Michael Freeman: Victorians and the Prehistoric. Tracks to a Lost World, New Haven / London: Yale University Press 2004, IX + 310 S., ISBN 978-0-300-10334-2, GBP 25,00
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Manche Bücher landen auf dem Tisch des Rezensenten eher durch ein Versehen. Auf den ersten Blick scheinen sie interessant, auf den zweiten weniger, weil fachfremd, und auf den dritten werden sie trotzdem bedeutsam - oder vielleicht gerade deswegen. Das gilt auch für das hier anzuzeigende Werk über die "Victorians and the Prehistoric". Denkt man zunächst, dass es um eine Art von vorgeschichtlicher Historienmalerei gehen könnte, wird schnell klar, dass stattdessen eine Geschichte der Geologie im 18./19. Jahrhundert vorliegt. Aber schon die reichhaltige Illustration mit Hauptwerken Turners, Martins und Danbys deutet an, dass auch für die Kunstgeschichte Bemerkenswertes geliefert wird. Sehr Bemerkenswertes.
Gegenstand des Buches ist das, was man seit Wolfgang Lepenies Buch über das "Ende der Naturgeschichte" die Verzeitlichung der Naturwissenschaft nennt. [1] Gemeint ist damit die Ablösung einer biblisch bestimmten, zeitlich nur wenige Jahrtausende zurückliegenden Schöpfungsvorstellung durch die Idee einer Millionen Jahre dauernden, immanent zu erklärenden erdgeschichtlichen Entwicklung. Als Hauptfiguren treten bei Freeman James Hutton (1726-1797) und Charles Lyell (1797-1875) hervor, aber auch Darwins Theorie zur Entstehung der Arten spielt eine Rolle. Anschaulich wird beschrieben, wie man im England des späten 18. und des 19. Jahrhunderts Steinformationen als Indizien für erdgeschichtliche Vorstellungen nutzte, was man über prähistorische Lebewesen wusste, wie die biblische Sintflutidee in säkularisierter Form als Nachdenken über die Wirkkraft des Wassers zurück kehrte, wie kontrovers Darwins Ausleseprinzipien diskutiert wurden, und wie all dies in eine erneuerte Zeitvorstellung einfloss, die die Marginalisierung des Menschen im "Weltenplan" weiter forcierte. Dabei wird auch dem technischen Umfeld - Stichwort Eisenbahn - der gebührende Platz eingeräumt, weil erst dieses die geologischen Feldforschungen ermöglichte.
Für die Kunstgeschichte dürfte das Gebotene aus folgendem Grund interessant sein: Erstens ist zu beobachten, dass manche der erwähnten Landschaftsmaler Landschaftsausschnitte malen, die geologisch interessante Details enthalten. Der Verfasser macht vor allem auf Beispiele Turners aufmerksam. Zweitens und wohl noch wichtiger aber ist die geologische Einsicht in die konstitutive Bedeutung von erdgeschichtlichen Katastrophen - Wasserfluten, Erdbeben, Eiszeiten. Ganz offensichtlich eingeflossen ist sie in einen faszinierenden Teil der romantischen künstlerischen Imagination, die speziell in England in einer Serie von Katastrophenbildern mündete, welche akademisches Kunstverständnis radikal brach, dem sensationslüsternen breiten Publikum entgegenkam und eine Form von Landschaftsmalerei pflegte, die in manchem Eigenheiten der modernen nicht-gegenständlichen Kunst vorwegnahm.
Anmerkung:
[1] Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte: Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt 1978. Vgl. auch H. S. Torrens: Geology and the Natural Sciences: Some Contributions to Archaeology in Britain 1780-1850, in: Vanessa Brand (Hg.): The Study of the Past in the Victorian Age, Oxford 1998, 35-59.
Hubertus Kohle