Otto Ulbricht (Hg.): Die leidige Seuche. Pest-Fälle in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, 344 S., 10 Abb., ISBN 978-3-412-09402-7, EUR 27,90
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Die "Pest als Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Forschung allgemein zu etablieren" sei, so beschreibt Otto Ulbricht seine Intention im Vorwort des Bandes, das "Hauptziel des Unternehmens". Dass dies noch ein Desiderat sein soll, mag ob der Fülle von 'Pest-Titeln' vielleicht verwundern. Spätestens nach der Lektüre der fulminanten, über 60 Seiten langen Einleitung "Die Allgegenwärtigkeit der Pest in der Frühen Neuzeit und ihre Vernachlässigung in der Geschichtswissenschaft" - präziser könnte der Beitrag, der sich stellenweise fast wie eine Anklageschrift liest, kaum übertitelt werden - wird man dem Autor beipflichten müssen. Ulbricht bietet nicht nur einen mit Daten und Fakten zu den frühneuzeitlichen Pestwellen verknüpften ebenso umfassenden wie kritischen Forschungsüberblick, sondern entfaltet ein auf den Erfahrungshorizont der Zeitgenossen, auf ihre pestbedingten Notlagen und Handlungsoptionen ausgerichtetes Spektrum an Themenfeldern, denen sich an der Weiterentwicklung ihres Faches interessierte Historikerinnen und Historiker zuzuwenden hätten. Vehement plädiert er dafür, die Pest über medizin- und demografiegeschichtliche Aspekte hinaus in ihrer alltags- und kulturgeschichtlichen Bedeutung zu untersuchen und sich dabei von längst widerlegten und doch weitergepflegten Klischeevorstellungen - wie etwa dem Topos von der Verwahrlosung der zwischenmenschlichen Beziehungen in Pestzeiten - zu lösen.
Auf gut 20 Seiten entwickelt Ulbricht schließlich eine Fülle von Forschungsvorschlägen auf dem Hintergrund epochenspezifischer Kontexte und Forschungsparadigmen wie Reformation, Konfessionalisierung, Kirchenzucht, Rationalisierung, Sozialdisziplinierung und Absolutismus. Diese könne man mit Erkenntnisgewinn aus der Perspektive der Pest untersuchen, aber auch umgekehrt deren Haltung zur Pest analysieren. So sieht er etwa - um eine der zahlreichen Anregungen herauszugreifen - in Pestfällen "eine ausgezeichnete Möglichkeit, die Durchsetzung oder Implementierung [von Normen], die im Augenblick intensiv diskutiert wird, an einem konkreten Fall zu untersuchen" (43). In den Blick käme dabei "zum einen das Verhältnis der Untertanen zu den obrigkeitlichen Anordnungen [...], zum anderen die Tätigkeit der Verwaltung vor Ort" (44). "Überlebens-Logik" und "Wertesystem" der Betroffenen würden genauso offenbar wie die realen Chancen und die Art und Weise der Umsetzung obrigkeitlicher Anordnungen auf der mittleren und unteren Verwaltungsebene.
Die dieser enthusiasmiert verfassten, programmatisch weit reichenden Einleitung folgenden Aufsätze des Sammelbandes scheint mir der Herausgeber dann allerdings etwas zu sehr als Proben aufs Exempel gelesen zu haben. Denn er verzichtet auf eine die Beiträge wirklich würdigende Einführung, umreißt sie stattdessen mit einem knappen Satz, um dann zu betonen, was noch alles zu untersuchen wäre. Die einzelnen Texte bieten jedoch - trotz punktuell unterschiedlicher Qualität - durchaus spezifischen Erkenntnisgewinn.
Mit der Frage nach den demografischen Auswirkungen der Seuche auf die Geschlechter integriert Esther Härtel die gender-Perspektive in die Pestforschung. Abweichend von der Interpretation der Säftelehre als männliches Instrument zum Beweis der Minderwertigkeit von Frauen - so etwa Évelyne Berriot-Salvadore [1] -, zeichnet sie in einer differenzierten Darstellung des zeitgenössischen medizinischen Diskurses deren Auswirkungen auf die konkrete Behandlung von Männern und Frauen nach. Die Suche nach möglichen Ursachen eventueller geschlechtsspezifischer Infektionsrisiken im Lebensalltag führt Härtel zu dem Ergebnis, dass Geschlecht zwar neben Alter und sozialer Stellung eine der drei die Überlebenschancen beeinflussenden Determinanten war, dass aber - wie die Analyse der Arbeitsrollen ergab - die soziale Position die Determinante Geschlecht durchaus überlagern konnte. Zeichnet sich der Beitrag bis hierhin durch analytische Klarheit aus, überzeugen im letzten Teil, in dem Härtel der Frage nachgeht, ob ein Geschlecht während einer Seuche besondere Nachteile hatte, die angeführten Argumente und ihre Quellenbelege für die resümierte Abhängigkeit der Unversehrtheit "der Frau" in Pestfällen kaum: Sie hing - so Härtel - "von ihren Beziehungen zu Männern ab, die in der Lage waren, sie zu versorgen, ihr Recht zu verschaffen und sie zu beschützen" (93). Mit dieser Feststellung nivelliert die Autorin einige ihrer eigenen, zuvor stimmig belegten Erkenntnisse.
Der Beitrag von Matthias Lang widmet sich auf dem Hintergrund des Forschungsparadigmas Konfessionalisierung der medizinischen und theologischen Erklärung der Seuche im Spiegel protestantischer Pestschriften aus den Jahren 1527 bis 1650 und zeigt zunächst auf, dass und warum Pestschriften ausschließlich auf protestantischer Seite entstanden. Im Weiteren setzt sich Lang mit den Debatten um die Ursache der Pest - von den Theologen als Strafe des allmächtigen Gottes interpretiert - und dem Für und Wider der Contagionstheorie der Ärzte - also der Vorstellung, dass die Pest ansteckend sei - auseinander. Die detailliert dargestellte Argumentation beider Seiten gewährt nicht nur Einblicke in innerkonfessionelle Differenzen - auch die theologischen Autoren waren durchaus nicht einer Meinung -, sondern zugleich auch in philosophiegeschichtliche Fragen.
Ebenfalls auf der Diskursebene bewegt sich Axinia Schluchtmann mit ihrem Beitrag "Akademische Medizin und Pest. Das Beispiel Johannes Bacmeister 1623/24", in dem sie versucht, die Schrift 'de peste' des an der Rostocker Universität lehrenden Bacmeister im medizinischen Lehrgebäude der Zeit zu verorten und sie dann mit einer während der Rostocker Pest 1624 entstandenen Pestordnung, an die eine von Bacmeister und einem seiner Kollegen verfasste Denkschrift über das Verhalten in Pestzeiten angeschlossen war, zu vergleichen. Das doch etwas banale Resümee, dass inhaltliche Unterschiede "durch den Abfassungszweck bzw. den Adressatenkreis bedingt" seien (255), wird der vielschichtigen Studie, die neben den Inhalten beispielsweise auch Sprachstil und Metaphorik untersucht, nicht wirklich gerecht.
Boris Steinegger verknüpft das Thema Pest mit dem Forschungsfeld Kriminalitätsgeschichte. Anhand eines gut dokumentierten Prozesses gegen einen Totengräber in Kursachsen im Jahre 1600 zeigt er die besondere Problematik, mit der sich die unverzichtbaren, aber dennoch den 'unehrlichen' Berufen zugerechneten Totengräber insbesondere in Seuchenzeiten konfrontiert sahen: Während die steigende Zahl der immer detaillierteren obrigkeitlichen Verordnungen das Ansehen der Totengräber per se untergrub, verwandelten sich die Ängste der von Seuchen bedrohten Menschen oft in Misstrauen und Schuldzuweisungen. Minuziös entwickelt Steinegger die Konflikteskalation, die schließlich zur Hinrichtung des Totengräbers führte.
Drei Beiträge des Bandes thematisieren das organisierte Eingreifen der Obrigkeit. Otto Ulbricht widmet sich den frühneuzeitlichen Pesthospitälern im deutschsprachigen Raum und verortet diese in der europäischen Entwicklung. Als wichtigen Grund der Entstehung zahlreicher solcher Einrichtungen nennt Ulbricht das aus einer veränderten Wirtschafts- und Sozialstruktur im Spätmittelalter resultierende Anwachsen der Unterschichten, die er zugleich als die eigentliche Klientel der Pesthospitäler nachweist, da sie als 'Unbehauste' in Seuchenzeiten der obrigkeitlichen Fürsorge bedurften. Initiatoren der Armen- wie der Gesundheitsfürsorge seien zunächst die Stadtmagistrate, später dann auch die absolutistischen Herrscher gewesen. Ulbrichts Fazit, dass Pestwellen nicht zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, sondern vielmehr zu einem "zunehmend gezieltere[n], immer besser organisierte[n] Eingreifen der Obrigkeit" (111f.) geführt hätten, bestätigt sich denn auch in der Fallstudie von Kathrin Boyens. Ihre Analyse der Hamburger Maßnahmen während der Pestjahre von 1712 bis 1714 belegt eindrücklich, wie in einer innen- und außenpolitisch schwierigen Situation der Pest sogar eine "Katalysatorfunktion" (324) zukam und wie es dem Rat gelang, die Krise nicht nur zu überwinden, sondern sie sogar noch für administrative Reformen fruchtbar zu machen.
Volker Gaul schließlich untersucht die "Krisenkommunikation zwischen der Obrigkeit und ihren Untertanen" (258) am Beispiel der im Herzogtum Holstein-Gottorf von 1709 bis 1713 herrschenden Seuche. Er zeichnet dabei den obrigkeitlichen 'Medien'-Einsatz - Galgen, Strandreiter, Kontrollboote, Pastor, Pestprediger, Vogt - nach und interpretiert sie alle als 'Massenmedien', die der Abwehr und Bekämpfung der Pest dienen sollten, was ihnen jedoch, so das Resümee, nur unzureichend gelungen sei. Über das stellenweise etwas überzogen wirkende Bemühen, zeitgenössische Bewältigungsstrategien mit dem Kriterienraster moderner Kommunikationstheorie zu erfassen, kann man sicher diskutieren. Aber sollte man einem Landesherrn wirklich zum "Vorwurf" machen, dass er im frühen 18. Jahrhundert in der Krisensituation anders reagierte als dies "in der heutigen Zeit von den Soziologen angeraten wird" (293)?
Im Ganzen verdeutlicht der vorliegende Sammelband auf beeindruckende Weise, welch weiträumige und für unterschiedlichste Forschungsinteressen attraktive Gefilde die Beschäftigung mit der Pest eröffnen kann. Denen, die sich von diesem Buch animieren lassen, wäre allerdings zu wünschen gewesen, dass ein sorgfältigeres Lektorat sprachliche und grammatikalische Unsauberkeiten und immer wieder auch Längen in der Darstellung bereinigt sowie den Anmerkungsapparat durch Querverweise auf Erstzitierungen handhabbarer gestaltet hätte. Ein Galeniker würde diese Schwächen (wenn nicht dem Verlag) vermutlich der unverkennbaren Herzblutfülle des Herausgebers zuschreiben - zum Aderlass raten möchte man trotzdem nicht!
Anmerkung:
[1] Évelyne Berriot-Salvadore: Der medizinische und andere wissenschaftliche Diskurse, in: Arlette Frage / Natalie Zemon Davis (Hg.): Geschichte der Frauen, Bd. 3: Frühe Neuzeit, Frankfurt a.M. / New York 1994, 367-407, hier 371-374.
Christine Werkstetter