Volkhard Huth: Staufische "Reichshistoriographie" und scholastische Intellektualität. Das elsässische Augustinerchorherrenstift Marbach im Spannungsfeld von regionaler Überlieferung und universalem Horizont (= Mittelalter-Forschungen; Bd. 14), Ostfildern: Thorbecke 2004, XI + 331 S., ISBN 978-3-7995-4265-4, EUR 65,00
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Sverre Bagge / Michael H. Gelting / Thomas Lindkvist (Hgg.): Feudalism. New Landscapes of Debate, Turnhout: Brepols 2011
Oliver Salten: Vasallität und Benefizialwesen im 9. Jahrhundert . Studien zur Entwicklung personaler und dinglicher Beziehungen im frühen Mittelalter , Hildesheim: Verlag Dr. Franzbecker 2013
Maximilian Weltin: Das Land und sein Recht. Ausgewählte Beiträge zur Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. Hrsg. v. Folker Reichert und Winfried Stelzer, München: Oldenbourg 2006
Mitte des 12. Jahrhunderts ging ein Ruck durch Deutschland, zumindest durch die geistige Elite des Landes. Ausgelöst wurde dieser Ruck durch ein ganzes Bündel von intellektuellen Bewegungen, die man gemeinhin unter dem Etikett Frühscholastik zusammenfasst: Rezeption der logischen Schriften des Aristoteles, Rationalisierung der Weltwahrnehmung, Abwägen von Argumenten nach der Abaelard'schen Methode des Sic et Non und so weiter, letztlich also das, was zur Grundlage des modernen wissenschaftlichen Denkens werden sollte. Zwei Institutionen hatten offenbar maßgeblichen Anteil daran, dass diese Wissensrevolution nicht nur in Frankreich wirksam wurde, von wo sie ihren Ausgang nahm, sondern auch im Reich: der Herrscherhof um Kaiser Friedrich I. Barbarossa und das elsässische Chorherrenstift Marbach. Beide dienten allerdings nicht als geistige Impulsgeber, sondern lediglich als Vermittlungsinstanzen: der Hof als Begegnungsforum für die intellektuelle Avantgarde, indem er - wenngleich kaum vorsätzlich - zahlreiche aufgeschlossene Denker zusammenführte, das Stift aufgrund der weit reichenden Verbindungen, die durch die Ausbreitung der Marbacher Kanonikerreform in weiten Teilen Deutschlands geknüpft wurden.
Ziel der vorliegenden Freiburger Habilitationsschrift ist es, das intellektuelle Beziehungsgeflecht zwischen dem Hof und Marbach im 12. Jahrhundert, das heißt also die tatsächliche und konkrete Ausformung dieser Vermittlungsleistung, möglichst genau zu beschreiben. Ausgangspunkt ist die bekannte Beobachtung, dass beide historiografischen Werke Ottos von Freising in der Fassung, in der sie 1157 beziehungsweise 1160 dem Kaiserhof gewidmet wurden, einerseits das neue aristotelische Gedankengut enthalten und andererseits ausschließlich in Codices überliefert sind, die mit dem Marbacher Skriptorium in Zusammenhang stehen. Dieser merkwürdige Befund verweist auf größere Zusammenhänge, die es zu ergründen gilt.
Im Vordergrund der Darstellung stehen einerseits die Personen, ihre Wirkungsorte und ihre Kontakte zu anderen Intellektuellen, andererseits die Handschriften, die genaue Datierung und Lokalisierung ihrer Entstehung sowie alle Anzeichen von Benutzung und Rezeption, soweit sie sich in das genannte Beziehungsgeflecht einfügen lassen. In bisher noch nicht da gewesener Fülle und Detailgenauigkeit werden hier alle einschlägigen Zeugnisse zusammengetragen, von Reliquienverzeichnissen und unberücksichtigten Nekrologeinträgen über zeitgenössische Notizen und Marginalien in den Marbacher Codices bis hin zu den entlegensten Handschriftenfragmenten und zu den Resten der alten Verglasung des Straßburger Münsters. Aber auch über die staufische Territorialpolitik im Elsass, über die Geschichte der geistlichen Kommunitäten in Straßburg und nicht zuletzt über die Geschichte des Marbacher Stiftes und seiner Reformbewegung selbst findet man hier reiche Belehrung.
Der besondere Wert und Nutzen der Arbeit liegt in der immensen Zahl an Detailbeobachtungen zu Paläografie und Kodikologie, zu Vorlagen und späteren Schicksalen von Marbacher Handschriften, die heute über etwa zwei Dutzend europäische Bibliotheken verstreut sind. Die vielen Einzelergebnisse entziehen sich einer knappen Zusammenfassung; mit einer gewissen Willkür seien zwei bedeutendere Punkte herausgegriffen: Als Schlüsselfigur im oben angesprochenen Beziehungsgeflecht entpuppt sich der kaiserliche Hofkapellan Hugo von Honau, der als Marbacher Chorherr und folglich als entscheidendes Verbindungsglied zwischen den beiden Institutionen identifiziert wird (130 ff.). Zum andern ist zu sehen, dass die Marbacher Chorherren mit den Kanonissen des Schwesterkonvents von Schwarzenthann bei der Herstellung von Handschriften zusammenarbeiteten und anscheinend zu diesem Zweck ein "Atelier" in Straßburg unterhielten, das auch bei der künstlerischen Ausstattung des dortigen Münsters mitwirkte (74 ff., 205 ff. und öfter).
Es ist, das sei wiederholt, die Fülle an solchen Beobachtungen, die das Buch so wertvoll macht. Dies gilt auch trotz des Vorbehalts, dass man sich nicht jeder einzelnen Schlussfolgerung des Autors anschließen mag. So sieht der Rezensent keinen Anlass, seine Ansichten über das Schicksal der Marbacher Handschrift der Gesta Friderici Ottos von Freising zu revidieren (vgl. 238 ff.); außerdem ist deren direkte Benutzung durch den Ligurinus-Dichter Gunther oder durch Hugo von Honau (43, 249) zwar eine sehr ansprechende, aber nicht zu beweisende Vermutung. Eine Handschrift, die eindeutig in Marbach für Marbach entstanden ist, kann nicht als Zeugnis für Frankreich-Kontakte des Stifts im 12. Jahrhundert herangezogen werden, wenn sie erst im 19. Jahrhundert in Laon nachweisbar ist (148-152). Die Namenserklärung "Liber = Bacchus" als Notiz in einer Handschrift aus dem oberbayerischen Stift Indersdorf - einer Marbacher Tochtergründung - reicht nicht aus, um den Codex dem Marbacher Skriptorium zuzuweisen, nur weil im Elsass mehr Weinbau betrieben worden ist als im Dachauer Moos, in dem Indersdorf übrigens gar nicht liegt (183). Vorsicht ist an solchen Punkten vor allem deshalb geboten, weil derlei ungesicherte Schlussfolgerungen manchmal weitere nach sich ziehen. So wird der Eintrag des Namens "Kunigunde" in einem Stuttgarter Evangeliar als Nennung einer Schreiberin aus dem Kanonissenstift Schwarzenthann gedeutet; weil aber dieselbe Hand, die dieses Evangeliar geschrieben hat, in einem anderen Codex Werke Gilberts von Poitiers mit "kundigen Randglossen christologischen Charakters" abgeschrieben hat, muss man dann auch konsequenterweise den Schwarzenthanner Kanonissen Vertrautheit mit der ebenso aktuellen wie elitären Philosophie Gilberts bescheinigen - ein Befund, der die gängigen Vorstellungen vom Bildungsniveau in Frauenkonventen geradezu revolutionieren würde (219 f.). Sobald man Kunigunde aber nicht als Schreiberin, sondern als Stifterin des Codex identifiziert (ein Gedanke, den Huth zunächst erwägt, dann aber nicht weiter verfolgt), werden alle diese bemerkenswerten Konsequenzen hinfällig.
Alle diese Vorbehalte betreffen aber nur Details, und auch wenn andere Leser Vorbehalte zu weiteren Einzelheiten anmelden sollten, so wird man das Anliegen des Buchs doch als erfüllt ansehen dürfen: die möglichst dichte Beschreibung des geistigen Austausches, der über die vermittelnden Instanzen Marbach und Kaiserhof in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Rezeption der scholastischen Wissenschaft im deutschen Reich ermöglicht hat. Wäre das Buch noch etwas übersichtlicher strukturiert, etwas weniger prätentiös geschrieben und etwas besser erschlossen (vor allem durch ein richtiges Handschriftenregister), es hätte das Zeug zu einem Standardwerk über das intellektuelle Milieu jener Zeit, das man wegen seines Informationsreichtums immer wieder gerne zur Hand nähme.
Roman Deutinger