Ruth Dörner / Norbert Franz / Christine Mayr (Hgg.): Lokale Gesellschaften im historischen Vergleich. Europäische Erfahrungen im 19. Jahrhundert (= Trierer Historische Forschungen; Bd. 46), Trier: Kliomedia 2001, 430 S., ISBN 978-3-89890-041-6, EUR 52,00
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Christine Mayr: Zwischen Dorf und Staat. Amtspraxis und Amtsstil französischer, luxemburgischer und deutscher Landgemeindebürgermeister im 19. Jahrhundert. Ein mikrohistorischer Vergleich, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006
Norbert Franz: Durchstaatlichung und Ausweitung der Kommunalaufgaben im 19. Jahrhundert. Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume ausgewählter französischer und luxemburgischer Landgemeinden im mikrohistorischen Vergleich (1805-1890), Trier: Kliomedia 2006
Mit seiner Dissertation "Der Staat vor Ort: Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens" rückte Joachim Eibach bereits 1994 das Gegen- und Miteinander von Vertretern der zentralstaatlichen Macht und kommunalen Herrschaftsträgern in den Blick der Forschung. Dieser zentralen Frage für das Verständnis des Funktionierens von staatlicher Herrschaft im zentralisierten, bürokratischen Flächenstaat der Neuzeit gingen im Dezember 1999 auch die Referenten der zweiten Tagung des von Lutz Raphael geleiteten Projektes "Staat im Dorf" des Sonderforschungsbereiches 235 der Deutschen Forschungsgemeinschaft nach. Auf hohem theoretischen Niveau werden in mikrohistorischer beziehungsweise regionalgeschichtlicher, teilweise vergleichender Perspektive das Verhältnis zwischen Dorf und Regierungsinstanzen, die politische Kultur des Dorfes, die Konflikte zwischen lokalem Autonomieanspruch und zentralstaatlichen Forderungen sowie die Akteure der Macht im Dorf untersucht. Die gewählte teilweise abstrakte Terminologie und die wissenschaftstheoretischen Reflexionen mögen zwar nicht unbedingt der Lesbarkeit förderlich sein, gewährleisten aber, dass hier Ergebnisse zu Tage gebracht werden, die untereinander vergleichbar sind und zu einem Gesamtbild der "Durchstaatlichung" dörflicher Gemeinden im Zeitalter europäischer Nationsbildung und des Aufstiegs der Nationalstaaten beitragen (10).
Den Fragehorizont zu dieser Tagung eröffnet Lutz Raphael in seiner Einleitung. In dem ihm vertrauten Themenbereich schließt Robert von Friedeburg seine Überlegungen zum Verhältnis von traditionellem, alteuropäischem Gemeindeprotest an und kann zeigen, wie im Dorf des 19. Jahrhunderts frühneuzeitliche Leitbilder wirksam blieben, gleichzeitig aber auch das bürgerliche Bauernbild gleichsam das Dorf neu erfand. An burgundischen Beispielen untersucht Wolfgang Schmale die Brüche im politischen Gedächtnis der Dorfgemeinde in der Folge der Revolution von 1789 und weist darauf hin, dass die revolutionäre beziehungsweise nachrevolutionäre "politische Geschlechtertopographie" (64) eindeutig den Männern vorbehalten war, relativiert aber diese Feststellung mit dem berechtigten Hinweis auf fehlende Untersuchungen zum Anteil von Frauen an traditionellen, dörflichen Protestaktionen.
Eher als Problemaufriss will Gunter Mahlerwein seinen kurzen Beitrag "zur Analysierbarkeit von Machtkonstellationen in Dörfern" (65) verstanden wissen. Die Versuche der Meinungsbeeinflussung der Landbevölkerung durch den Schulunterricht und die Regierungspresse in Hannover, Sachsen und Württemberg untersucht Abigail Green. Einen 'clash of cultures' ganz eigener oder vielleicht auch nicht so eigener Art nimmt Constanza D'Elia mit dem konfliktreichen und unharmonischen Zusammentreffen der neapolitanischen Bürokraten mit den lokalen Gesellschaften im nachnapoleonischen Mezzogiorno in den Blick. Die im preußischen Westfalen im 19. Jahrhundert geführte Debatte um den "traditionalen Bauern" (109) stellt Susanne Rouette als die andere Seite der Bemühungen um eine "Rekonzeptualisierung adeligen Standesdenkens im 19. Jahrhundert" (138) heraus und liefert damit en passant einen wichtigen Beitrag zur Genese eines (struktur-)konservativen Denkens und Gesellschaftsbildes, das die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in bekannt fataler Weise bestimmen sollte.
Den mühsamen, und letztlich gescheiterten Versuch des deutschen Nationalstaates, nach 1871 in die elsass-lothringischen Dörfer vorzudringen, beschreibt Günter Riederer. Allerdings wird nicht in der wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen, dass die wilhelminischen "altdeutschen" Beamten nicht an der dörflichen Identität und dem lokalen Eigensinn scheiterten, sondern an dem französischen Nationalbewusstsein, das hier, auch wenn heute viele Elsässer auf ihre regionale Identität pochen, in den rund 200 Jahren französischer Herrschaft tiefe Wurzeln geschlagen hatte. Wie schmerzlich und mit welcher Rigidität für das Alltagsleben sich die Integration in die Nation und die Adaption einer nationalen Kultur für die südfranzösischen Gemeinden im 19. Jahrhundert vollzog, zeigt Josef Smets, betont aber die langanhaltende Perseveranz lokaler Kulturen und vermutet, dass die "okzitanische France profonde" (178) sogar vielleicht erst durch die modernen Massenmedien ab den 1950er-Jahren französisiert worden sei. Der folgende Beitrag von Ruth Dörner nimmt die von dem Amerikaner Eugen Weber Mitte der 1970er-Jahren formulierte These einer späten Nationalisierung des französischen Dorfes nicht vor den 1880er-Jahren als Ansatzpunkt für ihre Untersuchung über die Nationalfeiertage in den Dörfern des Departements Meuse zwischen 1830 und 1890. Sie kommt zu dem relativierenden Ergebnis, dass die Nation "seit der Juli-Monarchie eine anerkannte Tatsache [war], und nationalpolitische Belange seither einen, wenn auch nicht allgemein verbreiteten, Parameter des politischen Lebens auf dem Dorf darstellten" (199).
Die "Durchstaatlichung mit Hindernissen" (201) in der heute Südtiroler Marktgemeinde Innichen durchleuchtet Margareth Lanzinger nicht nur auf der Verwaltungs- und Politikebene, sondern auch in ihren Konsequenzen für die durch die Verwobenheit von lokalpolitischen, ökonomischen, ökologischen und demografischen Bereichen gekennzeichnete vormoderne Lokalgesellschaft. An dem für die vorindustrielle Wirtschaft höchst sensiblen Bereich der Waldnutzung zeigt Bernd-Stefan Grewe, wie der Staat in Frankreich und Luxemburg nicht anders als im linksrheinischen preußischen Gebiet die kommunale Autonomie im Bereich der Waldwirtschaft einschränkte beziehungsweise kontrollierte, mit erheblichen langfristigen Folgen. Beispielsweise wurde damals zwar der durch den Bevölkerungsdruck bedingten intensiven Waldweide begegnet, andererseits prägen aber seither die mittlerweile als ökologisch völlig unsinnig erkannten Nadelholz-Monokulturen weite Landschaften. Der Spottname "Preußenbaum" für die Fichte rührt von dieser Staatsforstpolitik her (236). Angeregt durch die gesellschaftlichen Umbrüche in Osteuropa, ist in jüngster Zeit eine Diskussion um vorsowjetische zivilgesellschaftliche Strukturen entstanden. Die Betrachtung des Ärztestreiks im Landkreis Balašov, Gouvernement Saratov, im Jahre 1905 durch Kirsten Bönker macht deutlich, dass die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Gouverneur und in der lokalen Gesellschaft verwurzelten Amtsträgern letzteren gewisse Entscheidungsspielräume boten. Eine selbstorganisierte Gesellschaft auf nationaler Ebene sieht sie allerdings nicht, sehr wohl aber eine neue Qualität von "Öffentlichkeit" und "Gesellschaft" seit der Jahrhundertwende. Dass sich die lokalen Machtpositionen und die zentralstaatliche Herrschaft im Grunde in einem Prozess gegenseitigen Anerkennens bei der Lösung alltäglicher Problemlösungen vor Ort formierten, zeigt Jean-Luc Mayaud. Diese Vorgänge führten unter anderem dazu, dass sich konkurrierende Clans oder Fraktionen gezielt an die Vertreter des Staates vor Ort wandten, um ihre Interessen durchzusetzen.
Den methodenkritischen Beitrag von Norbert Franz zu den finanziellen Handlungsmöglichkeiten von Landgemeinden anhand der Betrachtung von Gemeindebudgets wird jeder schätzen, der sich nicht nur mit lokalen Gesellschaften, sondern auch mit finanzgeschichtlichen Fragestellungen beschäftigt. Mit den Gastwirten in thurgauischen und rheinischen Dörfern widmet sich Tobias Dietrich einer "Klasse an sich", die "quer zu den dörflichen Sozialschichten" (336) stand. Angesichts der anthropologischen Konstante "Wirtshaus" und der Tatsache, dass Gastwirte bereits im vormodernen Europa Gegenstand moralisierender Traktate wie obrigkeitlicher Reglementierungswut waren, hätte man sich indes eine sachliche Begründung für den gewählten Zeitraum gewünscht. Wie ein grundbesitzender Notabel seine im Dienste des Zentralstaates erworbenen Kenntnisse und das mit seinem diplomatischen Dienst verbundene symbolische Kapital auf lokaler Ebene zur Durchsetzung gegen seine Standesgenossen sowie zur Festigung seines Ansehens einsetzte, führt Christian Windler eindrücklich anhand der Biografie des aus der Dauphiné stammenden Jacques-Philippe Devoize (1745-1832) vor. Er liefert damit ein weiteres Beispiel dafür, dass die Durchstaatlichung nicht auf eine Konfliktgeschichte reduziert, sondern als Interaktionsprozess begriffen werden sollte.
Die von Karl H. Schneider untersuchte politische Partizipation dörflicher Abgeordneter im Landtag des Kleinstaates Schaumburg-Lippe zwischen 1816 und 1830 legt nahe, das Bild der politikfernen ländlichen Gesellschaft gründlich zu überdenken. Die zunächst wenig beneidenswerte Position der Elementarschullehrer zwischen staatlichem Dienstherrn, kirchlicher Kontrollaufsicht und finanzieller Abhängigkeit von der Gemeinde schildert Christine Mayr. Sie kann aber auch zeigen, wie die Lehrer als Mittler im Umgang mit staatlichen Behörden sowie etwa als Verfasser von Dorfchroniken, "als 'Hüter lokaler Traditionen' Ansehen im Dorf" (397) erlangten. Abschließend wartet Wolfram Pyta mit bemerkenswerten Beobachtungen zum "Ansehen katholischer und evangelischer Landpfarrer in Deutschland" (399) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Er weist überzeugend nach, dass die Rolle des Pfarrers als bürgerlicher Kulturträger wie als Agent der Obrigkeit auf dem Lande zunehmend in den Hintergrund trat und stattdessen eine "Resakralisierung" (409) stattfand, die sich zusammen mit der "mentalen Grundbefindlichkeit der Bevölkerung" zu "einem volksnahen, populären Konservatismus" (412) verdichtete - im katholischen wie im protestantischen Bereich.
Einen materialreichen Tagungsband von über 400 Seiten durch ein Register zu erschließen, ist grundsätzlich zu begrüßen. Im Text erwähnte Verfasser aber nicht zu berücksichtigen, schmälert allerdings den Nutzen dieser Fleißarbeit und ob einer der adressierten Fachwissenschaftler in diesem Band den "Gemeinde-Oberförster" Bindseil oder Yusuf sahib al-tabi, den Siegelbewahrer von Tunis, suchen wird, darf füglich bezweifelt werden.
Holger Thomas Gräf