorgestellt (186-191). Dort verficht Claußen mit Nachdruck eine Datierung in die Zeit vor 70 nach Christus - leider mit unzureichenden Gründen: (1) Die Inschrift wurde in einer Zisterne gefunden. Woher sie wann dorthin verschleppt wurde, ist nicht zu klären. Deswegen ist es ohne Belang für ihre Datierung, dass in dieser Gegend "eine Besiedlung für die Zeit nach 70 nach Christus nicht nachweisbar ist" (187). Eine gewiss ansprechende, aber eben gerade nicht beweiskräftige Vermutung ist es, in der Nähe des Fundortes gefundene Wasserbecken mit den in der Inschrift genannten "Wasserinstallationen" zu identifizieren. Genauso ist der Hinweis zu bewerten, dass in der Zisterne gefundenes Baumaterial von der in der Inschrift genannten Synagoge stammen "könnte" (!). (2) Der paläografische Befund ist nicht eindeutig: Für die eigene Datierungsabsicht Unpassendes als "Eigenheiten verschiedener Handwerker" (188) abzutun, ist methodisch verfehlt. (3) Allgemeine Überlegungen dazu, ob nach 70 eine hinreichend große jüdische Bevölkerung in Jerusalem gelebt hat, um den Bau zu finanzieren, oder ob die Pilgerströme stark genug waren, dass man ihn benötigt hat, lassen außer Acht, dass es sich um die Stiftung eines einzelnen Mannes handelt, der jederzeit und überall zu seinem vielen Geld gekommen sein und sich veranlasst gefühlt haben kann, seine Großzügigkeit in Jerusalem - vielleicht auch überdimensioniert - zur Schau zu stellen. Natürlich bleibt es möglich, dass die Theodotos-Synagoge in die Zeit vor die Eroberung der Stadt durch Titus gehört, bewiesen oder auch nur wahrscheinlicher als andere ist dieser Ansatz demnach aber nicht; ein wesentlicher Pfeiler von Claußens Argumentationszusammenhang ist nicht gut begründet. Leider ist die Interpretation dieses Textes auch in anderer Hinsicht überdehnt: Er dient als Beleg für die Möglichkeit, Synagogen als "Gemeindezentren" zu deuten. Aber Theodotos unterscheidet ausdrücklich, was er hat errichten lassen: "die Synagoge zum Studium des Gesetzes und zur Lehre der Gebote" einerseits, "die Herberge, Räume und Wasserinstallationen" andererseits; Letztere sind ausdrücklich für Besucher aus der Fremde vorgesehen und somit sicher Hygiene-Einrichtungen und keine Mikwaot (so aber 219 f.). Demnach kann man in diesem Fall durchaus von einem "Synagogenkomplex" sprechen, sollte aber nicht verwischen, dass das, was zum "Komplex" gehört, etwas anderes ist als die Synagoge.
In verschiedenen Zusammenhängen bezieht sich Claußen auf ein bei Josephus überliefertes Fragment des hellenistischen Geografen Agatharchides von Knidos (Jos. Ap. 209). Es geht um das Sabbatgebet der Juden. Claußen hat dafür verschiedene Übersetzungen parat: "mit ausgestreckten Armen" (120) beziehungsweise "mit ausgebreiteten Händen" (136 u. 211 mit anderer Belegangabe Anm. 16), ein ärgerlicher Lapsus bei den Beschreibungen eines Rituals, die auch in der Wiedergabe auf Deutsch sowohl einheitlich als auch präzise zu sein haben. Nur so werden Eigenheiten und historische Besonderheiten deutlich. Als solche ist wohl auch eine Bemerkung zu den jüdischen Gewohnheiten in Sardeis zu verstehen, wo "Gebete und Opfer nach Sitte der Väter" miteinander verbunden sind (Jos. Ant. 14,260). Eine ähnlich lautende Stelle bei Philo (SpecLeg 3,171) müsste Anlass sein, diese Frömmigkeitsformen in Synagogen zu thematisieren. Für Claußen belegt die Parallele hingegen, "dass es sich bei den Opfern allerdings eher um einen metaphorischen Sprachgebrauch gehandelt haben muß" (210). Warum nur, fragt sich der verdutzte Leser.
Die beiden Beispiele bestätigen im Einzelnen den wegen konzeptioneller und begrifflicher Mängel generell unbefriedigenden Eindruck.
Anmerkungen:
[1] Antonio Frova: L'iscrizione di Ponzio Pilato a Cesarea, in: Rendiconti dell'Istituto Lombardo, Accademia di Scienze e Lettere 95 (1961), 419-434.
[2] Vgl. auch Claudia Schulte: Die Grammateis von Ephesos, Stuttgart 1994.
[3] Vgl. etwa Friedemann Quaß: Die Honoratiorenschicht in den Städten des griechischen Ostens, Wiesbaden 1993.
Tassilo Schmitt