Rezension über:

Robin Osborne: Greek History (= Classical Foundations), London / New York: Routledge 2004, IX + 175 S., ISBN 978-0-415-31718-4, GBP 10,99
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Rezension von:
Karl-Wilhelm Welwei
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Karl-Wilhelm Welwei: Rezension von: Robin Osborne: Greek History, London / New York: Routledge 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 5 [15.05.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/05/7976.html


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Robin Osborne: Greek History

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Das im Klappentext als ideale und hilfreiche Einführung in das Studium der Griechischen Geschichte bezeichnete Buch bietet in der Einleitung längere und recht eigenwillige Reflexionen zur Frage des Nutzens der Beschäftigung mit den antiken Hellenen (7-22). Osborne sucht hier zu zeigen, dass der Historiker die Aufgabe hat, die Aufmerksamkeit auf menschliche, gesellschaftliche, politische und moralische Aspekte zu lenken, die zum Verständnis der literarischen und künstlerischen Leistungen der griechischen Welt dienen können. Befremdlich ist allerdings, dass Osborne in diesem Kontext überwiegend die Bedeutung der Olympischen Spiele und des Ruhmes der Sieger in den betreffenden Wettkämpfen sowie eine teilweise recht merkwürdige und skurrile Symbolik in der Darstellung der Athleten in den Bildenden Künsten erörtert.

In den folgenden Kapiteln bietet Osborne keine fortlaufende Ereignisgeschichte im konventionellen Sinne. Er setzt vielmehr problemorientierte thematische Akzente und behandelt zunächst die Voraussetzungen und Anfänge der so genannten Großen Kolonisation der Hellenen unter der Überschrift "The Invention of the Greek Polis" (23-38). Dies ist keine glückliche Formulierung, da die Polisbildung selbstverständlich ein längerer Prozess war, der nicht nur im Kontext kolonisatorischer Aktivitäten gesehen werden kann. Osbornes besonderes Interesse gilt hier der von ihm als "cosmopolitan place" gedeuteten Apoikia auf Pithekussai (Ischia), deren Einwohnerschaft er aufgrund des Siedlungsbefundes um 700 vor Christus auf etwa 5.000-10.000 Personen beziffert, während er unter Berücksichtigung der Sterblichkeitsraten eine noch höhere Zahl annimmt (etwa 7.360 bis 14.720 Menschen). Da kein einziges griechisches Gemeinwesen im 8. Jahrhundert vor Christus eine entsprechende Zahl von Kolonisten aussenden konnte, stellt sich für ihn die weitere Frage nach dem Prozentsatz der Griechen in dieser Kolonie (Kapitel 7, 39-54). Er verzichtet aber in diesem Punkt auf weitere Schätzungen, die allzu unsicher bleiben würden.

Überzeugend sind seine Vergleiche der Verhältnisse auf Pithekussai mit den Agrarstrukturen in einer Reihe von weiteren mediterranen Siedlungen. Er kommt zu dem Schluss, dass Pithekussai um 700 vor Christus keinesfalls von Bauern dominiert wurde, deren Landbesitz lediglich eine Subsistenzwirtschaft erlaubte (51). Insofern tangieren seine diesbezüglichen Ausführungen nicht nur Probleme der Ursachen und Motive der Gründung von Apoikien. Seine Hinweise auf entsprechende neuere demografische und komparatistische Untersuchungen streifen zumindest andeutungsweise auch die "Jahrhundertdebatte" der so genannten Primitivisten und Modernisten über die Strukturen der Wirtschaft in der Antike.

Die Überlegungen zum Ausmaß des Handels und der Handelsbeziehungen im archaischen und klassischen Griechenland führen Osborne unmittelbar zu dem Problemfeld "Law, Tyranny and the Invention of Politics" (55-69). Er zieht eine Verbindungslinie von der berühmten "Gerichtsszene" in der Ilias (18,497-508) zu dem Gesetz Drakons zur Ahndung von Tötungsdelikten sowie zu dem Beschluss der Polis Dreros (Kreta) über die Kontrolle der höchsten Magistratur (des Kosmos) sowie zu der Regelung der Kompetenzen der Boulé in Chios und zur Großen Rhetra in Sparta. [1] Die genannten Gesetze und Beschlüsse setzen bereits den Übergang von einer 'vorstaatlichen Gesellschaft' zu einer durchaus funktionsfähigen institutionellen Organisation voraus. Sie gaben aber auch neue Impulse zur Weiterentwicklung einer Interaktion der öffentlichen Organe der Gemeinschaften, indem die Kompetenzen bestimmter Institutionen erweitert und präzisiert wurden. Es überrascht freilich erneut, dass Osborne die längere Entwicklung staatlicher Strukturen als "invention of politics" bezeichnet.

Nicht weniger erstaunlich ist angesichts der großen Zahl von über 1000 griechischen Gemeinwesen, dass Osborne offenbar die so genannte ältere Tyrannis als ein verbreitetes Phänomen versteht. Im Vergleich zu der genannten Zahl können die etwa zweieinhalb bis drei Dutzend Poleis, in denen in archaischer Zeit Tyrannenherrschaften existierten, schwerlich als "large number" (59) gelten. Osborne bestreitet aber mit Recht die These, dass die Entstehung dieser Herrschaftsform, die primär aus Adelsrivalitäten resultierte, mit der Entwicklung der Phalanxtaktik und den dadurch bedingten Massenaufgeboten von Hopliten zu erklären sei (65).

In Kapitel 5 (70-84) skizziert Osborne Probleme griechischer Kriegführung und die Darstellung militärischer Aktionen in der schriftlichen Überlieferung. Im Mittelpunkt stehen hier kritische Analysen verschiedener Berichte über Kampfhandlungen sowie Nachrichten zur maritimen Aufrüstung Athens unmittelbar vor der Invasion des Xerxes. Diese Linien zieht Osborne weiter aus in seinen Überlegungen zur Innen- und Außenpolitik der Athener im 5. Jahrhundert, deren Polis er als "city of freedom and oppression" (85-101) zu charakterisieren sucht. Es gelingt ihm, wesentliche Unterschiede zwischen der demokratischen Polisordnung in Athen und modernen Demokratien aufzuzeigen, indem er beispielsweise hervorhebt, dass die Möglichkeit zur Teilnahme an Wahlen in demokratischen Staaten der Gegenwart als Recht zur Selbstbestimmung gilt, in Athen aber einfache Bürger als Antragsteller in der Volksversammlung gegebenenfalls politische Entscheidungen herbeiführen und infolge des jährlichen Ämterwechsels aufgrund der Realisierung des Prinzips "archein kai archesthai" ("herrschen und beherrscht werden") sogar zeitweise Anteil an der Ausübung von Herrschaft haben konnten. Als Gegenbild zur politischen Freiheit des Polisbürgers erörtert Osborne natürlich die Knechtschaft des Sklaven. Seine These, dass "slaves formed the essential source of labour" (97), ist indes ebenso wie seine Klassifizierung der athenischen Bundesgenossen (Symmachoi) als "subjects of the empire" (101) ein Pauschalurteil.

Kontraste bilden auch das Thema weiterer Reflexionen über "University and Diversity of the Greek Polis" (Kapitel 7, 102-118). Im Mittelpunkt steht wieder die Polis Athen, die er vornehmlich mit Sparta vergleicht. Er betont die Unterschiede in der Wirtschaftsweise, indem er ausführt, dass in Attika Freie und Sklaven in der Landwirtschaft Seite an Seite arbeiteten, während die Heloten Spartas selbstständig wirtschaften konnten (107). Die Nachricht Xenophons (Hellenika 3,3,5), dass viele Spartiaten sich auf ihren Klaroi aufhielten (wo sie vermutlich nach dem Rechten sahen), sollte freilich nicht einfach übergangen werden. Übrigens kann die Helotisierung großer Teile der Bevölkerung Messeniens entgegen der Annahme Osbornes (105) wohl kaum ins 8. Jahrhundert vor Christus datiert werden. Osborne weist aber mit Recht darauf hin, dass keine andere Polis die politische Ordnung der Spartaner kopierte und auch die Adaption athenischer Verfassungselemente in anderen Poleis recht begrenzt war. Das athenische System der Phylen und Demen war eben zugeschnitten auf ein größeres Polisterritorium, das anderen Gemeinwesen (mit Ausnahme Spartas) fehlte. Es wird des Weiteren deutlich, dass Unterschiede zwischen den einzelnen Poleis fundamentale politische Fragen wie das Abstimmungsverfahren und die Erlangung des Bürgerrechts und der Ratsfähigkeit betrafen. Osborne skizziert hier treffend wesentliche Aspekte der politischen Lebenswelt des antiken Griechentums, beschränkt sich allerdings fast ausschließlich auf die Verfassung, die sozialen Strukturen und die Kulte der Poleis und erörtert nur am Rande die Bedeutung der bundesstaatlichen Vereinigungen, wenn man von Boiotien einmal absieht.

Die Zeit nach dem Sieg Spartas über Athen (404 vor Christus) behandelt Osborne im Schlusskapitel im Blick auf die Frage, ob Alexander der Große das Ende der Griechischen Geschichte bedeutete (119-135). Die innenpolitischen Reformen der Athener, die nach dem Sturz der "Dreißig" im Kern auf eine Perfektionierung der demokratischen Interorgankontrollen abzielten, kommen in diesem Abschnitt entschieden zu kurz. Sehr skizzenhaft bleibt auch Osbornes Darstellung der verfehlten Außenpolitik der Spartaner nach 404 vor Christus, als sie das Machtvakuum, das infolge der Niederlage Athens im Ägäisgebiet entstanden war, auf die Dauer nicht zu füllen vermochten.

Deutliche Akzente setzt Osborne in seinen Ausführungen über den Aufstieg Makedoniens, indem er betont, dass Philipp II. nicht nur von sizilischen Tyrannen des 4. Jahrhunderts wichtige militärische Neuerungen wie die Verwendung von Katapulten und Belagerungstürmen übernahm, sondern auch über bedeutende finanzielle Ressourcen verfügte, sodass er durch Bestechung gegebenenfalls jede Polis einnehmen konnte (126). Die Erfolge Philipps II. und Alexanders belegen aber nach Auffassung Osbornes nicht, dass die Monarchie damals prinzipiell durch ihre Möglichkeiten einer zügigen Entscheidungsfindung sich einer demokratischen Verfassung als überlegen erwies oder die Polis als Staatsform dem Untergang "geweiht" war (131). Entscheidend sei vielmehr die Fähigkeit der beiden Monarchen gewesen, ihr militärisches und finanzielles Potenzial derart zu steigern, dass sie schließlich größere Macht als jede einzelne Polis gewinnen konnten. Osborne vergleicht diese Entwicklung mit den Verhältnissen in der Pentekontaëtie und in der kurzen Zeit der Hegemonie Thebens, als die Athener und später die Thebaner wie "Tyrannen" über ihre Bundesgenossen (Symmachoi) geherrscht hätten. Diese Vergleiche sind freilich problematisch, zumal der Topos der Tyrannis der Athener zweifellos ursprünglich als antiathenisches Propagandamittel diente. Zudem sind die Probleme des 4. Jahrhunderts überaus komplex, und es stellt sich die Frage, ob selbst so entschlossene Akteure wie Philipp II. und Alexander ohne die Folgeerscheinungen des verhängnisvollen Peloponnesischen Krieges die Handlungsmöglichkeiten, die sich ihnen in ihrer Zeit boten, überhaupt besessen hätten.

Alexander hat natürlich nicht das Ende der Griechischen Geschichte herbeigeführt. Osborne verweist in seinem Versuch, eine abgewogene Stellungnahme zu seiner diesbezüglichen Frage zu bieten, auf die Kontinuität in der innenpolitischen Organisation hellenischer Gemeinwesen seit der archaischen Zeit. Er betont aber auch, dass Poleis des Hellenismus sich nie mehr der gleichen Autonomie erfreuten wie in der großen Zeit der griechischen Klassik. Zu beachten ist allerdings des Weiteren, dass bereits vor Philipp II. und Alexander kleine und mittlere Poleis keinen großen Handlungsfreiraum besaßen, da ihr Wehrpotenzial recht begrenzt war.

Insgesamt gesehen setzt Osborne besondere Akzente durch die Thematisierung der Frage nach den politischen Gestaltungsmöglichkeiten der handelnden Personen im vorgegebenen Rahmen der spezifischen Polisstrukturen. Das Politikverständnis der Führungseliten und der Bürgerschaften, die Interaktion der Polisinstitutionen und die Partizipation breiterer Schichten der Politen an der politischen Willensbildung stehen im Mittelpunkt seiner Ausführungen.

Neue Fragestellungen und dementsprechend auch neue Lösungsvorschläge in diesem Buch vermitteln eine Reihe von Anregungen. Kurzkommentare zur wichtigsten Forschungsliteratur und eine relativ umfangreiche Bibliografie sind hierzu willkommene Ergänzungen.


Anmerkung:

[1] Vgl. R. Meiggs / D. Lewis: A Selection of Greek Historical Inscriptions. To the End of the Fifth Century B.C., Oxford 1969, 2. Auflage 1975, Revised Edition 1988, Nr. 86 (Drakons Gesetz); Nr. 2 (Dreros); Nr. 8 (Chios); Plutarch, Lykourgos 6 (Große Rhetra).

Karl-Wilhelm Welwei