Rezension über:

Karin Geiger: Der diagnostische Blick. Martin Gumpert als Arzt, Medizinhistoriker und ärztlicher Schriftsteller (= Studien zur Geschichte der Medizingeschichte und Medizingeschichtsschreibung; Bd. 2), Remscheid: Gardez! Verlag 2004, 240 S., ISBN 978-3-89796-145-6, EUR 39,90
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Rezension von:
Jutta Ittner
Case Western Reserve University, Cleveland, OH
Redaktionelle Betreuung:
Florian Steger
Empfohlene Zitierweise:
Jutta Ittner: Rezension von: Karin Geiger: Der diagnostische Blick. Martin Gumpert als Arzt, Medizinhistoriker und ärztlicher Schriftsteller, Remscheid: Gardez! Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 3 [15.03.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/03/7054.html


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Karin Geiger: Der diagnostische Blick

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Geigers Arbeit ist die dritte Monografie innerhalb weniger Jahre, die sich mit dem Leben und Wirken Martin Gumperts (1897-1955) befasst. Angesichts der Tatsache, dass der Berliner / New Yorker Arzt und Schriftsteller weder vom literarischen Rang eines Alfred Döblin noch vom wissenschaftlichen Rang seiner Lehrer Abraham Buschke, Hermann Blaschko oder Henry E. Sigerist ist, mag die einleitende Frage der Verfasserin, "Warum eine weitere biographische Arbeit?" nicht nur rhetorisch erscheinen. Gumperts Bedeutung liegt in dem "diagnostischen Blick" (Geiger) dessen, der sich als "Augenzeuge im Dienst der Wahrheit" verstand [1] - eines Blicks, der seine soziale, politische, kulturelle, wirtschaftliche Umwelt mit der selben Klarheit und Objektivität betrachtete wie seine Patienten und nicht zuletzt - zumindest war das sein Ziel - das eigene Leben.

Trotz seiner engen Vernetzung mit der expressionistischen Kulturszene der Weimarer Jahre auf der einen Seite und den Pionieren der Sozialhygiene und der Entstellungschirurgie auf der anderen stand der junge jüdische Arzt lange Zeit im toten Winkel sowohl der Medizingeschichte als auch der Literaturwissenschaft. Nicht anders erging es dem Exilanten, der zu Thomas Manns engstem Familienkreis zählte und dem es als einem der ganz wenigen Emigranten gelang, sich in den USA eine solide neue Karriere sowohl als Schriftsteller wie auch als Arzt aufzubauen; er verschwand wie unzählige andere von den Nationalsozialisten Vertriebene im Nebel des Vergessens. Erst die Exilforschung der 1980er-Jahre hat diese sympathische, ungewöhnliche - ja exemplarische - Existenz der Vergessenheit entrissen. Von seinem literarischen, wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Werk wurden 1983 seine Autobiografie "Hölle im Paradies" (1939) wie auch 1985 sein Roman "Der Geburtstag" (1948) wiederaufgelegt. Von seinen zahlreichen historischen Romanen und populärwissenschaftlichen Publikationen ist nur "Hahnemann" (1934), die Biografie des Begründers der Homöopathie, noch erhältlich.

Geigers Monografie versteht sich zu Recht als komplementär zu der von Jutta Ittner [1], die Gumperts gesamtes Leben rekonstruiert und vor allem sein literarisches Schaffen analysiert, den Arzt, sein Medizinverständnis und seine Arbeit jedoch nur skizziert. Geigers Buch leuchtet den medizinischen Bereich aus und vervollständigt damit das Bild eines Mannes, dessen innerer und äußerer Lebensweg so unterschiedliche Bereiche wie Lyrik und Dermatovenerologie, Autobiografie und Gerontologie, historische Romane und den Ursprung der Syphilis und schließlich populärwissenschaftlichen und politischen Journalismus vereinte. Geiger stützt sich sowohl auf Ittners Monografie als auch, in weit geringerem Maße, auf eine erste medizinhistorische Dissertation [2], die sich weitgehend auf Gumperts frühe sozialmedizinischen Arbeiten beschränkt.

Die Arbeit zeichnet den Lebensweg und das Lebenswerk des Mediziners chronologisch nach: die Berliner Zeit 1916-1936 (Kapitel 1-3, 17-114: Studium der Dermatologie / Venerologie, Sozialmedizin, Soziale Kosmetik, Dissertation über den Ursprung der Syphilis; medizinhistorische Beiträge und Biografik), seine Auswanderung und Niederlassung in den USA 1936-1955 (Kapitel 4-6, 115-157: Emigration, Gerontologie / Geriatrie; Popularisierung der Medizin) und schließt mit dem zusammenfassenden Kapitel (170-191) "Soziale Medizin als Leitidee".

Am gelungensten erscheinen die Kapitel, in denen Geiger sich ganz auf eigene Recherchen stützt und viele neue Ergebnisse vorstellt, insbesondere der erste Teil (17-88) und das Kapitel über den Gerontologen (129-155). Im Vergleich dazu sind die Bereiche, die bereits bei Ittner ausführlich behandelt sind, wohl fast zwangsläufig weniger eigenständig und manchmal paraphrasierend, wobei zu betonen ist, dass Geiger sehr sorgfältig und zuverlässig zitiert. Geiger gibt einen umfangreichen, überaus interessanten Einblick in die Arbeit des jungen Dermatologen, dessen Anliegen es nicht nur war, Krankheiten zu bekämpfen, sondern Menschen zu heilen - mehr noch, den ärztlichen Stand und die Gesellschaft für die sozialen Ursachen und Folgen der Geschlechtskrankheiten zu sensibilisieren. Seine Beratungsstelle im Wedding bot beispielsweise Sprechstunden für gonorrhöekranke Kinder an und organisierte sogar Sonderschulunterricht für diese jüngsten Opfer der "Volksseuche" der Weimarer Jahre. Ähnlich innovativ war Gumpert beim jüngsten Zweig der sozialen Medizin, der "Sozialen Kosmetik", die entstellten Menschen kleinere plastisch-chirurgische Eingriffe ermöglichen sollte, um die Eingliederung in das Arbeitsleben zu erleichtern. Geigers Hinweis auf die Rolle des "Unsichtbarmachens" jüdischer Stigmata dabei wirft ein Schlaglicht auf den virulenten Antisemitismus bereits der 1920er-Jahre, die das Wirken des jüdischen Arztes immer stärker beeinflusste, angefangen von seiner Berufswahl bis zur Entlassung und Auswanderung. Mehr im Zusammenhang dargestellt, hätten solche verstreuten Hinweise den zeitpolitischen Hintergrund besser ausgeleuchtet. Gumperts Beiträge zum Kampf gegen das Naziregime zum Beispiel drohen unterzugehen, vor allem seine wichtige Schrift "Heil Hunger! Health Under Hitler" (1940), die sich in einem letzten, nicht sehr klar umrissenen Kapitel "Soziale Medizin als Leitidee" versteckt findet.

Geigers Darstellung des "zweiten Lebens" in New York (129-155) bringt eine Fülle interessanter neuer Fakten: Dem praktischen Sozialreformer gelang es nicht nur, in der Emigration Fuß zu fassen, sondern sich ein neues Arbeitsfeld aufzubauen, das ihn einem breiten Publikum bekannt machte. Mit seiner Praxis für Gerontologie / Geriatrie und vielen Publikationen, darunter einer eigenen Zeitschrift "Lifetime Living" setzte er, wenn auch auf konservativere Weise, sein Ziel fort, Menschen zu Gesundheit und sozialem Wohlbefinden zu verhelfen - "The Anatomy of Happiness" (1951) ist eine seiner Anleitungen zum erfolgreichen Altern, die übrigens zum Teil auch auf Deutsch erschienen. Ein kleines Bedauern sei in diesem Zusammenhang darüber vermerkt, dass Geiger die Rolle des Arztes als Berater der Familie Mann im amerikanischen Exil nicht genauer ausführt. Zwar erwähnt sie seine Mithilfe bei Thomas Manns Vorstudien zu Dr. Faustus, nicht aber andere direkte oder indirekte Spuren seines ärztlichen Wirkens, wie etwa die komplexe Beziehung des "lieben Doktors Martino" zum drogensüchtigen Klaus Mann.

Die genannten Einwände sollen aber nicht den Wert dieser wirklich verdienstvollen Arbeit schmälern. Geiger hat ihr Thema gründlich recherchiert. Sie hat das bereits vorhandene Material einbezogen und dabei oft neue Schwerpunkte gesetzt. Vor allem hat sie eine Fülle an neuen Quellen gefunden und sorgsam ausgewertet. Ein großer Verdienst ist die Erstellung eines vollständigen Verzeichnisses der medizinisch relevanten Schriften Martin Gumperts. "Der diagnostische Blick" ist ein sehr gut lesbares, detailliertes und akribisch dokumentiertes Portrait des Arztes und Humanisten, Wissenschaftlers, Medizinhistorikers und ärztlichen Schriftstellers.


Anmerkungen:

[1] Jutta Ittner: Augenzeuge im Dienst der Wahrheit. Leben und literarisches Werk Martin Gumperts (1897-1955), Bielefeld 1998.

[2] Doina Rosenberg: Martin Gumpert - Arzt und Schriftsteller, Diss. phil. FU Berlin 2000.

Jutta Ittner